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15.
Der verirrte Vogel

»Und wenn Sie hundert Mal ein Einjähriger sind und noch zweihundert Mal so viel Geld haben, als wie Sie haben, dann wird doch nicht gebummelt in'n Dienste und wenn das nochmal vorkommt, werden Sie gemell't. Wegtreten!«

Der kleine Wachtmeister Nehring sah ganz rot und zornig aus, als er diesen Schluß seiner Strafpredigt dem Gefreiten Westphal vorgepredigt hatte, in seiner schweren, breiten, gezwungen hochdeutschen Sprache, der man die Abkunft von seinem dörflichen Platt auf dreißig Meter Entfernung anhörte. Dann ging er in seinen Schwadronsstall und suchte Trost in seinem Ärger bei seinen Pferden; ihm war nur dann wirklich wohl, wenn er Pferde roch. Er konnte nicht recht begreifen, wie es Menschen geben konnte, die ihre Nase an aufgeblühte Rosen hielten oder aus einem Maiblumenstrauße viel Wesens machten. Auch aus dem Weibervolke machte er sich nicht viel. Mit der Hand langsam über eine Pferdekruppe streichen oder das Gesicht an einen fein gebogenen Pferdehals legen und den herben Dunst einatmen, – das war eher etwas für ihn.

Der Husar, den der Wachtmeister gescholten hatte, ging gleichgültig schlendernd über den Kasernenhof, der sich luftig und weit am Altewiekring hinzog, und versuchte ein Signal zu pfeifen; er hatte jedoch zu hoch angesetzt und kam nicht zu Ende. Das hatte sich schon oft so in seinem Leben ereignet, und vielen anderen Menschen ergeht es so. Sie fangen zuerst an, in ihren Arbeiten und Plänen, in ihrem Denken und Trachten, in allem, was sie beginnen, in den höchsten Tönen zu pfeifen; sie machen dabei einen spitzen Mund wie ein Igel, aber wenn das Lied halb gepfiffen ist, dann geht's nicht mehr so hoch. Die meisten kommen noch nicht einmal über den ersten Anfang ihres Lebensliedes hinaus, und nach einigen falschen und verunglückten Tönen schweigen sie mit verdrossenem Gesichte und hängender Lippe. Sie geben es rasch und gänzlich auf, hohe Töne vom Leben zu pfeifen.

Der Husar Westphal wußte etwas besseres als den Dienst und das eindringliche Gedröhne seines prächtigen, diensteifrigen Wachtmeisters. Er zog sich seinen besten sommerlichen Zivilanzug an, nahm ein zierliches Stöckchen, steckte seine silberne Dose voll Zigaretten und ging in den Drömlinger Wald.

Frieda Eggeling wartete auf ihn; sie hatte ihm heute Morgen wieder einen Brief geschrieben. Er müsse bestimmt kommen, denn sie habe ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.

Etwas sehr Wichtiges! Er lachte. Das kannte er längst, die Wichtigkeiten dieser kleinen Mädchen. Was konnte es sein? Irgend ein törichter Klatsch, oder schlimmstenfalls hatten die Eltern einen seiner kurzen Briefe gefunden – was machte er sich daraus!

Je näher er dem Walde kam, der Stelle, wo sie sich immer zu treffen pflegten, desto fraglicher wurde ihm heute die Angelegenheit. Er hatte das Gefühl, als ob ihm erhebliche Unannehmlichkeiten bevorständen. Sollte er umkehren und das Mädchen laufen lassen? Es hatte überhaupt lange genug gedauert. Im Herbste ging er ab von den Husaren, dann wollte er so wie so nach dem Osten, um sich dort die Landwirtschaft aus der Nähe zu betrachten; dann hatte es kurz und rasch ein Ende.

Er ging zögernd und immer langsamer. Sollte er linksab gehen? Dann aber dachte er doch wieder an das frische, rundliche, hingebende Mädchen, und an das, was ihn im verschwiegenen Walde erwartete.

Ob Frieda wirklich so dumm war, wie sie ihm erschien? Einerlei, die Mädels waren nach seiner Meinung alle dumm. Er glaubte, auch auf diesem Gebiete ein vielerfahrener Odysseus zu sein.

Er war nahe an den vertrauten Platz gekommen.

Wahrhaftig, da saß sie auf dem Stumpfe einer abgehauenen Eiche oder Buche. Sie hatte das Taschentuch in der Hand. Verdammt, es schien doch ernsthaft zu sein! Ob er schnell noch umkehrte? Aber sie hatte ihn bereits gesehen.

Und das Klagen und Weinen ging an.

Er stellte sich großartig, überlegen, herablassend, obgleich ihm so bänglich und unbehaglich zu Sinn war, daß er am liebsten die nächste Eiche erstiegen und von da aus zugehört hätte.

»Laß nur, wird nicht so schlimm sein«, sagte er mindestens fünf Mal als Antwort auf Friedas zögernd vorgebrachte Sätze. Dann stellte er sich töricht, was ihm verhältnismäßig leicht wurde. Er wollte durchaus nicht verstehen, was das arme Mädchen ihm immer deutlicher sagte.

»Und es ist doch so«, sagte sie weinend. »Ich weiß es bestimmt! Ich habe in einem Buche nachgelesen, das meine Mutter in ihrem Schranke hat. Sie hat es immer versteckt und weggeschlossen, aber ich hatte früher einmal zufällig den Titel gelesen. Gestern habe ich heimlich den Schlüssel genommen. Ich habe das Buch gefunden und alles darin gelesen.«

Der Husar fluchte sich innerlich den Schrecken und die Furcht hinweg und griff nach seiner Zigarettenschachtel.

»Weißt Du gar nichts? Willst Du mir nichts sagen?« jammerte Frieda Eggeling.

Sein Ärger und seine Verlegenheit wurden immer größer, und auch die übelriechenden Dampfwolken, die jetzt die schöne Waldluft verpesteten, konnten ihn nicht besänftigen.

Das Mädchen sah ihn lange mit starrer Frage an.

»Du sollst mich heiraten!«

Westphal drehte sich halb um.

»Selbstverständlich«, sagte er, und »fällt mir nicht ein«, dachte er in demselben Augenblicke.

»Wann?« fragte sie.

»Aber doch heute nicht!« sagte er nach einer Weile und kam sich sehr geistvoll und witzig dabei vor.

»Nein, natürlich nicht! Aber sobald Du frei bist. Du mußt das tun, weil Du es immer versprochen hast. Und Du hast gesagt, es sei gar nichts, was wir täten; es habe nichts zu bedeuten. Und ich habe Dir alles geglaubt.«

Westphal sagte nichts mehr. Er dachte nur, daß die Sache doch wohl ihre Richtigkeit haben werde. Verdammt, da würde man heute noch manche Zigarette zur Beruhigung rauchen müssen! Wenn das dumme Mädchen doch nur wenigstens mit den langen Reden aufhören wollte! Wäre er doch seiner Ahnung gefolgt und nicht hergegangen!

»Ich habe keine Zeit mehr. Ich habe heute Abend noch Stalldienst«, log er plötzlich.

»Willst Du mir nichts sagen, nichts, was ich tun soll?«

»Eh, laß nur, es wird nicht so schlimm sein. Ich muß es mir doch erst überlegen. Ich muß wirklich fort. Ich schreibe Dir dann.«

Er ging dicht an sie heran. So verlockend und anmutig stand sie da, trotz ihrer Tränen. Er spähte; man sah ihr überhaupt noch nichts an. Vielleicht irrte sie sich dennoch.

Ohne einen Kuß wollte er nicht gehen.

Aber Frieda wich zurück. Widerlich kam er ihr heute vor, so gern sie ihn sonst gemocht hatte. Pfui, dieser gefühllose Mensch, mit seinem gleichgültigen Benehmen, so herzlos; und mit seinem stechenden Tabaksgeruche – – –

»Ich denke, Du hast keine Zeit?« wehrte sie ab.

»Oh, so eine Minute« – –

»Wann schreibst Du mir?«

»Oh, so – morgen, übermorgen, eher werde ich nicht Zeit haben« – –

»Wann schreibst Du an Deinen Vater?«

»Oh, das – das hat noch Zeit« – –

»Nein, das hat nicht Zeit!«

»Oh, also, ich schreibe Dir morgen« – –

»Ich erwarte es bestimmt!« – – – – –

Frieda Eggeling wartete. »Morgen« und »übermorgen« waren vergangen. Der Husar hatte wohl immer noch keine Zeit gefunden.

Die ganze Woche war schon durchhofft.

Frieda schrieb an ihn. Er schien aber immer noch keine Zeit zu haben, auch nicht zu einer ganz kurzen Antwort.

Sie schrieb noch einmal, und zum dritten Male.

Klar stand ihre Not in jedem Briefe, deutlich sagte sie immer wieder, was sie von ihm forderte. Er aber fühlte sich nur geärgert und belästigt; mochte sie doch sehen, wie sie zurecht kam. Was ging's ihn an, warum war sie so dumm? Da hätte er viele heiraten können! Außerdem konnte er jetzt, so lange er Soldat war, wirklich nichts für sie tun, selbst wenn er gewollt hätte. Mochte sie doch vernünftig sein und abwarten, – es war nicht so eilig. Am sichersten ist es immer, wenn man die Mädels hübsch warten läßt, dann beruhigen sie sich schon von selbst.

Frieda gab zuletzt das Schreiben auf. Sie wußte, daß sie keine Antwort bekommen würde.

An jedem Abend lag sie weinend im Bette. Aber es merkte niemand, denn sie weinte erst dann, wenn ihre jüngere Schwester eingeschlafen war.

Des Morgens war Frieda blaß und müde. Zum Frühstück aß und trank sie nichts, weil sie stets erbrechen mußte. Das durfte niemand merken; sie wollte sich nicht verraten.

Sie war einsam und verlassen. Wie war das möglich? Sie war doch in ihrem Elternhause?

Das ist die schwerste, elendeste Einsamkeit, wenn ein Kind im Elternhause sich verlassen fühlen muß.

»Frieda hat die Bleichsucht«, erklärte Frau Wilhelmine mit überlegener Sicherheit eines Tages ihrem Gatten. »Ich habe sie auch gehabt, als ich so alt war«.

Wilhelm Eggeling betrachtete seine Tochter, was er sonst nie tat. Er hatte fast nie ein offenes, fröhliches Vaterwort für seine Kinder; statt dessen las er ihnen am frühen Morgen Bibelsprüche vor.

In Bezug auf Krankheiten und Gesundheitspflege hielt er sich für außerordentlich sachverständig, weil er vor einundzwanzig Jahren einmal Hufelands Pastoralmedizin, aus dem Jahre 1852 stammend, durchgelesen hatte. Nun wußte er Bescheid; es war ja ganz einfach. Und er bildete sich seit der Zeit ein, er wisse mindestens ebenso viel als jeder Arzt.

»Ja, Frieda hat die Bleichsucht«, sagte er.

Dabei nickte er wohlgefällig und sachverständig und war ganz stolz auf sein fachmännisches Urteil. »Es ist doch gut«, dachte er, »wenn man sich mit allen Wissenszweigen eindringend beschäftigt hat. Den Arzt kann man auf diese Weise sparen!«

Laut setzte er hinzu:

»Sie muß viel spazieren gehen!«

Es klang sehr gedankenschwer. Er fühlte die Verpflichtung, auf Grund seiner glänzenden Diagnose nun auch einen sachgemäßen Rat erteilen zu müssen.

Frieda schwieg, schlief morgens zwei Stunden länger und ging nachmittags zwei Stunden allein spazieren.

Schon war es Herbst geworden, und von jedem Baume, der an Friedas Wege stand, fielen täglich tausend Blätter. So hoch schätzte Frieda die Blätterzahl. Sie ging täglich denselben Weg, sah dieselben Bäume und sah, wie sie täglich stiller und kahler wurden.

Ja, ganz still waren schon die Bäume geworden; sie hatten nichts mehr zu sagen in dem kalten Herbstwinde. Es kamen keine Vögel mehr, mit denen sie sprechen konnten. Mit keinem Sonnenstrahle mehr konnten sie spielen und singen.

Zuweilen gibt es auch Menschen, mit denen die Bäume sprechen können, aber solche Menschen sind sehr selten. Man kann sie leicht im ganzen Lande zählen, aber sie sind schwer zu finden. Es sind die echten Dichter, die nur wenige kennen, die nicht in jedermanns Munde sind.

Frieda Eggeling konnte nicht mit den Bäumen sprechen, sonst hätte sie vielleicht den Trost gefunden, den ihr niemand gab.

Sie war ganz still geworden. Auch des Abends weinte sie nicht mehr.

Sie war ganz, ganz einsam.

Wie war das möglich, da sie doch in ihrem Elternhause war?

Von einem Tage zum andern wartete sie auf einen Brief, oder auf irgend etwas, das sich ereignen könnte; sie wußte es selbst nicht, was das sein sollte und sein könnte.

Aber es kam kein Brief, und es ereignete sich nichts.

Zuweilen erwachte das Kind aus seiner stummen Not und stumpfen Angst und dachte, sie wolle ihrer Mutter alles sagen. An einem stillen Sonntagabend wollte sie zu ihr gehen, wenn es dunkel in der Stube war, wenn niemand sonst dabei war.

So schön, so selig dachte sie sich das!

Ganz zutraulich und sanft wollte sie ihren Kopf in ihrer Mutter Schoß legen, wenn ihr auch die Mutter niemals gesagt hatte, daß sie einst im Mutterschoße empfangen und gewachsen war.

Ach, wie lieb hätte sie dann ihre Mutter gehabt, wenn sie einmal so mit ihrem Kinde gesprochen hätte!

Nun wußte sie es freilich, aber es war zu spät.

Aber dennoch wollte sie dann die Augen schließen im Schoße der Mutter, die Augen, die so trüb und rot waren vom Weinen und von aller Not, und die doch einst fröhliche, offene, fragende Kinderaugen gewesen waren, so wie alle andern!

Wehe den Eltern, die den fragenden, klaren Kinderaugen keine Antwort geben!

In der tröstenden Stille des Sonntagabends wollte sie dann langsam und leise zu der Mutter sprechen. Etwa so:

»Mutter, liebe Mutter!«

Dann sollte eine lange Pause kommen, in der die Mutter mit guter, lieber Hand Haar und Wangen ihrer Tochter streicheln würde. Wie gut würde das den blassen Wangen tun, über die sonst die Tränen hinabgeflossen waren! Die liebe Hand der Mutter würde allen Schmerz wegstreichen; sie würde auch das wirre Haar glätten, das in schlaflosen Nächten zerwühlt war.

Und von dem heiligen, reinen Strome der treuen Mutterliebe sollte immer mehr läuternd in die verirrte Seele der Tochter fließen. Sie würde es fühlen, wie es klärte und wärmte und wohltat. Dann wollte das Kind weiter sprechen:

»Mutter, liebe Mutter, warum hast Du mir das nie gesagt, wie das ist zwischen Mann und Weib? Warum wußte ich nicht von Dir, wie die Menschen wachsen und werden?«

Dann würde die Mutter aufhorchen und vielleicht schon ahnen; aber sie würde nicht erschrocken und lieblos zurückfahren, sondern das arme Kind festhalten und liebkosen. Und das Kind würde immer leichter und freier sprechen können.

»Mutter, liebe Mutter, warum hast Du mir immer nur Märchen erzählt und alles mit trüben Schleiern verhüllt? Warum hast Du mir niemals das edle, reine Licht der Wahrheit angezündet?«

»Mein Kind, mein armes liebes Kind, was willst Du mir sagen?« würde die Mutter weitersprechen, und es würde eine rasche Erkenntnis in ihr aufleuchten von dem, was sie verfehlt und versäumt hatte.

»Mutter, liebe Mutter, warum hast Du mir nicht Wahrheit in Liebe und Liebe in Wahrheit gegeben? Warum mußte ich mich an trübem, qualmendem Lichte wärmen und mein wenig Wissen aus vergifteter Quelle trinken? Nun hilf mir, nun mache gut, was wir beide gefehlt haben«.

Und die gute, treue Mutter würde weinen und trösten mit Liebe und mit Reue, und des Vaters ruhige Sicherheit würde den richtigen Weg finden und das arme verirrte Kind aufheben, halten und von nun an sicher führen, und in allem Jammer würde ihnen die tröstende Erkenntnis aufgehen, daß Verstehen und Verzeihen die echteste Religion ist. Sie würden erkennen, daß die Zeiten wachsen und größer werden, und daß auch die Menschen darin wachsen und größer werden müssen in freiem, siegenden Wissen und offen leuchtender Wahrheit! Sie würden erkennen, daß es nur eine einzige Sünde gibt, die Sünde gegen die Wahrheit, die größte Sünde, sich vor den Lichtflammen der Entwickelung und des Fortschritts absichtlich die Augen zu verhüllen.

Was zweitausend Jahre hindurch gut war, – im zweitausendundersten Jahre kann es ein Verbrechen geworden sein!

Und wenn Frieda so dachte und hoffte, wenn ihre Seele anfing, warm und lebendig zu werden, dann zog plötzlich ein Frösteln und Frieren darüber hin, und ihr Hoffen verflog vor der Wirklichkeit, vor dem, wie sie wußte, daß es in Wahrheit sein würde.

Ach nein, so eine Mutter hatte sie nicht, wie sie in hoffender Sehnsucht gewähnt hatte!

Und das arme Kind wurde wieder stumpf und stumm.

Als der erste Schnee gefallen war, sah Frau Wilhelmine Eggeling ihre Tochter auf dem Hofe stehen und die Hühner füttern. Der Wind wehte gegen das leichte Hauskleid.

Da wurde die Frau blaß, und ein häßlicher Schreck durchfuhr sie. Eine Stunde lang ging sie mit verbissenem Zorn und feiger Furcht im Hause umher, dann rief sie das Kind.

Das stand vor ihr, blaß und schwer, wie eine junge Weide, die im feuchten Grunde steht und ihre Zweige zum Wasser nieder neigt.

Sie fürchtete nichts und sie hoffte nichts.

»Bist Du krank?« redete die Mutter hastig und hart auf sie ein. »Was ist mit Dir? Wie siehst Du aus?«

Das Kind schwieg und dachte wehmütig an seine stillen Träume, denen das Leben niemals Wirklichkeit verleihen würde. Sie dachte an ein armes Mädchen, das wirklich eine Mutter hatte, zu der sie »Mutter, liebe Mutter« sagen konnte. Wie beneidete sie ein solches Mädchen!

Warum hatte sie nicht eine solche echte Mutter?

»Willst Du nicht antworten?« gellte es wieder.

Nein, sie wollte nicht antworten. Wozu sollte sie antworten? Mochte doch die Frau selber sehen!

»Antworte, antworte! Oder – –«

Die Frau trat nahe an das Kind heran und schüttelte es roh an den Armen und an der Schulter; und dabei fuhren ihre Blicke wie giftige Schlangen darüber hin.

Das Kind sah und fühlte; es ging ein furchtbarer Schmerz durch die Seele der armen Schuldigen, ein scharfes Schneiden, wie sie es noch nie gefühlt hatte, und aus jedem Auge fiel eine einzige, große Träne auf den Boden nieder.

Nur eine einzige. Die aber reinigte mehr als ein ganzer Strom.

Sie weinte nicht um ihr eigenes Leid. Sie weinte über ihre Mutter!

War das alles, was eine Mutter ihrem verlorenen Kinde zu geben hatte?

Niemand sah, wie schön das arme, verirrte Kind in seinem niedergebeugten Elend war. Niemand sah, wie ein lichter Schimmer von Heiligkeit sie umschwebte, wenn sie auch in starren Schmerzen stumm und kraftlos dastand; denn sie war dennoch groß und rein trotz ihres Falles und ihrer Niedrigkeit: eine Mutter sollte sie werden.

Aber die zornige Mutter des Kindes sah nichts von dieser hülflosen und rührenden Schönheit. Sie forschte hart weiter:

»Ich weiß es, was mit Dir geschehen ist! Ich sehe es! Herr Christus, wie ist so etwas möglich! Antworte, ob es wahr ist!«

Sie lief in der Stube umher, rang die Hände und rief weiter:

»O die Schande, die Schande! Unser christliches Pfarrhaus!«

Immer fassungsloser und lauter schreiend durchmaß sie die Stube.

»Hilf uns, Herr Jesus! Herrgott erbarme Dich unserer Schande! Antworte, Du, willst Du alles gestehen, Du verkommenes Geschöpf?!«

Mit gefalteten Händen stand das Kind, und mit tief geneigtem Kopfe; so wie es ihr gelehrt war, in christlicher Demut das Haupt neigen – – –

»Du willst nicht antworten? Ich will den Vater holen, der wird Dich antworten lehren! Warte, warte, der wird Dich lehren!«

Die Frau lief hinaus.

»Lehren, lehren!« hallte es wieder und immer wieder in der Seele des Kindes. Warum hatte sie keine Lehre vom Vater empfangen, keine Lehre in stolzem Erkennen? Wo war die Lehre der Wahrheit, der schönen befreienden und stärkenden Offenheit geblieben? Warum war ihr der Vater kein Lehrer für das Leben gewesen? Was fing sie nun mit dem an, was sie gelernt hatte?

Lehren, ja, lehren! Sie kannte die Lehre, die sie von den Eltern empfangen hatte. Und heute kam jede Lehre zu spät!

Zornrot kamen die Eltern polternd die Treppe hinab.

Auf dem Hofe hörte man Gottfried, Gottlieb und Gotthold lustig im Schnee toben; sie wälzten große Ballen, aus denen sie sich ein Haus bauen wollten. Zwischendurch faßten die beiden Ältesten den Jüngsten und rollten ihn durch den nassen Schnee, wobei sie hofften, daß es ihnen gelingen würde, den Kleinsten ebenfalls in einen gewaltigen Schneeballen zu verwandeln, was leider nicht glückte.

Mit fliegender Wut hatte Frau Wilhelmine den Pastor schon auf seinem Zimmer von ihren Entdeckungen unterrichtet.

»Antworte, Du ungeratene Tochter! Schimpf und Schande bringst Du über uns!«

Er schüttelte und stieß das Kind.

»Verstockt bist Du, verkommen und verstockt! Willst Du gestehen?«

Er predigte und rang die Hände wie auf der Kanzel.

»Großer Gott! Habe ich Dich darum aufgezogen in christlicher Zucht und Vermahnung? Keine Worte habe ich gespart und keinen Stock! Gottes Wort habe ich euch eingeprägt von Anfang an, und den Katechismus dazu! Du sollst gestehen, alles gestehen sollst Du!«

Das Kind stand stumm und starr. Sie hörte wie aus weiter Ferne dieses entsetzliche Schreien und Schelten, das gar nicht aufhörte. Erst tobte die Mutter, dann der Vater, – es war eins wie das andere.

»Wenn Du so nicht hören kannst, werde ich Dich züchtigen, daß Du dann wohl reden wirst! Ja wohl, züchtigen, geißeln will ich Dich!«

Mochte es sein! Das war ja immer der Schluß gewesen von allem, die letzte Weisheit der Erziehungskunst!

Und er lief stampfend hinaus und kam zurück mit der schwarzen Bibel, auf die ein goldenes Kreuz geprägt war, und in der andern Hand hielt er einen Stock.

Ja, die Bibel und der Stock!

»Zum letzten Male, gestehe! Gestehe! Ich habe Dich in Frömmigkeit und christlicher Zucht erzogen, ich habe Dich Sittsamkeit gelehrt in Worten und Werken und wollte Dich in Unschuld erhalten – – nun bringst Du Schande über uns und unser christliches Haus – die Schande! Die Schande!«

Er schlug auf die Bibel, laut und schallend, und hielt ihr das schwarze Buch vor das gesenkte, starre Gesicht, wie beschwörend, und drohend schwang er dazu den Stock.

Ja, die Bibel und der Stock! Der Anfang und das Ende der Erziehungskunst!

Immer noch stand das blasse Kind da, mit gefalteten Händen und geneigtem Haupte.

Wenn das liebe, schöne Märchen von den Engeln wahr wäre, so hätten jetzt zu ihr zwei Engel kommen müssen. Sie hätten über dieses Kind geweint, sie hätten es in die sichern Arme genommen und hätten ihm Trost gebracht, weil das Kind so schön und rührend dastand, weil Verzeihen das Edelste ist, und weil das Kind eine Mutter werden sollte.

Aber es kamen keine Engel; die beiden, die bei ihr standen, waren nur ihre Eltern.

Als sie immerfort schwieg, nahm der Mann den Stock und schlug auf seine arme, verlorene Tochter, in der um diese Stunde die Seele starb.

Der Zorn und der Arm waren müde geworden.

»Gehe in Deine Kammer und laß Dich nicht eher wieder blicken, als bis Du Deinen verstockten Trotz aufgegeben hast! Sprich mit Deinem Gott, daß er sich Deiner erbarme! Bete und büße!«

Er hielt ihr die Bibel hin, aber sie griff nicht danach.

»Großer Gott!« jammerten die Beiden und rangen die Hände. Mit Stock und Bibel zogen sie ab, um sich weiter zu beraten, wie sie ihre Tochter fernerhin »erziehen« sollten. Sie verstanden es ja beide so vortrefflich, das Erziehen!

Frieda aber ging nicht in ihre Kammer.

Als es still um sie her geworden war, löste sich die Erstarrung, mit der sie alles hatte über sich ergehen lassen.

Langsam und schwer ging sie aus dem Hause, nachdem sie den Hut und den leichten Mantel genommen hatte.

Auf dem Hofe riefen die Brüder hinter ihr her, die unverwüstlichen, lustigen Brüder:

»Wo willsten hin?«

»Bei dem Schnee kannste doch nicht ausgehen!«

Sie hörte kaum den Schall der Rufe; es war ihr, als ob sie schon weit, weit fort sei.

»Laßt man«, sagte Gottfried zu den Brüdern. »Die antwortet doch nicht. Die ist ja schon lange ganz überköppsch!«

Der Kleinste sah ihr sachkundig nach.

»Sie hat zu viel gegessen. Sie hat gewiß Leibschmerzen. Sie wird zu dick«, meinte er, und alle drei wälzten ihre Ballen emsig weiter.

Die Schwester ging vom Hofe und wendete sich nicht ein einziges Mal um. Und es war doch ihr Elternhaus, das hinter ihr lag. Sie sah sich nicht um nach jenem kleinen Fenster, hinter dem sie geboren war.

Der Vater hatte damals gemurrt, weil es nur ein Mädchen war.

So heißt es immer: »Nur«, »nur« ein Mädchen!

Wißt Ihr alle denn nicht, daß ein gesundes, schönes, kluges Mädchen, eine Frau, eine viel höhere und reinere Menschenform ist als so ein plumper, haariger Mann, der trotz allen Könnens und Wissens seine Hauptmännlichkeit in Unfeinheit, Häßlichkeit, Bier und Tabak sucht?

Ihr versteht es nur noch nicht, Eure lieben Mädchen zu rechten Menschen zu erziehen. Aber es wird die Zeit kommen, in der es nicht mehr heißt: »Nur ein Mädchen!«

Durch den Schnee, immer durch den nassen Schnee ging Frieda Eggeling.

Eine schwere, schwarzgraue Wolke wanderte gewaltig und niederdrückend vom Westen her über das weiße Land, und gerade in diese Wolke hinein wanderte das junge Weib.

Immer tiefer senkte sich die Wolke nieder und rieselte in Schneeflocken herab, dicht und leise.

Früh streckte der Abend seine ruhige Hand über die Wiesen und Felder, durch die der breite Fluß langsam dahinging.

Das junge Weib kam immer näher an den Fluß, immer näher.

Am Ufer saß das verirrte und verlorene Kind. Das Wasser zog und floß, leise, ganz lautlos. Die Schneeflocken fielen hinein und lösten sich auf; im Augenblicke waren sie verschwunden. Wie ein Menschenleben auf der Erde, wie die Erde im Weltall selbst einst sich auflöst.

Sie blickte immer hinein in das Wasser und sah zu, wie die Schneeflocken verschwanden. Zuweilen glaubte sie zu hören, daß es leise aus der Tiefe herauf murmele und rausche, wie ein schönes, tröstendes Lied, tief und eintönig; ein schweres, tiefes Ruhelied von mildem Schweigen und süßem, ewigem Verzeihen in endlosem Nichtwissen.

Immer stille, ganz stille war es am Wasser.

Nichts bewegte sich als der raunende Fluß, nichts kam und ging als die weißen Schneeflocken.

Kein Hauch sonst, kein Wind.

Einmal flog eine dunkle Krähe langsam daher, unheimlich schweigend, beschwerlich, als ob sie eine mächtige Last auf ihren schwarzen Flügeln trüge; dicht strich sie an der Dasitzenden vorbei.

Die wurde so müde, ach, so selig müde.

Dunkler wurde es von Flocken und Wolken und Abend; kalt wurde es, denn ein leiser Frost strich durch das Land und über die Wiese am Strome.

Das junge Weib fing an zu träumen.

Sie träumte von dem, was sie nie erlebt hatte, und was doch das Schönste war, das sie erleben und träumen konnte.

Im schlummernden Traume erlebte sie, daß sie eine Mutter hatte, die ihre Irrung und ihren Schmerz verstand. Sie lag am Herzen ihrer Mutter und weinte sich aus und fand Verstehen und Verzeihen. Und sie träumte von einem Vater, der sie ruhig und stark in die Arme schloß und ihr wissenden Trost gab.

Und immer Schnee und immer Schnee, und immer vergingen die Schneeflocken im Wasser. Es war gerade so wie ein bißchen Menschenleben.

Das Kind am Ufer war in seinen Träumen fest eingeschlafen. Das blasse Gesicht lag tief auf der jungen Brust, und die Hände waren gefaltet.

Dicht und immer dichter fiel der Schnee.

Sie schlief auch noch am andern Morgen, als man sie fand.

Es hat sie niemand wieder erwecken können.

Vielleicht ist doch an ihrem letzten Abend ein Engel zu ihr gekommen.

Vielleicht ist das liebe Märchen von den Engeln dennoch wahr?


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