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9.
Mozart

Im Garten tropfte der Regen von den Bäumen. Aber Karl dachte, während er mit seinem Führer die Treppe hinaufstieg, daß in diesem alten Pfarrhause ebenso viel aufgespeichertes Sonnengold leuchten könne wie die wirkliche Sonne an dem wunderbaren Sonntage im Zaubergarten gespendet hatte.

»Man trete ein! Et hic dii sunt!« ermunterte der Pastor. »Wenn es auch nur die alten, bescheidenen, schon ein wenig verhutzelten Götter sind, die so ein armer Knecht Gottes zu bieten hat. Die neue Zeit richtet andere, größere Götterbilder auf, die von einem Weltende zum anderen reichen, und auch die werden einst fallen. Verglimmen wird einst ihr Leuchten, wie hier das letzte Flimmern meines Streichhölzchens, mit dem ich die Pfeife anstecke. Was ist die ganze Erde vor Gott dem Allmächtigen? Nicht mehr bedeutet sie als dieses Häufchen Tabak hier in meiner Pfeife, das ich von jetzt bis Mittag aufrauche. Mein Leben verbrennt und mein Tabak verbrennt, das ist eins wie das andere. Und unser Herrgott sitzt in seiner Allmacht da und raucht sozusagen seine Weltallspfeife, und er stopft die Erde hinein und tut ein paar Züge, und weg ist sie bis auf ein bischen Asche. Das stört ihn nicht in seiner Ruhe. Was sollen wir dabei tun? Gut sein und dadurch glücklich machen und glücklich sein, – das war immer mein Spruch. Im übrigen müssen wir den großen Herrgott einen guten Mann sein lassen. Von der Theologie, vom Pfaffenwissen und Pfaffenwitz, was imgrunde stets dasselbe ist, habe ich mein Lebtag nicht viel gehalten – – aber man setze sich, junger Freund, man zögere nicht!«

Karl Sievers setzte sich in einen alten Lehnstuhl am Fenster, der sicher schon drei Jahrhunderten gedient hatte; er sah sich in dem großen, ein wenig niedrigen Zimmer um. Traulicher Urväterhausrat überall! Wunderliche alte Tische und Stühle! Dort ein Tisch mit geschweiften, weißen Beinen; die Tischplatte war ganz mit bunten Perlen bedeckt, die einen Papagei darstellten, der sich in grünen Zweigen wiegte. Zwei ebenfalls weiß angestrichene Stühle standen daneben. Dort in der Ecke, am gelbweißen Kachelofen schlief eine riesige, eichene Truhe, mit Eisen beschlagen, von der Großvater Schulte zu sagen pflegte, er würde seine Reichtümer hineintun, wenn er sie hätte. Auf dünnen Beinen zeigte sich ein zierliches, hellbraunes Tafelklavier, das dastand wie ein altes, fröhliches Jüngferchen aus vergangenen Zeiten, dessen Lieder frisch in die neue Zeit hineinklingen und das gar nicht traurig ist über sein lustiges Alter.

Und über diesem altjüngferlichen Klavier grüßte Mozarts Bild, daneben hingen Familienbilder und Silhouetten aus alten Zeiten an der alten Tapete. An die Hauptwand lehnte sich ein langes und hohes Büchergestell mit einer unendlichen Anzahl von alten Büchern, die in ihrer Schläfrigkeit nur noch selten gestört wurden.

Von all' diesem ging aus und um alles dieses wehte ein wunderlicher, wundersamer Duft, von Alter und Frische zugleich, von Blumen und Tabaksdunst, von beschaulicher Muße und strebsamer Arbeit, von Mystik und Geistesfreiheit, – die echte Luft in der Umgebung eines protestantischen Pfarrers, dieser seltsamen, unnachahmlichen Menschenmischung, aus der, trotzdem sie mit törichtem Sträuben oft selbst nicht will, im Laufe der Jahrhunderte doch immer und immer wieder neue Blumen schönen Fortschreitens hervorblühen.

Pastor Schulte folgte den Blicken seines jungen Freundes, die besonders in dem musikalischen Winkel des Zimmers haften geblieben waren.

»Mein altes, junges Klavier und mein alter, junger Mozart, – sie gehören zusammen. Sie haben mir meine Jugend geweiht und geheiligt und machen mir mein Alter sonnig und jung. Und dort hinten, sehen Sie, da hängt meine uralte Laute. Ich hatte sie, weil ich das Spinett nicht überall hin mitnehmen konnte. Sie klang am hellsten in meiner Studentenzeit, da oben in meiner kleinen Stube auf der Fuchsgasse in Göttingen – – ach, was wißt Ihr jetzt von einer Laute und von den Liedern, die man früher dazu sang. Singen kann ich freilich nicht mehr, aber ein wenig krächzen tuts für mich noch genug« ...

Karl stand auf und betrachtete mit Andacht Klavier, Mozart und Laute.

»Wolfgang Amadeus!« fuhr der Alte fort und grüßte mit der Pfeifenspitze nach seinem Käppchen. »Wie viel Liebes und Gutes hast Du mir gegeben! Was man heute auf dem Felde der Musik baut, – ich ahne es nur, ich weiß es nicht. Es mag ja wertvolle Musik sein, aber für mich taugt sie nicht mehr. Man lasse mich spielen mit den Gold- und Silberfäden meines Mozart, man lasse mich daraus ein klares, leichtes und durchsichtiges Gewebe flechten. Gern lasse ich der Jugend diese schweren, bunten, dicht gewebten, fast unentwirrbaren Pracht- und Farbenteppiche der neuen Musik, die eine Seele erfordern, die schwer mit Phantasie, Verstand und Gedanken beladen ist. Diese kunstvollen Teppiche mit den seltsamen Farben, die so schwülen, fesselnden Duft aussenden, sie sind mir zu schwer; laßt mir das zarte, schimmernde, freudehelle Gewebe meines Mozart. Wenn die Zeit wieder einmal älter wird, dann wird sie wieder ihren Mozart suchen, den die Echten und Guten aller Zeiten noch nie ganz verloren haben, weil es keine echte Jugend und Schönheit ohne ihn gibt. Weiß man, wie oft ich den herrlichen Don Juan gehört habe? Man wird es nicht erraten. Einundsiebzig Mal in meinem langen Leben! Ein Landpfarrer und – Don Juan, was sagt man dazu? Ich habe alles darin gefunden, was ich suchte: Tiefe und Philosophie, Leichtsinn und Schönheit, Wahrheit und Grauen, Tollheit und Gemüt. Wer allerdings darin nur den Ausdruck leichtfertiger Sinnlichkeit sieht und sucht und nur die Champagnerarie kennt, – den bedaure ich von Herzen.«

Er ging an das Klavier und schlug einige Akkorde an.

»Man höre: Die Klänge an der Leiche des Vaters. Donna Anna singt: Mein Vater, ach, mein Vater! Teuerster Vater!«

Er fing an zu singen und hielt dabei immer die Pfeife im Munde, und es erschien unbegreiflich, wie er es fertig brachte. Es war ein wunderliches, rührendes Getön auf dem alten, summenden und rasselnden Spinett, zu dem die knarrende und fistelnde Tabaksstimme durch die Zähne sang.

Aber Karl Sievers lachte dennoch nicht, denn er hatte die Gabe, das Schöne und das Gute lauter zu hören und heller zu sehen als das Häßliche und Falsche, das so oft in seinem Gefolge zu finden ist.

Der Herdenmensch freilich sieht überall am deutlichsten und am liebsten das Falsche und das Lächerliche, und er dünkt sich wunder wie klug und hoch, wenn er gleichzeitig dabei die Schönheit und die Güte mit billigem Spott begießen kann; und wenn die Herdenmenge ein schönes, helles Licht sieht, das in einem alten, blinden, plumpen Leuchter steckt, so sprechen sie: »Pfui, der häßliche Leuchter!« und das Licht beachten sie nicht, sondern sie wenden sich ab. Der reine, hohe Mensch aber sagt: »Wie schön brennt das liebe, klare, ruhige Licht!« Und von dem alten Leuchter der vielleicht noch nicht einmal so häßlich ist, sieht und sagt er nichts oder er nimmt ihn und putzt ihn ein wenig blank.

Darum ist das Leben für die Menschen so dunkel und schwer, weil sie immer nur die alten Leuchter sehen und selten oder niemals die reinen schimmernden Lichter, die in ihnen verbrennen; erst wenn sie ausgebrannt und erloschen sind, merkt man an der Dunkelheit, daß sie brannten; dann aber ist es spät.

Der alte Mozartschwärmer hatte sich warm gespielt, und er griff nach diesem und jenem. Ein Rondo huschte lachend und springend vorüber, ein Menuett bewegte sich gemessen und stellenweise vielleicht ein wenig langweilig durch das Zimmer; ein Adagio klagte mit sanfter Trauer um die Vergangenheit, und es klang so zauberhaft und weichherzig summend aus den alten Saiten, daß der Zuhörer ganz in Traum und Sinnen versank. Er saß im Lehnstuhle am offenen Fenster, wo ihm die süßlich-übelriechenden Tabakswolken an der Nase vorbeistreiften und sich mit der feuchtwarmen, reinen Sommerluft mischten. Wie ein langsames, zartes Adagio der Natur da draußen klang das leise Rieseln des sanften Regens.

Und als Karl so saß, erschien es ihm, als ob nichts weiter auf der Erde für ihn vorhanden sei als dieser grüne Pfarrgarten, in den er vom Giebelfenster aus hineinblickte, und das alte, baufällige Pfarrhaus mitten im grünen Garten und grünen Hofe, und der alte Pfarrer dort am Spinett mit seiner Pfeife und seinem Käppchen, und unten im Hause die Pastorsleute und das junge blühende Leben dazu, – seine Grete Rautenstrauch!

Was kümmerte ihn jetzt sonst noch die ganze Erde? Jetzt, wo er diesen schönen Traum eines Sonntagsvormittags träumte?

Leise surrte das Spinett, immer weiter summte das träumende Adagio.

Einmal war es Karl, als ob er halb im Schlafe sei, und doch hatte er dabei immer wache Gedanken an Grete. Wo sie wohl sein mochte? Unten im Hause, in der Küche bei fleißiger Arbeit?

»Ach ja«, dachte er weiter, »liebe Grete, liebe Grete Rautenstrauch, du Pastorsmädel! Wer so aufwächst, in solchem Pfarrhause, – das ist doch ein Leben, das ist eine Zukunft. Mir ist es nicht so geworden; meine Jugend war nicht so frischgrün und glücklich!«

Und das alte Adagio summte ihm den Gesang seiner herben Jugend und das traurige Lied von seinen toten Eltern.

Der Alte am Spinett sah mit seinen hellen Augen die Schatten auf dem Gesichte seines Gastes und rief, dabei allmählich in eine fröhlichere Weise übergehend:

»Was soll's? Kopf hoch! Man fange keine Grillen! Das soll der Jugend nicht geziemen! Allegro! Rondo capriccioso! Giacoso! Heiliger Wolfgang Amadeus, hilf!«

Das Klavier lachte ermunternd unter den Händen des Alten, und die Schatten verflogen.

Bald danach fing der alte Pastor Schulte an zu erzählen, wie ihm das so Freude machte, wenn er einen stillen und dankbaren Zuhörer gefunden hatte, dem ein andächtiges Gemüt inne wohnte und der ihn nicht unterbrach. Von einem Jahrzehnt sprang er erzählend munter in das andere, und der zehnten Geschichte ließ er schnell die elfte folgen, nach der die zwölfte unausbleiblich war, während ihm die dreizehnte noch weniger Beschwerden machte als die vierzehnte und fünfzehnte, die in der sechzehnten einen würdigen Nachfolger hatten. Die Leiden und Freuden seines jungen und alten Lebens ließ er an Karls Augen vorbeiziehen, und die lächelnde Gegenwart blickte in alte Zeiten zurück, deren Goldschimmer für den Erzähler unvergänglich war, und so hell leuchtend, daß er auch andern von seinem Glanze abgeben konnte.


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