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16.
Die schöne Fremde und die Meerfahrt

Karl Sievers hatte auf seiner Reise nicht viele Briefe nach Drömlingen geschrieben; es war nicht seine Art, immerfort seine Seele so auf das Papier zu legen und fortzuschicken. So hatte ihm auch Grete Rautenstrauch nicht viel geantwortet. Sie konnten, wie es schien, beide nicht den richtigen papiernen Ton finden, weil sie sich nur im warmen Leben aneinander gedrängt hatten. Was sie schrieben, war nicht überschwänglich und nicht gefühlsselig, aber ehrlich und treu, und eine feste, zähe Zuneigung glänzte aus jedem Worte.

Karl war auf seiner Fahrt weiter gekommen, als es anfänglich bestimmt gewesen war. Kabelnachrichten waren hin und her geflogen und hatten ihm die Wege gewiesen.

Vielseitig und erfahren war er geworden, und ganz weltmännisch. Neues und Gutes, Schönes und Kluges hatte er aufgenommen wo immer er nur konnte. Wo ihn hier und da das Schlechte und Böse streifte, da wich er aus, stieß es kühn bei Seite oder wies es mit scharfen Blicken zurück. Er konnte sich davor hüten, weil er wußte woher es kam; er kannte all die bunten, trügerisch glänzenden Gestalten. Seine Eltern hatten ihm Wissen und Wahrheit gegeben; sie hatten ihm nicht auf sein Fragen einen beruhigenden, weichen Gummilutscher in den Mund gesteckt, damit er nicht weiter fragen solle. Und sein Vater hatte ihm Ehre und Festigkeit gegeben, und einen geraden, kühnen Blick, der vor nichts und vor niemand zu Boden sieht.

Einmal hatte Karl irgendwo lange an irgend einem Fieber krank gelegen; er wußte selbst nicht, wie das möglich gewesen war.

In einem wunderlichen Krankenhause war er. In seinen Fieberträumen lebte Grete, grünte die Lindenlaube und klang das Abschiedslied vom letzten Abend.

Die fremde Wärterin und Pflegerin lauschte den Worten, die sie nicht verstand. Sie betete und wachte, daß der blauäugige Deutsche mit den geraden langen Gliedern, die so fest von seinen Muskeln strotzten, dem Fieber nicht erlag.

Es hatte keine Not; der half sich schon selbst durch!

Monatelang hatte er nicht schreiben können, und in seine Rückreise waren auch allerlei andere Querwege und Hemmungen gekommen.

Als er in der Genesung lag, kam ihm alles so traumhaft und verschleiert vor, was er bis jetzt erlebt hatte. War es ein schönes grünes Märchen, daß er früher einmal in Deutschland in einem grünen Pfarrgarten glücklich gewesen war?

Es war, als ob vieles in ihm ausgelöscht sei.

Hatte die Sonne des Südens es weggebrannt?

Hatte die Krankheit sein Gehirn ermattet?

Und doch, welch' eine herrliche Sonne hier!

War diese hier nicht eine andere Sonne, eine heißere, lockendere als die, die einst am Sonntagnachmittag in die Lindenlaube hineinschien? War es nicht schöner, immer hier in dieser heißen, quellenden, sich anschmiegenden Luft zu liegen? Er liebte so unendlich das Licht und die Wärme.

Wie frostig mußte es jetzt in Deutschland sein!

Aber nein, – gesunde Gedanken kamen wieder. Hier hatte es ihn krank gemacht.

Und die weichen, schlaffen Gedanken gingen weg, je mehr seine Gesundung vorwärts ging.

Grete Rautenstrauchs Bild, das ihm zuweilen wie verblaßt erschienen war, färbte und formte sich wieder und stand bald wieder vor ihm in reiner, gesunder Schönheit.

Immer klarer und leuchtender wurde es, je mehr er sich wieder der Heimat näherte. Während der Meerfahrt wehte ihr Geist über das weite Wasser, und er nahm ihn überall auf. Sie war so frisch und stark, herbe und doch so weich wie die reine Wasserluft.

Bekanntschaften suchte er nicht auf dem Schiffe. Er saß im Sonnenschein auf dem Verdeck, dachte, träumte und betete die Unendlichkeit an, die er zu erleben glaubte. Seine Gedanken gingen oft in hohen Wellen, und er fand sich auf dem Meere mit manchem ab, das ihm vorher unklar und drückend erschienen war. Viel Ballast senkte er in die dunkle, lebendige Wassertiefe, die Urmutter alles Lebens, die ihn gütig lächelnd in ihre Unendlichkeit aufnahm.

Gute Bücher halfen dem Sinnenden weiter.

Bei den Mahlzeiten saß seit dem dritten Tage der Meerfahrt ein schönes Fräulein in reiferen Jahren neben ihm. Sie war fast so groß als er; zu groß beinahe für eine Frau. Da er in dem heißen Lande gelernt hatte, nach schönem Frauenreiz zu sehen, den er auch vorher schon nicht verachtet hatte, ahnte er, wenn er sie ansah, ihre wunderschönen Arme und ihre herrliche Brust.

Ihr Gesicht war von deutscher Reinheit und von germanischem Stolze. Sie war weiß und blond, ruhig und vornehm.

»Eine Walküre«, dachte er.

Sonst kümmerte er sich nicht um sie; er kannte nicht ihr »Woher« und »Wohin«, er wußte nicht, ob sie allein reise, weshalb sie fuhr, wer sie war.

Sie sprach immer mit einer starken, wundervoll klangreichen Stimme, aber doch zurückhaltend, nicht laut. Da er niemals näher auf irgend ein Gespräch einging, hatte sie noch nicht versucht, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen.

Oft sah sie ihn lange und mit zurückgehaltener Freiheit an.

Als sie einmal den Tropenwald nach seiner Meinung über Gebühr lobte, sprach er länger und wärmer als sonst von der heiligen Schönheit und dem wundervollen Zauber seines starken, niedersächsischen Waldes. Sie lauschte, ohne zu widersprechen, und es ging ein warmes Leuchten von ihren großen, dunkelblauen Augen aus, sie heftete ihre Blicke fest auf sein blaßbraunes Gesicht.

Da wurde er fast verlegen und sagte abwehrend:

»Warum sehen Sie mich so an?«

»Soll ich es nicht?« antwortete sie mit bittendem Erstaunen.

Da schwieg er stille. Aber seine Gedanken gingen aus dem Walde in den Drömlinger Pfarrgarten. Vor seinen Augen wuchs auf der Wasserfläche die Lindenlaube auf; er saß darin auf der Bank und wartete.

Am nächsten Nachmittage, als er wieder träumend auf dem Verdeck saß, kam die große Blonde und setzte still ihren Stuhl neben den seinen. Sie sprach nicht, sondern sie nickte ihm nur zu. Sie waren nun beide gute Bekannte, denn sie waren beide Deutsch und liebten das, was der starke Wald in der Heimat rauscht und raunt.

Karl dachte immer an seinen Wald. Was wohl war ihm das bißchen Meer und das bißchen Schiff, und das, was er sonst in der Fremde da draußen gesehen hatte! Achten konnte er das wohl, aber lieben konnte er nur seinen Wald.

Sie blickten beide in das Sonnenspiel auf dem Wasser. Es flimmerte vor ihnen und um sie. Wollte es auch in ihnen anfangen zu glitzern?

»Warum sehen sie immerfort in das Sonnenlicht?« fragte er schließlich.

»Ich weiß nichts Besseres«, antwortete sie, ohne ihn anzublicken.

»Ja, es ist schön, in die Sonne zu sehen. Aber man muß auch etwas dabei denken. Was denken Sie dabei?«

Sie richtete sich gerade auf und sah den Frager ein wenig herausfordernd an.

»Ich singe in Gedanken.«

»Singen Sie doch laut!«

»Nein, das will ich nicht. Aber sagen will ich Ihnen, was ich singe.«

Sie hob die schmiegsamen, schönen Arme und wendete das Gesicht wieder ganz dem Lichte zu. Halb singend, halb sagend tönte es, voll und klingend:

»Heil Dir, Sonne, heil Dir, Licht! Heil Dir, leuchtender Tag!«

In Freude schrak er fast zusammen bei diesen hohen Worten, denn es durchbebte und durchflutete ihn. Er sah sie an und fühlte einen siegreichen Zauber, der von ihr ausging.

Er dachte plötzlich, ohne daß er es wollte, an seine frühe Kindheit zurück: so war ihm zu Sinne gewesen, als er zum ersten Male in einer hohen, weiten Kirche war, wo die Orgel mit leiser, zurückgehaltener Kraft auf seine Kinderseele einströmte. Er hatte damals nicht nachgeben wollen, denn er wehrte sich stets gegen alles, was, ihn binden wollte, aber sie hatte ihn dennoch in ihren Bann gezwungen. Am nächsten Sonntag war er wieder hingegangen in die Kirche, um die starke Orgel mit ihrem Brausen und Flöten singen zu hören.

Als das Mädchen seinen erstaunten, nachgebenden Blick sah, wiederholte sie noch einmal, leiser, aber eindringlicher:

»Heil Dir, leuchtender Tag« ...

Und die schönen, runden Arme hoben und senkten sich mit zauberhaften Bewegungen.

»Was ist es, was Sie sagen?« fragte er.

Da kam ein innerliches Lächeln über sie, weil er das nicht kannte, was sie gesagt hatte.

»Ein reiner Tor«, dachte sie, und laut antwortete sie:

»Kennen Sie nicht, was Wotans Tochter singt, als sie wieder die Sonne sieht, nach langem Schlafe? Haben Sie noch nicht Brünnhildes Gruß gehört? Den Gruß an Sonne und Siegfried?«

Er besann sich still und lange, und dann stieg eine leise klingende Erinnerung in ihm auf; eine Erinnerung mit sehnenden, feierlichen Geigenklängen und vollem Harfenton. Was klang schöner als »Sonne und Siegfried«? Schöner war nichts! Was war ihm dagegen »Mondscheindämmerung und Golgatha?«

Aber wie lange, wie lange war das schon her, daß er von Sonne und Siegfried singen hörte?

Und jetzt hier, auf Schiff und Meer, wer war die, die neben ihm saß und in das Sonnenlicht hineinsang? Ja, sie war eine Walküre, eine hohe, schöne Wotanstochter, die Walküre auf der Meerfahrt! Warum sang sie diesen Sang, und warum sah sie ihn so an?

Immer stärker wurde das Sonnenleuchten auf dem Meere, und am blauen Himmel, der ganz ohne Gewölk wie aus Erz stand. So blau wie der Himmel auf dem Schilde des Achilleus, wie ihn Homer beschreibt.

Er sah fest in den Himmel hinein. Bald aber blendete ihn das Licht, und er sah weg und beschattete die Augen mit der Hand.

Über sein geblendetes, minutenlanges Schweigen ging es wie ein lächelnder Zorn durch ihr Gesicht, und sie stand auf und ließ ihn allein.

Am nächsten Morgen kam sie dennoch wieder dorthin, wo er saß. Sie waren beide in fröhlicher Morgenstimmung und zum Scherzen aufgelegt.

»Wenn Sie so vor mir stehen, wie jetzt«, sagte sie einmal, »so hoch und schlank, dann wünsche ich, Sie und ich, wir lebten vor tausend Jahren, und ich könnte Sie sehen, wie Sie als Siegfried im Walde ständen, dem Vogel lauschten und sich nach Brünnhilde sehnten. Ich glaube, wir beide sind tausend Jahre zu spät geboren!«

Er lachte ziemlich laut:

»Was für wunderliche Einfälle haben Sie! Ich denke, Sie sind ein modernes Weib? Ich halte mich lieber an die Gegenwart!«

»Wenn Sie es doch täten«, entgegnete sie rasch.

Das verstand er wieder nicht und zuckte die Achseln.

Unvermittelt, mit einem ihrer beliebten Gedankensprünge, begann sie dann von ihrem Aufenthalte auf Java zu erzählen, von der palmengrünen Ebene Buitenzorgs, wo der Tjiliwong fließt, – mit halbem Ohre nur hörte er nach all' den fremden Namen. Sie erzählte, wie sie wochenlang fast täglich den botanischen Garten in Buitenzorg besucht habe, wie sie sich nicht trennen konnte von seiner strotzenden Herrlichkeit, wie sie immer wieder hingezogen wurde zu dem gewaltigen Baumgange der Kanarienbäume, deren Gipfel mit den unglaublich schönen Schlingpflanzen ein sinnenverwirrendes grünes Dach bildeten, das nicht einmal die Tropensonne durchdringen konnte. Dort war Rettung gewesen vor dieser fortwährenden, lähmenden, bedrückenden Sonnenfülle.

Einmal sagte er dazwischen:

»Es ist keine deutsche Sonne. Das Licht in der Heimat gibt mehr, wenn auch nicht in so verschwenderischer Fülle.«

»Sie sind einseitig«, wendete sie darauf ein.

»Nein, ich weiß überall das zu würdigen was schön und gut ist.«

»Das ist ein mutiger, selbstbewußter Ausspruch, den Sie aber vielleicht sehr selten in die Tat und in die Wirklichkeit umsetzen. Zu solcher Erkenntnis sind Sie außerdem noch viel zu jung. Sie brauchen einen Lehrmeister oder noch besser – eine Lehrmeisterin!«

Er lachte:

»Bitte, wenn es Ihre Zeit erlaubt!«

Von der Zeit ab sprachen sie viel und ernsthaft miteinander, und die kluge Walküre gab ihm viel von ihrem Lebenswissen. Auch aus ihrem Leben selbst erfuhr er mancherlei. Sie war Bühnensängerin und hatte sich viel Gold ersungen; eben war sie frei und hatte den kleinen Erdball bereist.

Fräulein Hildegard hatte ihrem neuen Freunde eine kleine Reihe von Büchern gegeben, die sie bei ihrem Gepäck hatte. Er las eifrig darin; es war in einigen viel die Rede vom Aufschwung der Frau und von kommenden, schöneren Zeiten. Er las mit gläubiger Andacht, denn er hatte einen schönen Sinn für alles, was höher und besser in schimmernder Zukunft erglänzte. Und nicht wenig von dem andächtigen Hoffnungsglauben wendete sich auch an die, die ihm die Bücher gegeben hatte.

Wenn er gar zu viel schwärmte und zu leicht glaubte, kam sie nicht selten mit ihrem ironischen Lebenswissen dazwischen und brachte seine Überschwänglichkeit auf das rechte Maß.

Einmal stritten sie sich um die modernen Großstadt-Aestheten und Überdichter, die Sensitiven, die Stimmungsmenschen.

»Ich kenne diese Geister«, lächelte Fräulein Hildegard. »Soll ich Ihnen sagen, wie sich so ein moderner Aesthet geberdet, wenn er es der Mit- und Nachwelt schuldig zu sein glaubt, zu dichten?«

»Ich höre es gern.«

»Er baut um sich herum eine unmenschliche Menge, große Stöße von modernen Zeitschriften, aus denen er sich Stimmung holt. Dazu trinkt er schwarzen Kaffee und Alkohol in wildem Durcheinander. Er rauft sich die ungeschorenen und ungekämmten Haare und raucht Zigaretten, denn er kann nur dann dichten, wenn ihn dichter Qualm umgibt. Wirkliche Menschen in seine Bücher zu bringen, das bringt er nicht fertig; es sind lauter ausgeklügelte Gestalten, deren kleine und größere Stimmungen er mit bedauerlichem Fleiße zerfasert. Er kann nur nach Büchern und aus Büchern dichten, niemals nach dem Leben und aus dem Leben. Deshalb ist auch seine Poesie meist historisch; mindestens aber spielen die Geschichten in Italien, besonders auch im Mittelalter. Statt der Sonne verehrt er das Gasglühlicht, statt der Blume die Zigarette, statt des Waldes irgend eine Häuser-Steinkiste, statt des Vogelsanges irgend einen Menschensingsang oder einen Virtuosen. Er denkt, die Erdbeeren wachsen oben auf den Bäumen, und eine Linde kann er nicht von einer Buche unterscheiden. Von der Weiblichkeit, die er verehrt, will ich lieber schweigen. – Nun lesen Sie, Sie Andächtiger, ein solches Buch von so einem großstädtischen Cliquendichter, oder lieber auf deutsch »Sippschaftsdichter«, und Sie werden merken, daß ich recht habe.«

»Dann möchte ich lieber so ein Buch nicht lesen!« lachte Karl Sievers.

»Tun Sie es dennoch, es ist belehrend und erhöht Ihr Wissen.«

Er gehorchte und lachte dann über das, was er las. Die sensitiven Aestheten imponierten ihm nicht.

»Das sind ja Asphaltdichter«, sagte er. »Ihre ganze Dichterei ist nicht mehr wert, als ein Versuch, Haferspreu auf staubigen Asphalt säen zu wollen. Was soll davon aufgehen und wachsen?«

Oft saßen sie stundenlang nebeneinander und lasen, ohne zu sprechen, aber sie fühlten nicht selten, daß ihre Gedanken sich trafen.

Hildegards hohe Schönheit und ihre freie, kluge Seele folgten ihm in Nacht und Traum.

War es nicht oft, als ob ein dichter Schleier über seine erste Jünglingszeit ziehen wollte? Wurde er erst jetzt, durch diese Reise, durch die schöne Hildegard zum Manne? War nicht alles ein wenig klein und eng, was er bisher getrieben hatte? War die gewaltige Symphonie des Meeres nicht größer, nicht erlebenswerter als jene lieben, schlichten Klänge eines Mozart? Waren Javas Palmen nicht stolzer und schöner als die treuen Eichen seines niedersächsischen Waldes?

Er sann.

Er sehnte sich.

Nein, sein Wald, der war doch schöner! Wie mußte es jetzt dort blühen und treiben, wie mußte es jetzt so grün und frisch stehen, das Feld am Waldesrande, wo Grete Rautenstrauch Blumen pflückte – – –

»Sie denken wieder nicht, Sie träumen, mein Freund! Denken, denken sollen Sie!« unterbrach Hildegard sein Sinnen. Sie sah es ihm wohl an, wo er war, und ihre Blicke bannten ihn zu ihr. Sie nahm seine Hand und hielt sie fest.

Aber ihre Hand fand keinen Gegendruck bei ihm. Er dachte an den letzten Abend in der Lindenlaube des Pfarrgartens.

Unterdessen ging das Schiff weiter auf dem ruhigen Meere, das immer so glatt war wie die Seele eines deutschen Spießbürgers, nur ein wenig tiefer!

Wieder saßen Karl und Hildegard im freien Meereswinde. Hildegard sah ernst in die weite Ferne.

»Noch drei, vier Tage nur, dann müssen wir uns trennen«, sagte sie. »Wir sehen unser Land wieder. Deutschland! Ich weiß, was ich ihm verdanke, aber ich kann nicht immer dort sein. Es ist manches dort so entsetzlich kleinlich, eng und hemmend, und vieles bedrückt mich.«

»Wir arbeiten doch alle daran«, antwortete Karl, »daß wir die Fesseln lockern, den Druck lindern; wir streben danach, daß die Luft freier wehe!«

»Mag sein. Aber nur der wird wirklich Großes an seinem Vaterlande tun, der selbst groß und frei ist. Und an solchen Männern fehlt es!«

»Auch danach streben wir.«

»Viel merkt man nicht davon. Sie selbst zum Beispiel sind nicht frei!«

»Meine Pflicht macht mich frei.«

»Pflicht? Ein Wort, ein künstlicher Begriff ist das. Sehen Sie mich an, ich bin reich und frei! Warum« –

Sie stand plötzlich auf. Stolz und hoch sah sie ihn an:

»Warum wollen Sie nicht mit mir gehen?«

Er blieb ruhig und besann sich eine Weile, denn er verstand den Sinn ihrer Frage nicht gleich. Endlich sagte er:

»Dann wären wir beide nicht frei!«

»Äußerlich vielleicht nicht ganz so, aber innerlich um so mehr. Äußere Freiheit ist nichts, innere ist alles. Ich weiß eins, das den Menschen frei macht bei allem äußern Zwange.«

»Nennen Sie es.«

»Das sagt keine Frau einem Manne.«

»Warum nicht?«

»Weil es die Sitte verbietet. Zum mindesten die deutsche Sitte, der es stets an innerer Freiheit gefehlt hat.«

Karl schwieg und sah weit über die Flut hinweg. Er ahnte nun, was sie sagen wollte, und ein starkes Wehen ging durch seine Seele. Er wußte nicht, sollte es ein Aufschwung oder ein Niedergang werden, was er jetzt in sich spürte. Hatte sie nicht Recht? War es nicht möglich, daß eines großen Lebens lockender Zauber seiner harrte?

Er schwieg aber immer noch und sah immer noch weit über das Wasser hinweg, als ob er irgend etwas suche.

Er merkte, wie Hildegard sich abwendete und langsam von ihm ging.

Es trieb ihn, ihr nachzugehen, aber da fing plötzlich ein leises Lied an in ihm zu singen, ein Lied, das er im Drömlinger Pfarrhause gehört hatte. Es hatte noch nicht einmal Worte, weil es so schnell kam; er hörte nur die Melodie. Sie hatte einen wundersüßen, lockenden, bindenden Klang, und bei aller Zartheit wurde die Weise immer fester und größer in ihm.

Lange sann er nach, und er fühlte immer mehr, daß auch im äußerlich scheinbar Kleinen und Schlichten echte Größe und wahre Hoheit liegen kann. Äußerliches Gebahren und hohe Worte tun es nicht.

Und Hildegard? Er glaubte es nicht, daß sie ihn wirklich liebte. Es war zu viel Bühnengewandtheit in ihr und an ihr. Theaterfeuer. Sie mochte immerhin auf der Bühne und im Leben ihre Rolle spielen. Wenn der Vorhang fiel, war die Glut verbrannt. Wenn das Schiff im Hafen lag, war alles vergessen, was auf hoher See Leid und Lust gebracht hatte. Hildegard war ein Übergangsmensch, wie die meisten in der jetzigen Zeit; als solcher mußte sie verstanden und gewürdigt werden. Ihn aber hatte sie heller sehend und klüger gemacht.

Und das wollte er ihr danken.

Hildegard war am nächsten Tage freundlich, aber zurückhaltender als sonst.

Und dann:

Land, Heimkunft!

Zu einem eigentlichen Abschied kam es nicht; Hildegard wollte diesen wohl absichtlich vermeiden, und Karl suchte ihn nicht.


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