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12.
Sonntagskind und Sonnengold

Weil Karl Sievers ein Sonnenkind war, wurde seine Seele mit dem Sonnenschein immer fröhlicher.

Sein Glück erschien ihm unerklärlich und unvernünftig; er konnte es fast nicht begreifen. Seine Jugend flog mit seinen Gedanken in die höchsten Höhen, in die weiteste Ferne und in die schimmerndste Zukunft.

Dort im Grasgarten sah er den Teich glänzen. Er dachte daran, daß er einen Kahn auf dem Wasser gesehen hatte und wollte ein wenig rudern. Durch das hohe, saftige, nasse Gras sprang er und schalt lachend auf den Pastor, weil es noch nicht gemäht war.

Er fand den Kahn halb voll Wasser und schüttelte bei seinem Anblicke den Kopf; dann ging er in weitem Bogen um den Teich herum und kam zuletzt in die Nähe der Lindenlaube, die ihn anlockte wie ein glückversprechendes Gedicht. Die Sonne schien gerade in den Eingang der Laube hinein, und es war ein traulicher, gedämpfter Glanz unter dem dichten Blätterdache.

Karl spähte in den Garten, aber er sah niemand.

Er hoffte, Grete solle ihn suchen; er wollte sich gern in der Lindenlaube finden lassen, die ihm am letzten Sonntag so viel Schönes gegeben hatte.

Minutenlang stand er so und hörte nichts, außer dem leisen Ton der Tropfen, die von den breiten Blättern fielen.

Die Sonne schien durch den Eingang der Laube bis auf die nasse Holzbank. Karl zog seinen Mantel aus, legte ihn auf die Bank und setzte sich darauf; er stützte den Kopf auf Hand und Knie und fing an zu träumen. Schon war es ihm, als ob ihn leichte Wolken und Schleier umzögen, da hörte er plötzlich ein leises Rufen, einfach und ruhig, aber doch mit tiefer Sehnsucht:

»Wo bist Du?«

Mit dem Träumen war es nun vorbei.

»Grete!« rief er lauter als es wohl nötig gewesen wäre, um dem leisen Rufe zu antworten.

Sie kam, und im vollen Sonnenglanze hielten sie sich in den Armen. Es war ihnen noch neu, und deshalb sah es ein wenig ungeschickt aus.

Zuerst sprachen sie nichts; sie schauten sich immerfort in die Augen, als ob sie dort die größten Wunder des Lebens entdeckt hätten und in der schimmernden Tiefe nach noch größeren suchen wollten. Leise strich Karl mit einer Fingerspitze über Gretes weiche Wange, oder er faßte leicht an ein Ohrläppchen, das so wundervoll zierlich gerundet und leicht gerötet war.

Was für liebe, herrliche Entdeckungen machten sie da alle beide!

Was für einen guten, schönen Mund hatte Grete!

Ein leichter Kuß flog darauf, und gleich danach ein schwerer und langer, sehnsüchtig und dankbar zugleich. Dabei fing es in den jungen Seelen an zu singen und zu brausen, und die Herzen begannen rasch zu klopfen.

Bald saßen die beiden – sie wußten selbst nicht wie es kam – in der Laube auf der Bank, und Grete fand einen lieben Platz auf den Knieen ihres Freundes, der seine Arme um sie schlang, weil er sicher fühlte, daß er nichts Schöneres und Besseres tun konnte.

Weil er sie nun so fest hielt, mußte sie sich immer mehr an ihn schmiegen, damit es nicht scheinen könne, als ob sie sich seiner zärtlichen Liebe erwehren wolle, und so legte auch sie ihre Arme um seinen Hals und blieb ganz nahe mit ihrem Gesichte an dem seinen; sie konnten deshalb immer noch nicht viel sprechen, sondern nur die roten Lippen aufeinander legen.

Vor der Sonne waren keine Wolken mehr; sie verschwendete ihr schönstes Gold an die beiden in der Laube, und es war darin ein wundersamer Glanz von Liebe, Glück und Sonnenstrahlen.

Von alle dem wurde es ihnen immer heißer, und sie wußten kaum noch, was sie sich tun sollten vor Liebe und Sehnsucht. Aber das eine wußten sie sicher, daß die Erde und das Leben noch niemals so schön gewesen waren, und das eine konnten sie unbewußt nicht begreifen, wie es Menschen geben konnte, die solch' ein Glück nicht kannten und dennoch lebten.

Lange saßen sie so in süßer und schwerer Liebesnot, der sie sich ohne Furcht hingaben, weil sie so jung und gesund und blühend waren; im guten Pfarrhause aber ahnte man nichts davon. In der Wohnstube fehlte Grete, und in der Giebelstube wurde Karl vermißt.

»Man hat mich verlassen, weil mich der holde Schlaf überwältigt hat«, knurrte Großvater Schulte und stapfte die Treppe hinunter. »Das Wasserwerk wird im Garten sein, weil der Regen aufgehört hat. Post nubila Phoebus!«

Als er von der Tür aus in den Garten und nach dem blauen Himmel schaute, trat er den immer noch schlummernden Stinkespitz auf den Schwanz. Mit einem erschrockenen und unwilligen Tone fuhr der Hund auf, klopfte aber gleich darauf entschuldigend mit seinem beleidigten Schwänzlein, als er bemerkte, daß Großvater Schulte der absichtslose Beleidiger war. Aber auch mit des Hundes Ruhe war es nun vorbei, und mit munteren Sprüngen lief er vor dem schwer dahinwandelnden Pfarrherrn den Gartenweg entlang. So kam es, daß Stinkespitz plötzlich mit freudigem Gebell auf die Liebenden in der Lindenlaube losfuhr und sie zum schnellen Aufstehen brachte; so kam es, daß Großvater die Aufgeschreckten nahe aneinander gedrängt und Hand in Hand in der Laubenöffnung im Sonnenglanze stehen sah.

Es war ein schönes Bild, das seine alten Augen genossen, wenn es auch seine alte, gute Seele noch nicht gleich verstand, und es erschien ihm so überraschend und ehrfurchtgebietend, daß er sich nicht anders zu helfen wußte, als daß er mit dem Kopfe nickte und zum Gruße mit der Pfeifenspitze nach dem Samtkäppchen stieß.

Nicht jede Liebe hat so viel Glück wie die der beiden in der Lindenlaube, daß sie von einem Hunde angebellt wird, der in Wirklichkeit harmlos ist, und von einem Alten entdeckt, der das Leben und die Jugend fröhlich und richtig ansieht.

Für gewöhnlich wird die junge Liebe von einem wirklichen Stinkespitz angebellt und von irgend einem Alten in Grund und Boden hinein- und auseinanderphilosophiert, bis nichts mehr übrig bleibt als ein wenig Philistervernunft und allenfalls ein standesamtlicher Trauschein.

Großvater Schulte machte kehrt und sagte leise:

» Eros, anikate machan! Eros, Allsieger im Kampf! Es zieht durch meine Seele jener Tag, als ich mit meiner Luise zum ersten Male Hand in Hand stand. Es war auch in einer Laube, keiner Lindenlaube, jedoch einer Jasminlaube. Der schwere Duft hatte uns den Rest gegeben, und Luise war zum ersten Male ganz hingebend und weich geworden.«

Mit solchen Gedanken in sich und mit mächtigen Dampfwolken um sich zog er dann vor den beiden her, die ihm in das Haus hinein folgten, nicht etwa wie ertappte Sünder, sondern in fröhlichem, sichern Mute. Große Opferwolken brachte das dankbare Alter der blühenden Jugend, die dem Leben die wahre Unsterblichkeit verleiht und damit auch das Alter ehrt.

Sogar der Hund ahnte, daß in der Laube etwas ganz besonderes vor sich gegangen sein müsse, und ging deshalb mit nachdenklicher Ruhe dicht hinter dem Fremden her, dessen Anwesenheit im Pfarrhause ihm bis jetzt allerdings ziemlich zwecklos erschienen war.

Den beiden aus der Lindenlaube wollte es in der Wohnstube am Familientische immer noch nicht recht gelingen, die richtige Stellung und Haltung zum wirklichen Leben wiederzufinden; sie ersahen alles wie durch einen silbernen Nebel glänzend, und hinter dem Nebel schimmerte die herrlichste Felsenburg des Glückes, die ihnen nicht sehr weit, durchaus nicht unnahbar erschien, mit zahllosen großen Fenstern, aus denen sich so hell in das Leben hineinschauen lassen würde, und mit vielen Winkeln, Erkern und Türmen, in denen so viel heimliche Freude wohnen sollte, wie sie noch niemals in einer Lebensburg aufgeblüht war.

Unbegreiflich war es ihnen, daß die drei Alten in der Stube über irgend etwas so alltäglich und gleichgültig reden konnten, und daß sie selbst dann schließlich ebenso ruhig über das Alltägliche mitsprachen, dabei immer in ihren Worten nach einem geheimen Einverständnisse suchend.

Einmal kam der alte Lehrer des Dorfes in die Stube, der Kantor Watzmann, der den Pastor in irgend einer Angelegenheit fragen wollte, und Karl sah mit vergnügtem Erstaunen den gewaltig dicken Kopf des beleibten Mannes, auf dem zum Überflusse noch lange und wirre Haare eine wahre Hunnenschlacht in tollem Getümmel aufzuführen schienen, während das glatte, bartlose Gesicht mit dem außergewöhnlich breiten Munde strotzend glänzte.

Der Kantor Watzmann war einer von der alten und ländlichen Art, die der verruchte Modernismus noch nicht in seine spitzen Krallen genommen hatte. Er hielt sich fern von den Bestrebungen seiner modernen Amtsgenossen, die sie so vielseitig als Haupt- oder Nebenbeschäftigung treiben. Er war weder Anhänger der Homöopathie noch der sogenannten Naturheilmethode oder eines andern infektiösen Tumors im Leibe der Heilkunde; er war noch nicht einmal Impfgegner. Er züchtete weder Kaninchen noch Hühner noch Bienen und hielt keine Wandervorträge über Obstbau. Von Theosophie hatte er keine Ahnung, um Politik kümmerte er sich schon längst nicht, er erfand keine neuen Schulbänke, wütete nicht gegen den Alkohol und fühlte sich nicht verpflichtet, seine Schüler über irgendwelche kitzliche Angelegenheiten »aufzuklären.« Er war wie der Elephant von Senegal, »dem ist das alles ganz egal.«

Er hatte stets gestickte Morgenschuhe an und spazierte meist oben auf den Schulbänken umher, die noch fest und breit und nicht mit tausenderlei Klapp- und anderen unheimlichen Sitzen eingerichtet waren. Weil er Ellen Key nicht gelesen hatte, schwang er von oben herab den langen Rohrstock wie ein Cowboy seinen Lasso. Er verarbeitete in seinem großen Munde gewaltige Mengen von Kautabak und spie braun in hohem Bogen über die flachsblonden Köpfe weg. Im Grunde genommen war er jedoch ein trefflicher Lehrer und brachte den Kindern die Uranfänge des vorgeschriebenen Wissens wenigstens gründlich bei. Von seines Wissens elementarer Fülle vollkommen durchdrungen, huldigte er auch in seinem Hause dem unfehlbaren Tone, der keinen Widerspruch duldet, und seine seelengute Frau, die von allen Dorfkindern Tante genannt wurde, saß stumm, dürr und trocken wie ein armseliger Bückling, der drei Tage in der Sommersonne gelegen hat, wobei ihm das letzte Restchen Fett ausgebraten ist, in einem Winkel ihres saubern Stübchens, nähte, strickte und spann, wie aus Märchenzeiten in die neue Zeit hinübergerettet.

Es war der guten Tante Watzmann in ihrem langen Zusammenleben mit dem fossilen Pädagogen noch nicht ein einziges Mal gelungen, ihren Willen durchzusetzen und ein einziges Mal ihrem Manne gegenüber Recht zu behalten, und trotzdem lebte sie noch, was wohl schließlich das Merkwürdigste an der Sache war.

Bei Rautenstrauchs trank der Kantor an jenem Nachmittage willig und gern vier Tassen Kaffee, die ihm fröhlich angeboten wurden; dazu aß er vier große Kuchenstücke. Er teilte sich nach seiner gewöhnlichen gewissenhaften Art die Sache so ein, daß er jede Tasse mit zwei Schlucken und jedes Kuchenstück mit zwei Happen verschwinden ließ. Er hatte genau gezählt, daß er im ganzen also sechzehn Mal den Mund geöffnet hatte. Zählen war seine Leidenschaft: er zählte bei jedem Briefe, den er schrieb, wie oft er in das Tintenfaß tauchte; er zählte, wie oft er nieste, wie oft er täglich gähnte, wie oft er beim Essen auf einen Happen biß; er zählte allsonntäglich die Kirchenbesucher und die, die zu schlafen pflegten, – kurz, was zu zählen war, das zählte er.

Den Kautabak steckte er beim Essen und Trinken in die Westentasche.

Nachdem die Verhandlungen mit seinem Pastor zu Ende waren, ging er hinaus und stülpte sich seinen Hut auf sein Haupt. Auf das Haupt, mit dessen märchenhafter Dicke der Dorfschulmeister im Laufe der Jahrzehnte schon eine große Anzahl von Hutladenbesitzern der Hauptstadt in Nacht und Wahnsinn gebracht hatte, denn es erschien beim ersten Augenblicke ganz unmöglich, für diesen Umfang einen menschenwürdigen Hut zu finden.

Großvater Schulte sog wieder einmal allerlei Jugenderinnerungen aus seiner Pfeife und sah, wie sie im Rauche Form und Gestalt erhielten.

»Wollen wir nicht« ermunterte er seinen Schwiegersohn, »getreu unserm abgeänderten Spruche Pluvius musicae amicus den häuslichen Nachmittag durch Klänge der Schönheit und des Gemütes weihen? Mich wenigstens gelüstet es, meine Laute zu nehmen und ein wenig von Lenz und Liebe zu krächzen.«

Er wandte sich lachend zu Karl Sievers:

»Was meint unser Wasserwerk dazu?«

Karl war mit seinen Gedanken ziemlich abwesend.

»Jawohl, die Laute, o ja, die Laute«, sagte er einigermaßen stotternd, weil er sich gerade wieder in Gretes Anblick völlig vertieft hatte.

Grete sprang auf und kam nach zwei Minuten mit der alten Laute wieder, die durch ein verblaßtes, rosenrotes Band geziert war, das Fräulein Luzie einst in einer schelmisch-dankbaren Stunde daran befestigt hatte.

Der Sänger lehnte die Pfeife an den nächsten Stuhl, zupfte vorbereitend ein wenig an den Saiten und ließ seine Erinnerungen suchend wandern, wobei allerlei Lustiges und Schelmenhaftes in seinen Augen und vor seinen Gedanken tanzte.

»Man lächle nicht mit der berechtigten Überlegenheit der neuen Zeit, wenn ich alte, törichte, brave Lieder singe, die heute kein Mensch mehr kennt. Man bedenke, daß man in sechzig Jahren auch über die Lieder lächeln wird, die heute als die neuesten und schönsten erscheinen.«

Und mit den Klängen der Laute kam die vergangene Zeit herein, und sie sang mit ihrer guten, alten, heisern Stimme, über die doch niemand zu lachen vermochte. Die alte Zeit kam herein, da Großvater Schulte jung war, und auch die Zeit, die noch ein wenig vor dieser lag. Nickend und lächelnd kam sie, ein wenig kindlich, zuweilen auch ein wenig geziert, aber dabei dennoch einfach und schlicht, mit treuherziger Wahrhaftigkeit. Dichter wurden lebendig, die man heute nur noch in der Litteraturgeschichte ein schattenhaftes Dasein führen läßt, und Musiker, von denen sonst fast jeder Ton wie im Geisterreiche verweht ist.

Und zwei saßen dabei und schwärmten in junger Seligkeit, denn Großvater Schulte rührte an ihre Herzen, und voll von gläubiger Andacht hörten sie ein altes Lied, das anfing:

»O wär ich doch des Mondes Licht!«

»Großvater«, sagte Pastor Rautenstrauch nach diesem Liede, »man sollte fast glauben, Du seist sechzig Jahre jünger geworden und in arge Liebesnöte geraten. So natürlich und sehnsüchtig klingt dein Sang!«

»Nun«, meinte der Sänger lachend, »in dieser Umgebung hier ist alles möglich! Ahnt man, weiß man«, wendete er sich an Karl Sievers, »wie ich meine Luise – Sie kennen meine liebe, selige Luise, von der ich die lange Geschichte Nummer achtzehn erzählt habe, Sie erinnern sich – wie ich sie gefeiert habe? Ich werde zum Beweise das ›Ständchen an Luise‹ singen. Man beachte die Anfangsbuchstaben einer jeden Reihe.«

Er sang mit Behagen, und mit wohltuendem Klimpern schloß das Lied; der Sänger sagte:

»Auf ähnliche Weise habe ich auch unsere Sylphide Luzie angesungen; meine Luise hat jedoch das Lied niemals zu hören bekommen, und Luzechen lachte darüber, denn sie war zuweilen außergewöhnlich schnippisch.«

Karl, der an dem Kantus großes Gefallen gefunden hatte, bemühte sich unterdessen, in Gretes Anblick versunken, still und emsig, ein ähnliches Lied mit den Anfangsbuchstaben von Gretes Namen zu dichten, aber er merkte bald, daß ihm das wegen gänzlichen Mangels an Reimsinn nicht gelingen würde und schob deshalb die Angriffe des dichtenden verunglückten Genius weit von sich weg, vielleicht bis zu einer einsamen und passenderen Stunde.

»Man löse mich ab am Klavier, lieber Pastor loci«, forderte jetzt der Lautensänger auf. »Grete, öffne das Klavier, und danach wirst auch Du Deinen Tribut zahlen müssen. Meine Karoline verzichtet dankend als ausübend amusisch, und wie es mit unserem Wasserwerke steht, das weiß ich nicht. Sicher ist es süßer Töne voll, denn die rinnenden und wogenden Wasser sind schon an und für sich Musik.«

Karl schüttelte den Kopf.

»Ich kann nichts«, sagte er kurz und deutlich, was lachend anerkannt wurde.

Der Pastor hub nun an zu singen, fröhlich und ernst, gewaltig und leise, wie es Geist und Sinn der Lieder verlangten. Er sang aus uralten, geschriebenen Liederbüchern, die vergilbte, klingende Schätze bargen, so schlicht und klar, wie sie heute nur noch ein reines, kindliches Gemüt finden und erfinden kann.

Konradin Kreutzer sang zusammen mit Ludwig Uhland und Heinrich Stieglitz: »Lenzverjüngung«, »Maigruß«, »Friedensport« und das unendlich schöne, rührende »Traurige Turney« von Adalbert und seiner Adelheide: »Die liegen zusammen in kühler Erd', ein Stein bedecket beide.«

Ein wehmütiger Schauer überlief die beiden jüngsten bei diesem Liede, und er wich erst wieder, als der gute Zumsteeg sang und von Christian Schulz, Keller und Karl Bank abgelöst wurde.

»Es sind keine Reizmittel für den modernen Konzertsaal, keine Kunststückchen, mit denen irgend ein Sängerchen seinen unnatürlichen Gesangsdrill vorführen kann; aber es ist Seele darin, und Gemüt, woran wir heute ja keine Überfracht haben, weil alles nur auf äußern Erfolg und Beifall zielt. Man freut sich nicht mehr an der Kunst, sondern man will nur die Darsteller und die Vermittler kritisieren. Ein armseliger Genuß, ein kümmerliches Vergnügen!«

In dieser Weise öffnete Pastor Rautenstrauch sein Herz.

Als Grete singen sollte, schüttelte sie den Kopf und war durch nichts zu bewegen, an das alte, liebe, ein wenig verstimmte Klavier zu gehen. Sie wußte ganz gewiß nicht, welches von ihren guten, harmlosen Liedern sie hätte singen sollen. Wo in ihr das ganze Leben brauste, da konnte sie sich nicht mit einem Liedchen helfen.

Vom Nachmittage und vom Abend wußten Karl und Grete dann nicht viel mehr, als daß sie sich so viel als möglich mit leuchtenden Blicken angesehen hatten, daß ihre Gedanken sich umrankten, sich suchten und fanden und sich nicht wieder losließen, und daß sie vor gegenwärtigem Glücke und zukünftiger Hoffnung nichts weiter vom Leben und von der ganzen andern Welt wußten.

Karl hatte am andern Morgen nur die Erinnerung an etwas unglaublich Schönes. Er wußte auch noch, daß er noch am späten Abend zwischen den alten Häusern der Stadt und zuletzt auf dem Burgplatze umhergeirrt war, wo der Löwe vor der Burg Dankwarderode steht und gewaltig brüllt, wenn er es vom nahen Dome Mitternacht schlagen hört. Er wußte, daß er den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden von seinem Glücke erzählt und daß er sie gefragt hatte, ob sie jemals ähnliches gesehen hätten. Und die alten Häuser, Schloß und Dom und Löwe hatten geantwortet, daß so etwas wirklich und wahrhaftig noch niemals dagewesen sei.

Da er so gewaltig begeistert war und noch nicht schlafen mochte, war er in irgend eine Weinstube gegangen und hatte eine köstlich duftende Flasche getrunken, die ihn in die höchsten Höhen erhob und sein ganzes Glück an das Unsinnige grenzen ließ.

Grete Rautenstrauch war es am andern Morgen zu Sinne, als ob sie die warme Sommernacht hindurch von lauter Maiglöckchen, Veilchen und Rosen umgeben geschlafen hätte, über denen ein Hauch von frisch gemähtem Grase und grünem Waldlaube schwebte. Ein warmer Sommerregen von Glück und Hoffnung war auf sie und ihre Lebensblumen gefallen, und sie ging wieder mit ihrer Morgenfröhlichkeit in den Garten und ließ sich ihre Lust von den frühen Vogelstimmen nachsingen und vorklingen.

Pastor Adolf Rautenstrauch aber saß schon früh auf seinem Gedankenstuhle und fühlte, es würde eine lange Sitzung geben. Was sich gestern ereignet hatte, das war ihm völlig klar geworden; er wußte nur noch nicht recht, ob er sich darüber freuen solle.

»Es ist fraglos«, gingen seine Gedanken, – »ich will naturwissenschaftlich sprechen, das Plasma, der Keimstoff hat seinen andern Keimstoff gefunden, der zu ihm paßt. Sie ziehen sich beide unwiderstehlich an. Warum soll ich das hindern? Und wie kann ich es hindern? Lieber will ich es zu verstehen suchen und in die rechten Bahnen lenken. Nicht abtöten will ich die schöne Jugend mit ihrer schönsten Kraft, sondern sie lenken und ihr den rechten Weg weisen zur vollen Entfaltung und zu vorwurfsfreiem, harmonischem Glücke!«

Und während sein freier Geist so auf Bahnen wandelte, die seine Amtsbrüder sonst nur mit stiller Angst und stolperndem Grauen betreten, weil sie schon beim dritten Schritte ausgleiten und auf der Nase liegen, klopfte es an die Stubentür und Grete kam herein.

Der Pastor wußte, was sie wollte. Schon als ganz junges Kind war sie stets am nächsten Morgen zu ihm gekommen, wenn irgend etwas Besonderes ihr junges Herz bewegte. Ihr Vater war ihr Freund, bei dem sie Antwort auf alle Fragen fand, der für alle Zweifel und Sorgen einen heilenden Balsam wußte, wenn er auch nicht immer lind und sanft war, dieser Balsam, sondern zuweilen scharf in die kleinen Wunden hineinbrannte.

Grete pflegte dabei immer auf seinem Schoße zu sitzen; er hatte sie gestreichelt und sie mit allerlei zärtlichen Scheltworten benannt, da ihm die gewöhnlichen Kosenamen für seine oft etwas polterige Art nicht genügten.

Heute stand Grete erst eine Minute am Fenster. Es war alles so ganz anders als sonst, außen und innen.

Da rief der Vater tief und leise:

»Grete!«

Und sie kam und setzte sich auf seine Kniee.

Sie waren still, aber obgleich sie beide kein Wort sagten, sprachen sie dennoch in Gedanken fortwährend miteinander; sie wußten, was ein jeder von ihnen dachte, weil ihre Seelen sich so nahe standen.

Und immer weiter ging das stumme Zwiegespräch. Einmal dachte der Pastor laut und sagte:

»Du kennst ihn so wenig!«

Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sagte:

»Du weißt doch, was jedem Menschen bis in den letzten Grund seiner Seele sieht? Von Dir habe ich die Lehre empfangen. Du selbst hast es mir gesagt.«

Leise antwortete er, wie in die Ferne blickend, wobei er fast ganz jung aussah:

»Die Liebe«.


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