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In Deutschland ging lachend der Mai umher, und Karl Sievers hatte ihn noch nie so lange und fröhlich lachen sehen, als er von Hamburg aus durch Norddeutschland fuhr. Stundenlang eilte der Zug durch die Frühlingsheide.
Seine Freude war fast ganz ohne Gedanken, denn sie war zu groß; sie überwucherte, überströmte alles. Er wußte kaum, was er sah. Alles war ihm nur Leben, Licht und Hoffnung, und alles faßte er in einem Worte zusammen:
»Grete!«
Seine Braut, seine liebe Grete Rautenstrauch!
Der Zug eilte schallend durch das herrliche Gehölz bei Hämelerwald. Noch eine halbe Stunde! An Groß-Gleidingen und Broitzem huschte er jetzt vorbei, – die Stadt lag vor dem Heimkehrenden.
Braunschweig!
Grete wußte, daß er an diesem Mainachmittage heimkehren wolle. Würde sie ihn erwarten?
Eine strömende Wärme stieg in ihm auf, die ganz anders, viel natürlicher, viel deutscher war als die heiße Glut im Tropenlande.
Wie er sich auf sein schönes Braunschweig freute, das von seinem baumgrünen Walle umgeben dalag, reich an geschichtlicher Vergangenheit, stolz und froh in blühender Gegenwart, hoffnungsreich in wachsender Zukunft! Immer jungfrisch und rotwangig trotz mehr als tausendjährigen Alters!
Wie wohl Grete aussehen mochte?
Fast acht Monate war er fortgeblieben. Das ist eine lange Zeit in der Jugend, ein endloses Drängen in der Sehnsucht. Manchmal kam sich Karl Sievers fast so gealtert vor, so ungeheuer reif! Sindbad, der Seefahrer des Märchens spukte in ihm. Wahrhaftig, er kam doch als ein ganz anderer nach Drömlingen zurück als wie er gegangen war!
Aber nach solchen Gedanken lachte er wieder über sich selbst, und seine ganze kurze gefabelte Wichtigkeit und seine gewissermaßen überseeische Bedeutung verrannen vor seiner natürlichen Fröhlichkeit, denn er verstand es nicht, vor sich selbst und vor anderen zu posieren und sich selbst als irgend etwas Hervorragendes zu dünken. So jugendlich er sonst auch war, auf dieses erheiternde Vorrecht der Jugend verzichtete er.
Das, was man in der Jugend leicht verzeiht, ist leider das Einzige, was sich die meisten Menschen aus ihren jungen Tagen in das Alter mit hineinnehmen; aber dieses harmlose Posieren und die jugendliche Wichtigkeit artet dann aus in Aufgeblasenheit, Rechthaberei und öde Langeweile; solche Alten, die etwas vorstellen wollen, sind immer lächerlich.
Langsam fuhr der Zug in die Halle des Endbahnhofes ein. Die lange entbehrte, heimatliche, breite Aussprache tönte an Karls Ohr, als er leicht durch die dichten Menschenmengen ging, die den Hamburger Zug erwartet hatten.
Wo war Grete, oder sonst einer von den Drömlinger Pfarrersleuten?
Schon hatte er die Halle verlassen und stand auf dem großen freien Platze vor der Okerbrücke.
Keine Grete, kein Drömlinger.
Jetzt sah er eine junge Dame über die Brücke kommen. Konnte das Grete sein? Sie ging so stolz und schlank wie diese, aber sie sah sonst anders aus, als er erwartet hatte, als er sie in der Erinnerung trug.
Nein, sie konnte es nicht sein!
Und doch! Sie war es! Karl Sievers wußte sich nicht anders zu helfen: weinen konnte er nicht, lachen war nicht genug, singen und rufen durfte er nicht, so fluchte er denn in seiner Kraft innerlich und leise vor aller Freude:
»Himmelherrgott, schwere Not, ist das ein herrliches Mädchen! Verfluchtes Donnerwetter, meine liebe, köstliche Grete! Wie gut sieht sie aus, wie schön!«
Ja, sie sah anders aus als sonst; nicht mehr so kindlich-ländlich wie sonst immer im Pfarrgarten. Sie wußte sich zu kleiden und zu tragen, wenn es nötig war; sie glich einer recht gut ausgebildeten, vornehmen jungen Dame, in echt vornehmer Einfachheit. Wie sie den Hut trug, und das wundervolle, helle Frühlingskleid – – schon hatten sich die beiden gesehen. Sie standen auf der Brücke und gaben sich die Hände.
In der linken Hand trug Grete einen Blumenstrauß, den sie hinreichte mit den Worten:
»Ich habe ihn erst im Felde gepflückt, da, wo ich vor einem Jahre war, und deshalb bin ich zu spät gekommen!«
Und dabei machte sie ein so köstliches Gesicht, so wunderbar und schön, so zwischen Freudeweinen und Lachen, ein Gesicht, wie es nur einzig und allein Grete Rautenstrauch aus Drömlingen fertig brachte; Grete mit den sonnigsten Augen des ganzen Landes, mit den Augen, in denen von jedem Tage ihres Lebens ein wenig Morgensonnenglanz zurückgeblieben war und sich darin aufgespeichert hatte.
Und von diesem ewigen Morgensonnenlichte gab sie ihrem Karl einen Strahl, daß er fast wirr wurde vor heiliger Glücksüberraschung.
Die beiden ließen ihre rechte und linke Hand nicht wieder von einander und gingen über die Brücke.
Mancher blieb stehen und sah sich nach ihnen um. Wenn es gerade ein günstiger Zufall mit sich bringt, gibt es auch noch Menschen, die es fertig bringen, sich neidlos an fremdem Glücke und an blühender Jugend zu freuen. Ein grauer Herr, der ziemlich trübselig seines Weges schlich, reckte sich plötzlich, und wie etwas längst Vergessenes huschte es über sein kleines Gesicht, wobei er dachte:
»Sieben Mal verdammt will ich sein, wenn das nicht die prachtvollsten Liebesleute sind, die ich jemals in meinem ganzen törichten Leben gesehen habe!«
»Wohin gehen wir? fragte Karl.
»Aber Karl, nach Drömlingen natürlich«, antwortete Grete mit vorwurfsvoller Sicherheit und drückte seine Hand sehr stark.
»Ja«, nickte er bereitwillig.
Und so gingen sie weiter Hand in Hand und sahen sich oft ins Gesicht. Von Weg und Stadt sahen sie eigentlich nichts, weil sie so selig beisammen waren. Zuweilen betrachteten sie gemeinsam den Feld- und Waldblumenstrauß, oder ihre Blicke irrten in suchender Freude nach dem blauen Sonnenhimmel, der seine schönste Maienherrlichkeit lachen ließ.
Sie sprachen nicht viel in Worten, weil sie ihres Glückes Fülle doch nicht recht ausdrücken konnten; es ging nur wie ein Lachen und Singen, wie ein hell klingender Klang der Freude durch ihr ganzes einiges Wesen.
Lang dehnte sich heute der Weg nach Drömlingen; besonders der Wald schien kein Ende zu haben. Woran das wohl liegen mochte?
Wenn jemand mit hellen Augen und wachen Ohren sich an jenem Mainachmittage im Drömlinger Walde umgetan hätte, so hätte er unter den Bäumen viel Liebe sehen können und ein glückestrunkenes Flüstern hören.
Und wäre er ein Philosoph gewesen, so einer von jener jetzt beliebten Art, die nicht Klarheit bringen, sondern die immer in tiefster Abgrundstiefe zu denken wähnen, wenn sie unverständliche Worte unverständlich zusammenmengen, mit seßhaftem Fleiß und aufgeblasener Wichtigkeit, so wie der Bäcker seinen Teig mengt, der dann so träge, schwer und langweilig aus der Backmolle fließt, wenn man sie umstülpt, – so ein Philosoph hätte sich, wenn er noch einen Rest von Klarheit behalten hätte, aufrichtig sagen müssen, daß sein ganzes Philosophieren und Gedankenmengen, sein Ausschütten aus der Gedankenbackmolle nichts, aber auch reinweg nichts ist gegen so ein junges, blühendes Leben, gegen so ein wundervolles Singen und Dichten der Natur, wenn sich zwei junge, gesunde Menschenkinder in heißer, ehrlicher Liebe zusammenfinden!
Aber es hat leider kein Philosoph gesehen, wie oft die Beiden sich in den Armen hielten; er hätte sonst wohl manches daraus lernen können.
Am Waldesrande, wo man nach Drömlingen und dem grünen Pfarrgarten hinuntersieht, standen sie besonders lange, und die blühende Kraft und Freude des Wiedersehens wußte nicht, wie sie sich äußern sollte. Dort fiel sogar der Blumenstrauß an die Erde.
Aber Karl hob ihn wieder auf, ehe sie weiter gingen.
»Die Blumen sind durstig«, sagte Grete. »Wir wollen schnell gehen, damit ich sie in's Wasser stellen kann.«
»Ich bin ebenso durstig«, lachte Karl.
»Du bekommst auch Wasser. Mehr bist Du nicht wert.«
»Nein! Wasser will ich nicht!«
»Etwas anderes will ich!«
»Ich habe nichts anderes.«
»Ich will Dir zeigen, wonach ich durstig bin.«
Fröhlich wollte er seinen Mund zu dem gebrauchen, was ihm lieber war als reden.
»Nein, mein Herr, jetzt hat Ihre ehrenvolle Tätigkeit ein Ende. Wir nähern uns Drömlingen, und ich bin vorläufig immer noch eine Pastorentochter, was ich zu würdigen und zu beachten bitte,« sagte Grete mit scherzender Unnahbarkeit.
»Ja, Grete, mein Pastorsmädel!«
»Seien Sie vernünftig, mein Herr! Ich entziehe Ihnen jede weitere Erlaubnis.«
»Liebes, schlechtes, großes, kleines, dummes, kluges Pastorsmädel!«
»Man hat sich eine recht ergiebige Ausdrucksweise auf Reisen angewöhnt!«
»Man! Gerade wie der liebe Großvater!«
»Warum nicht? Er freut sich auf sein Wasserwerk. Mir unbegreiflich.«
»Danke herzlich, Pastorsmädel! Ich weiß diese Äußerung beiderseits zu schätzen.«
Sie neckten sich fortwährend und kamen dabei näher an das liebe, grüne Drömlingen und an den Pfarrgarten, wo die Bäume in sonniger Üppigkeit blühten. Auch auf der Trift machten die Bäume ihr fröhlichstes Gesicht, wenn sie auch schon hier und da Blüten hergeben mußten, die wie weiße Tropfen herniederfielen.
Die Lindenlaube hatte ein neues, hellgrünes Gewand angezogen, und als die beiden vorübergingen, sahen sie sich lange an. Sie dachten an den Abend des Abschieds.
Hinter niedrigen Büschen stiegen blaugraue Rauchwolken auf; es hustete und raschelte.
»Gott sei gepriesen, daß er es auf allen Fährlichkeiten beschirmt hat zu Lande und zur See, – mein verehrtes Wasserwerk! Viel Neues wird man nun erzählen können, und ich selbst werde wohl mit meinen Geschichten ein wenig in Bedrängnis geraten! Denn ihnen fehlt der Reiz moderner Neuheit. Im übrigen freue ich mich aufrichtig, daß wir uns noch einmal wiedergesehen haben, was bei einem hochbetagten Greise nicht immer selbstverständlich ist.«
Auf der Schwelle lag »Stinkepitz«, der dem Ereignisse wenig Beachtung schenkte, da ihm sein Nachmittagsschlaf wichtiger war. Der Seefahrer kam ihm, während er ihn nebensächlich anblinzelte, im allgemeinen unbekannt vor. Aber das währte nicht lange, und wohlwollend klopfte er dann zur Begrüßung mit dem Schwanze. Zum Danke trat ihn Karl, der es eilig hatte, in das Haus zu kommen, versehentlich auf die rechte Vorderpfote. Tinkepitz zog sich darauf mit ärgerlicher Verachtung in eine dunkle und sichere Ecke des Flurs zurück, wobei er die etwas sehr freudig erregte Begrüßungsszene, die sich jetzt im Hausflur zwischen den Rautenstrauchschen Eltern und dem Ankömmlinge abspielte, höchst abfällig beurteilte.
Nach dem Abendessen sagte der Pastor zu seiner Frau, mit einem fragenden Seitenblicke auf den Gast:
»Er hat nicht, wo er sein Haupt in dieser Nacht hinlegt. Grete hat ihn gleich mitgenommen; er hat sich keine Wohnung gesucht. Was tun wir mit ihm?«
»Das Pfarrhaus ist groß genug«, meinte Frau Rautenstrauch lächelnd. »Um meinetwillen braucht er heute Abend nicht nach Braunschweig zu gehen«.
In der Abenddämmerung ging Grete hinauf und machte ihres Liebsten Schlafgemach zurecht; mit Blumen und maigrünen Zweigen schmückte sie es aus.
Karl Sievers aber glaubte, als er am andern Morgen erwachte, noch niemals so süß geruht und geschlafen zu haben, wie in diesem alten, schlichten Kämmerchen des baufälligen Pfarrhauses.
»Wenn doch hier meine Heimat wäre«, sagte er laut zu sich. »Nun fühle ich erst, was eine Heimat ist«.
Und er dachte an seine toten Eltern und an seine karge Jugend.
Unten im Hause hörte er seine Grete fröhlich singen, irgend ein Lied vom Maimorgen und von junger Liebe.
Da jauchzte es laut in ihm, und eine unbändige Lebenskraft fühlte er in sich stürmen und strömen.
Wild und unbändig waren dann seine Küsse, als er Grete im Garten traf. Sie wehrte ein wenig ab.
»Laß, Du Wilder! Hörst Du nicht, wie schön ruhig und klar, und doch mit Leidenschaft, dort in der Linde der Vogel singt?«
»Ach, liebe Grete, sei nicht so kalt, sei nicht so grausam! Der Vogel, weißt Du, der hat gut singen. Er hat ein Nest in der Linde, – er weiß, wer ihn dort heute abend erwartet!« – – –
An den nächsten vier oder fünf Tagen, bis zum Sonntage, kam Karl nicht nach Drömlingen; sein Amt hielt ihn fest. Eine neue Wohnung hatte er in einer stillen, baumgrünen Straße gefunden; gerade vor seinem Fenster reckte sich eine junge Kastanie in die Höhe und in die Breite.
Sein Vorgesetzter zeigte sich vollauf zufrieden mit dem Erfolge seiner Fahrt über das Meer und kündigte ihm allerlei Gutes dafür an. Karl hörte mit mäßiger Andacht den Lobsprüchen zu und dachte dabei:
»Was ich haben möchte, kannst Du mir nicht geben: Meine Grete und ein kleines Nest dazu, und dadurch ein volles, reiches Jugendleben« – – –