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18.
Lebenssehnsucht

Das Sehnen nach seiner Grete wurde mit jedem Tage größer, und am Sonntagmorgen war es wie ein Sturm in ihm. Es brauste durch seine junge Seele wie eine große Liebessymphonie, mit wundersamen und starken Akkorden, und mit Melodien, wie er sie noch nie gehört hatte. Das war wohl mehr als der Mai und die Jugend, was in ihm sang und brauste. Das war die große, echte Lebenssehnsucht, das gewaltige Drängen nach Bejahung und Entfaltung, nach dem ewigen, fruchtbaren Hingeben und Hinnehmen; das Drängen, vor dem die weißen Blütenblätter wie im Winde abfliegen, damit sie der verheißenen Frucht Platz machen.

Auch in Grete war an jenem Maisonntage ein verhaltenes Sehnen und eine sichtlich gebändigte Leidenschaft, und als der Juni kam, wurde es nicht anders.

Aber sie wußten sich beide zu zähmen.

Wohl waren ihre Küsse fest und stark, lange und sehnend ihre Umarmungen, aber fest und stark war auch ihr Wille.

Sie hatten beide hohen Mut und eisernen Willen zu starker Enthaltsamkeit, und sie stimmten nicht ein in das übliche Gefasel von Hingabe und Sichausleben.

Eine Sünde sahen sie nicht in ihrer Kraft und Leidenschaft, und gerade deshalb, weil sie die Macht dieser Leidenschaft, ihre wahre Schönheit und ihre unverhüllte Kraft kannten, vermochten sie feste Zügel anzulegen. Es war kein quälender Kampf gegen eine vermeintliche Sünde, sondern ein offenes, gemeinsames Zurückhalten einer schönen, von der Natur gewollten Leidenschaft.

Sie versteckten sich nicht feige voreinander und heuchelten sich nichts vor; in guten und geschickten Worten sprachen sie wohl auch einmal offen darüber. Sie wollten schon jetzt keine Geheimnisse vor einander haben oder ihr Denken und Sehnen verschleiern.

Vertrauen gegen Vertrauen in allem und vor allem. Ehrlich sagten sie sich, wie es um sie stand, und sie gelobten sich, fest auszuharren und zusammenzustehen.

Pastor Rautenstrauch sah mit seinem scharfen Blicke gar bald, wie es um die beiden stand. Aber es brachte ihm keine Besorgnis und keine Furcht, denn er kannte die beiden, besonders aber seine Grete.

Zugleich mit offenem Wissen hatte er ihr Festigkeit und Selbstbeherrschung gegeben. Nur Unwissende und Sklavennaturen können sich nicht beherrschen.

Wissen gibt Kraft und Selbstbestimmung, und Freiheit im Wissen verleiht Stärke und Selbständigkeit.

Knechtsnaturen verlassen sich auf fremde Hülfe und lassen sich Sünden vergeben und sich erlösen.

Der Freie steht auf sich selbst, und auch wenn er fällt, braucht er keine Erlösung und keine Vergebung, denn er kann sich aus eigener Kraft wieder erheben, und seine Kraft wächst mit dem Fall.

Nur der Feige und Unwissende bettelt und betet.

Der Freie und Wissende, der Edle und Echte verlangt nur sein Recht und erlöst sich selbst ohne Furcht und ohne Winseln nach Verzeihung.

Warum gebt Ihr nicht alle Euren Töchtern und Euren Söhnen durch Wissen Selbstbestimmung und freie Kraft, damit sie rein und sicher durchs Leben gehen können?

Nicht die Unwissenheit, die Ihr kindlich nennt und in der Ihr fälschlich das Wesen der Unschuld sucht, nicht das Verschleiern der Wahrheit macht das Wesen der Reinheit und Keuschheit aus, sondern:

Wissend sein und deshalb rein über alles denken, das ist die wahre Seelenreinheit, in der wir unsere Söhne und Töchter erziehen und aufwachsen lassen müssen, damit endlich diese niedrige Feigheit der Dummheit und Verhüllung aus der Welt geschafft wird.

So dachte der wackere Landpastor an einem stillen Nachmittage auf seinem Gedankenstuhle. Stundenlang saß er und sann. Frau Karoline kam herauf in seine Stube und sah sich nach ihm um.

»Willst Du nicht in den Garten kommen, Adolf? Grete pflückt Erbsen. Wir beide wollen uns unter den Apfelbaum setzen und die Erbsen auslechten. Sie sind noch ganz klein und süß, und ich weiß, daß es viel weniger werden, wenn Du hilfst. Aber trotzdem! Es erzählt sich so gut dabei, und wir haben auch morgen früh etwas weniger Küchenarbeit«.

Pastor Rautenstrauch, der sonst so gern mit seiner Karoline scherzte, hob kaum den Kopf. Nach einem Weilchen sagte er leise und tief:

»Ja, Grete, unsere liebe Grete« – – –

»Warum sagst Du das so ernst? Was hast Du dabei?« forschte Frau Rautenstrauch.

»Bleib ein wenig. Laß die Erbsen und den Apfelbaum. Ich will mit Dir sprechen«.

»Über Grete?«

»Ja, über unsere Grete«.

Da setzte sich Frau Karoline auf den Schoß ihres Adolf und sah ihn still und mit der gläubigen Liebe ihrer Jugendzeit an, die noch nicht von ihnen beiden gewichen war, wenn es auch nie eine gewaltige Leidenschaft gewesen war. Sie hatten sich schon längst versprochen und lange Jahre aufeinander warten müssen, so daß die ersten Zeiten der Jugend schon vergangen waren, als sie sich angehören durften.

Eine ganze Weile sah er sie an, aber er sprach nicht.

»Was ist mit unserer Grete?« fragte sie. »Hast Du Sorge um sie?«

»Nein, Sorge habe ich nicht um sie, und auch keine Furcht für sie. Aber ich will nicht, daß sie sich so verzehrt und ihre Kräfte nutzlos hingibt in zurückhaltendem Ringen.«

»Wie meinst Du das?«

Da sahen sich die beiden Alten lange und ruhig an und lasen gegenseitig in ihren treuen, klaren und klugen Augen, in denen soviel ruhige Güte und teilnahmvolles Verstehen wohnte. Sie streichelten sich die grauen Haare und die Wangen, die schon deutlich welk geworden waren, und sie dachten dabei an ihr Kind, an ihre Tochter, der sie nun schon fast zwanzig Jahre lang soviel Liebe gegeben hatten.

Einmal sagte der Pastor leise und fast wie zu sich selbst:

»Weißt Du nicht, wie einem gesunden, lebensfrischen Mädchen zu Mute ist? Denkst Du, sie hat kein rotes Blut in den Adern? Denkst Du, es sei Wasser darin? Und möchtest Du das wünschen?«

Frau Karoline fing an immer mehr zu verstehen, als er sprach:

»Siehst Du nicht, wie sie leiden, sie und ihr Liebster? Soll dies blühende Leben, diese schöne, sehnsüchtige Jugend verwelken in jahrelangem Warten und Harren? Nur weil es Herkommen und Sitte so wollen? Haben wir darum den hohen Gottesklang in ihrer Natur immer reicher und voller zum Erklingen gebracht, daß er einst dahinsterbe wie ein klägliches Wimmern? Meinst Du nicht, daß sich in jeder Kraft ein Gott regt? Du magst ihn nennen wie Du willst! Soll diese heiligste Kraft verkümmern oder sich verzehren? Ich meine, wir wollen sehen, daß wir unserm Kinde das ersparen können.«

»Wie aber soll das möglich sein?« fragte Frau Karoline nachdenklich.

Pastor Rautenstrauch atmete tief auf und reckte frei den Kopf empor, wobei ein fröhliches Lachen über sein Gesicht zog.

»Laß sie ihren Liebsten heiraten!«

»Ein rasches Wort, rascher als das Tun. Sicher soll sie das, aber wann?«

»Recht bald, noch diesen Sommer!«

»Du scherzest! Wie soll das möglich sein? Hat er einen goldenen Schatz im Meere gefunden?«

»Nein! Aber einen goldenen Schatz hat er bei sich, schon längst. Und Grete hat ihn ebenso. Der goldene Schatz ist ihre starke Jugend, ihre schöne Liebeskraft, ihr zeugender Lebensmut. Laß sie beide ihr Gold zusammenschmelzen!«

Frau Karoline machte ein abweisendes Gesicht.

»Davon können die beiden nicht leben, von diesem Golde, das vielleicht in anderm Sinne zusammenschmelzen würde! Im Gegenteil!«

»Das sollen sie auch nicht. Sei nicht so philisterhaft, Karoline. Du übertreibst!«

»Dann verstehe ich Dich nicht.«

»Ich will es Dir sagen, was ich meine: Frau Grete kann auch da bleiben, wo Fräulein Grete jetzt ist.«

Frau Karoline lachte erstaunt:

»Das nennst Du eine Erklärung, alter Schelm? Ich nenne das einen guten oder einen schlechten Scherz, je nach der Stimmung und der Auffassung.«

»Warum soll es keine Erklärung sein? Denke darüber nach, verehrte Pfarrersfrau.«

»Das alles ist mir zu hoch, wenn es Ernst sein soll.«

»Nun also, dann nüchtern und deutlich, wenn Du es nicht ohne die alte Weise verstehen willst: So lange Karl kein eigenes Heim sich gründen kann, soll unser gutes Pfarrhaus sein Heim sein, und für seine Grete dazu.«

Frau Karoline schüttelte den Kopf, stand auf und fing an, in der Stube umherzugehen, unsicher, als ob sie hinfallen müsse. Dabei rief sie:

»Wie sollte das wohl sein? Wie könnte das wohl gehen!«

»Warum sollte das wohl nicht gehen?«

»Weil man noch nie so etwas erlebt hat!«

»Eine wunderliche Logik, meiner guten Karoline würdig. Ich sage Dir, man wird es dann bei uns zuerst erleben!«

»Das hoffe ich nicht. Für unser Haus ist es ein wenig gewagt. Laß andere solche Versuche machen!«

»Pfui, welcher Mann verläßt sich auf andere! Da müßte ich die dicke Haut unserer verehrten Zeitgenossen und Mitbürger nicht kennen! Hundert Jahre dauert es, ehe sie etwas neues begriffen haben; bei ihnen ist nur der angesehen und bekannt, der ihnen ihre alten, lieben Düfte um die dicken Nasen wehen läßt!«

»Jetzt übertreibst Du, Adolf!«

»Ach was, geh mir mit dem alten Tand! Ich will von dem plundrigen Hausrat von Unwissenheit und Gedankenlosigkeit nichts wissen. Auch hierin will ich mir meine innere Freiheit wahren.«

Pastor Rautenstrauch blieb mit großer Ruhe und lachender Sicherheit in seiner Ecke sitzen, während seine Karoline unrastig hin und her wanderte. Lange Minuten sagte sie nichts. Inzwischen klärte es sich allmählich in ihr, und sie fühlte die innere Wahrheit der Äußerungen des Pastors. Sie gehörte zu den wenigen, seltsamen Frauen, die man überzeugen kann, die wirklich etwas einsehen.

Ein wenig kriegerisch blieb sie trotzdem und stellte sich kampfbereit wieder vor ihren Adolf.

»Das alles hast Du wieder aus Deiner Muskammer! Die ist nochmal Dein und unser Unglück. Dieses wird wieder eine festliche Speise für den Superintendenten und für den Konsistorialrat!

Adolf Rautenstrauch lachte laut.

»Nicht nur aus der Muskammer habe ich das, noch mehr aus dem Leben, weil ich sehen kann und weil ich denken kann. Und wenn Du Deine Augen recht gut aufmachen willst, wirst Du auch mehr sehen, als Du heute erblickt hast. Die Herrn, die Du eben nanntest, fürchte ich nicht. Du tust, als ob hier, in unserm braven Pfarrhause, eine böse Schandtat vor sich gehen solle!«

»Das weniger. Aber ungewöhnlich bleibt es auf jeden Fall.«

»Das soll und darf es auch! Ungewöhnlich oder nicht, das gilt mir gleich! Mir ist es um das Glück und das Gedeihen unserer Kinder zu tun. Mit der Feigheit des alten Herkommens und der gebräuchlichen nachplappernden Gedankenträgheit will ich nichts zu tun haben. Dieses ungeheuerliche Beharrungsvermögen des Stumpfsinns, in dem die ungezählten Millionen festsitzen, hat niemals meinen Beifall gehabt, seit ich in die Jahre gekommen bin, wo ich annähernd selbständig denken gelernt und das Wiederkäuertum nach Möglichkeit abgelegt habe, soweit das überhaupt bei unserer menschlichen Unvollkommenheit möglich ist.«

»Du bist ein Pfarrer, ein Geistlicher, bedenke das.«

»Den Teufel! Ein Mensch bin ich zuerst und ein – ein Protestant will ich sein und bleiben. Ich nehme das Wort in höherm Sinne als es gewöhnlich gebraucht wird. Protestieren heißt bei mir an die Entwickelung und den Fortschritt glauben. Du weißt ja, daß ich niemals, auch nicht in der Erziehung unseres Kindes, das leider unser einziges geblieben ist, versucht habe, die innere Freiheit zu lähmen oder auch nur zu unterdrücken, weder bei mir noch bei andern. Um prüde zu sein, bin ich niemals feige genug gewesen, und auch nicht zimperlich genug. Von dem beliebten frommen Wesen und Gebahren habe ich nie etwas gehalten. Ich weiß, daß hinter dieser schwülen, religiösen Inbrunst oft genug das unreine Geflacker der sinnlichen Gier brennt, und darum habe ich auch nie gelehrt, daß sich der Wille der Natur hinter einem angenommenen Willen eines angenommenen Gottes verstecken soll.«

»Lieber Adolf, wenn das der Superintendent hörte!«

»Unterbrich mich nicht! Du selbst hast mir geholfen, unser Kind so zu erziehen, daß es nichts Unreines in der Wahrheit sieht, sondern sie hat stets unbefangen über alle natürlichen Lebenserscheinungen sprechen und denken gelernt. Das schönste Wunder der Natur ist nichts Unreines und nichts Unheiliges, von dem man schweigen muß. Wehe dem, der diese lautere, silberklare Quelle des ewigen Lebens trübt!«

Ein fröhliches, hohes Singen tönte vom Flur des Hauses herauf in die stille Stube. Es hallte und schallte so sieghaft und stark!

»Hörst Du, wie sie ihren Lebensmut und ihre junge Liebeslust hinaussingt, unsere junge Grete? Soll das alles verkümmern? Uns beiden wäre wohler gewesen, wenn wir uns eher vereinen konnten. Hast Du vergessen, daß auch wir jung waren, ach, wie jung? Und hast Du vergessen, wie viel uns von unserer schönsten Jugend verronnen ist durch dieses dumme Warten und nochmals Warten?«

Frau Karoline nickte ein wenig schwermütig, und er fuhr fort:

»Die beiden jetzt können es besser haben, also laß sie ihres Glückes Reichtum genießen. Sei nicht so geizig, Karoline! Das herrlichste, größte Geheimnis des Lebens, die wundervollste Kraft der Natur will sie zusammenzwingen, – das Glück wollen wir ihnen bald geben, das Glück wollen wir ihnen lassen.«

Frau Karoline Rautenstrauch beschäftigte sich mit nachdenklichem Schweigen. Zuletzt sagte sie:

»Komm jetzt unter den Apfelbaum. Ein ganzer Berg von grünen Erbsen wird da auf dem Tische liegen. Grete hat lauter Lieder dazwischen gesungen. Komm, komm, wir sprechen dann noch ein wenig von unserer Jugend. Ihr Gold haftet an allem, was sie berührt.«

Da wußte Adolf Rautenstrauch, daß sich ihr Sinn gelenkt hatte.

Sie war eine ganz sonderbare Frau: sie legte keinen Wert darauf, stets bei ihrer vorgefaßten Meinung zu bleiben und immer das letzte Wort zu haben.


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