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11.
Blauer Himmel

Als der alte Herr gerade beim Erzählen seiner zweiundzwanzigsten Geschichte war, kam Grete in die Giebelstube. Die wichtigsten seiner Geschichten hatten nämlich sämtlich regelrechte Nummern, und seine Angehörigen und Freunde wußten vielfach mit diesen Nummern Bescheid.

»Großvater!« rief Grete, »Herr Sievers! In zehn Minuten beginnt das heutige Festmahl.«

»Es paßt gut. Geschichte Nummer zweiundzwanzig ist dann gerade zu Ende.«

Grete lachte fröhlich, und es klang so, als ob blaue Glockenblumen im Walde läuten.

Fröhlich ging es dann auch her in der großen, einfachen Eßstube, die mit ihren Fenstern nach dem gartenartigen Hofe zu lag. Eine ganz leichte Verlegenheit, die sich im Anfange über die kleine Versammlung senkte, als der Fremdling schon wieder zwischen ihnen stand, bekämpfte Pastor Schulte durch seine Neckereien.

»Man hat sich zum Kirchenverordneten in Drömlingen gewählt. Man kann nur in Drömlingen das Leben lebenswert finden. Kirche und Pfarrhaus haben eine beachtenswerte Eroberung gemacht. Und ich habe jemand gefunden, der meine ältesten Geschichten noch nicht kennt und sie geduldig anhört.«

»Bis zu welcher Nummer bist Du gekommen, Vater?« fragte Frau Pastor Rautenstrauch lächelnd.

»Bis zu Nummer zweiundzwanzig! Wenn er sie alle kennt, soll er sich äußern, welche ihm am besten gefallen hat, und zur Sicherheit, daß er mir keine vergißt, fange ich dann noch einmal von vorn an.«

Alle fünf lachten, und am lautesten lachte der alte Pastor Schulte selbst.

Pastor Rautenstrauch, der mit kundigem Sachverständnis mehrfach eigenartig leuchtende Blicke aufgefangen hatte, die sich seine Grete und der Wassertechniker aus der Hauptstadt zuwarfen, betrachtete sich beim Nachtische unbemerkt und angelegentlich den Gast, der mit schätzenswerter Ausdauer schon zum zweiten Male an seinem Tische saß.

Und was er sah, behagte ihm immer mehr, und nicht minder das, was er hörte. Er ließ sich allerlei von Karls Jugend und aus seinem Elternhause erzählen; dabei zog er auch sein jetziges Leben und seine Lebensaussichten in den Kreis seiner Betrachtungen, indem er alles fein säuberlich und klar in regelrechte Abschnitte teilte, so wie er etwa eine Predigt zergliederte.

Karl merkte nicht, daß er geprüft wurde und gab in seiner ehrlichen Art alles her was er wußte und was er bei sich hatte. Es war nichts dabei, was er hätte verhehlen sollen. Mit grellen Farben malen, war freilich nicht seine Sache. Aber ein schlichter Glanz, ein mattgoldiger Schimmer lagen wie von selbst über allem was er sagte, und seine Stimme klang fest und ruhig, bei längerem Sprechen oft sogar ein wenig eintönig; aber es lagen dennoch Klang und Melodie in seinen Worten. Als Grete eine lange Weile still zugehört hatte, dachte sie nach, wie wohl seine Stimme klänge. Bald fand sie es, und sie wußte nun sicher, daß seine Stimme wie ein Waldhorn klang, so schön und tief, so fest und beruhigend, so träumerisch und sinnend oft, und doch so kraftvoll und ehern.

Da lauschte sie immer still und sprach nichts mehr dazwischen.

»Was werden wir an diesem köstlichen Nachmittage beginnen?« fragte Pastor Rautenstrauch, nachdem man lange, viel länger als sonst, bei Tische gesessen hatte. Alle blickten unwillkürlich nach dem Fenster. Man sah, wie die Ziegelsteine auf den Dächern so recht betrübte und mißvergnügte Gesichter machten, weil sie sich grämten um den verregneten Sonntag.

Karl stand auf und sah durch ein offenes Fenster spähend nach oben.

»Dort im Westen schimmert ein hellblaues Stück«, sagte er laut, und in Gedanken setzte er hinzu: »wie ein schönes, leuchtendes blaues Auge.«

»Das wird uns nicht viel helfen, das blaue Stückchen«, sagte Pastor Rautenstrauch, »unser Apfelbaum wartet heute vergebens.«

Und der alte Herr fügte hinzu:

»Hier drinnen ist nicht minder gut zu hausen. Et habet bonam pacem, qui sedit post fornacem. Herr Sievers begleitet mich vorläufig wieder in mein Stübchen, bis unten alles klar ist; dann werden wir« ....

»Willst Du nicht schlafen?« fiel ihm Frau Karoline in die Rede.

»Nein, ich bin heute nicht müde. Die angenehme Unterhaltung am heutigen Morgen, – man wird verstehen, – und außerdem – Pastor loci, Du wirst mir nicht zürnen, ein wenig habe ich doch heute in meiner Kirchenecke genickt, nicht während der Predigt, beileibe nicht, aber bei den Gesangbuchversen und der Orgel. Wir sind allzumal Sünder! Es schläft sich gar zu gut dabei und in Gottes Hut ist sicher ruhn!«

»Ein treffliches Beispiel für die Gemeinde!« lachte Pastor Rautenstrauch.

»Fürchte nichts, gestrenger Pastor loci! Du weißt selbst, niemand kann mich dort oben auf meinem Kirchenplatze sehen, als der lebendige Gott, und der hat Sonntags in anderen Kirchen genug zu sehen und zu hören, ob es auch überall fein artig und fromm zugeht. Er kennt mich hinlänglich!«

Grete war bereits wieder in der Küche, als die beiden Freunde in der Giebelstube ankamen. Der alte Herr griff nach seiner Pfeife.

»Da wir hier nun wieder so behaglich sitzen, – soll ich Ihnen vielleicht wieder eine Geschichte erzählen, oder will man vielleicht lieber irgend ein Buch in die Hand nehmen? Man wird freilich nichts Neues bei mir finden, denn seit zwanzig Jahren kaufe ich kein Buch mehr. Das tut für mich mit der Pastor loci, und wenn's Not tut, gehe ich in seine köstliche Muskammer. Übrigens habe ich eben, wie ich sehe, noch ein ganz frisches naturwissenschaftliches Buch hier liegen – was sagt man nun?! – Übrigens, hierbei fällt mir eine Geschichte ein, die man unweigerlich erst noch hören muß, nicht wahr?«

Karl meinte höflich, daß er damit einverstanden sei.

»Trefflich, junger Mann. Ich verspreche auch, daß die Geschichte kurz sein soll. Sie ist nämlich so: In meiner Gemeinde wohnte ein Gärtner, ein gottesfürchtiger, fleißiger Mann, der nur zuweilen an einer leichten Zerstreutheit litt, indem er die Nachbargärten mit dem seinigen verwechselte, und zwar seltsamerweise immer nur des Nachts. Es mochte auch vielleicht so eine Art von unbewußtem Traumzustande gewesen sein, der immer dann eintrat, wenn er am andern Tage auf den Gemüsemarkt fahren wollte und sein Garten nicht genug dazu hergab. Verschiedene Male schon hatten ihn seine Nachbarn erwischt, wenn er in seinem Dämmerzustande nächtliche Ernten in den Gemüsegärten der Anwohner veranstaltete, und sie hatten sich gründlich und deutlich mit ihm ausgesprochen. Doch dieses nur nebenbei. Dieser Gärtner, Höltje mit Namen, hatte auch eine Frau, willensstark und kräftig in jeder Weise, die es sich zur Pflicht gemacht hatte, ihren zerstreuten und traumwandelnden Mann, der ihr auch an Körperkräften unterlegen war, in jeder Weise zu leiten, was an sich von ihr sehr lobenswert war. Unser schönes Deutschland ist ja reich an edlen Frauen, die ihre schwächeren Männer in anerkennenswertem Pflichtgefühl durch das feindliche Leben leiten. Jeder Widerspruch Höltjes weckte die schlummernden Kräfte Frau Höltjes immer mehr und trieb sie zur äußersten Betätigung an. Nicht selten steigerte sich die Beweiskraft der wackeren Frau bis zu solcher Höhe, daß sie ihrem Höltje, natürlich nur in rein erzieherischer Absicht, einen oder mehrere nachdrückliche Backenstreiche versetzte, besonders dann, wenn er vorlaut irgend einen Einwand gewagt hatte. Zu seiner Ehre sei gesagt, daß dieses nicht oft vorkam. Nach Beendigung ihrer schlagenden Beweistätigkeit stellte sich Frau Höltje jedesmal zuerst vor ihn hin und ging danach um ihn herum, wobei sie ihn überlegen musternd von allen Seiten besah. Dabei sagte sie in einer Tonart, die aus Freude, einem gewissen Hohn und sittlicher Überlegenheit gemischt war:

»Na Höltje, wat seggste nu!?«

Höltje sagte in der Tat kein Wort mehr.

Nun hielt Frau Höltje seit einiger Zeit auf ihrem Hofe einen großen Raben, der mit den Jahren allerlei sprechen gelernt hatte, weil er zur Familie gerechnet wurde, und in der Stube ein- und ausging. Der Hofhahn, den Herr Höltje zu seinem Lieblinge erkoren hatte, hielt sich für gewöhnlich in bescheidener Entfernung von dem allmächtigen Raben, gerade wie sein Herr von seiner Gattin. Im Frühling kam es aber dennoch zu leichten Plänkeleien, da die Sonne dem Hahn den roten Kamm schwellen ließ und die Gunst seiner Hennen ihm höheren Mut machte, und schließlich entspann sich eines Tages ein erbitterter, schwerer Zweikampf daraus, in dem der Rabe Sieger blieb. Er hatte den Hahn mit seinem mächtigen Schnabel derart geliebkost, daß Herrn Höltjes Liebling blutend auf der Walstatt lag und sich kaum noch bewegte.

Ich, der ich zum letzten Teile dieses Schauspiels zufällig gerade auf Herrn Höltjes Hof kam, weil ich ihm wegen seiner nächtlichen Traumzustände einiges zu sagen hatte, sah nun, wie der Rabe eine Art von Siegestanz um den geschlagenen Feind aufführte; er besah ihn von allen Seiten, stellte sich auch vor ihn hin und sagte in seinem angenehm krächzenden Tone laut und deutlich, gerade wie seine Herrin zu ihrem Gatten:

»Na Höltje, wat seggst de nu!?«

Und Herrn Höltjes besiegter Hahn sagte in der Tat kein Wort mehr, ebenso wenig wie Höltje der Herr«.

Pastor Schulte begann im Anschlusse an diese Erzählung sich noch über mehrere andere seiner damaligen Gemeindemitglieder zu äußern, aber es war ihm doch sehr bald anzumerken, daß er müde wurde. Die Pfeife erlosch allmählich, und mitten in einem langsam gesprochenen Satze war der Erzähler eingeschlafen.

Karl ging, da es ihn nach frischer Luft und Baumgrün verlangte, leise die Treppe hinab, nahm im Flur Hut und Mantel und begab sich aus dem stillen Hause in den regenfeuchten Garten.

Die Haustür, die nach dem Garten führte, stand weit offen. Stinkespitz lag auf der Schwelle, rührte sich aber nicht, sondern klopfte nur hochachtungsvoll grüßend mit dem Schwanze auf das Holz.

Karl ging einen geraden Weg zwischen feuchtem Gebüsch entlang; von einem Rundteile aus, auf dem auf einem Pfahle eine altmodische Glaskugel stand, in der man sich spiegeln konnte, wobei jeder in lächerlich verzerrter Gestalt erschien, zweigten sich mehrere Seitenpfade ab. Karl schlenderte auf und nieder, bald auf diesem, bald auf jenem.

Vom Dorfkirchturm herab schlug es hell und laut vier Uhr. Der Regen, der allgemach immer spärlicher und dünner geworden war, wie die Geldbörse eines Studenten gegen das Ende des letzten Monats, hatte ganz aufgehört.

Große blaue Inseln zeigten sich am Himmel, an dem nur noch spärliche kleine Regenwolken untätig, wie gelangweilt, einherzogen, und ein schönes Licht fing an im Westen zu glänzen, als ob die Sonne den Sonntag Nachmittag dennoch grüßen wolle.


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