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Der 1. August des Jahres 1830 kam heran. Zehn Jahre waren verflossen, seit ich die Freiheit verloren; achtundeinhalbes Jahr büßte ich von meiner schweren Kerkerstrafe ab.
Es war Sonntag. Wie an den anderen Festtagen gingen wir auf den gewohnten Hofraum. Wir blickten noch von der kleinen Mauer auf das drunten liegende Tal und den Kirchhof hinab, wo Oroboni und Villa lagen; wir sprachen noch von der Ruhe, welche dort eines Tages unsere Gebeine finden würden. Noch setzten wir uns wie gewöhnlich auf die Bank, um zu warten, daß die armen weiblichen Sträflinge zur Messe gingen, welche vor der unsrigen stattfand. Diese wurden in die nämliche Kapelle geführt, wohin wir uns für die folgende Messe begaben. Sie lag dicht neben dem Platze unseres Spazierganges.
In ganz Deutschland ist es Brauch, daß die Gemeinde während der Messe geistliche Lieder singt. Da in dem österreichischen Kaiserstaate die Bevölkerung aus Deutschen und Slawen gemischt ist, und in den Gefängnissen des Spielbergs die größere Zahl der gemeinen Sträflinge dem einen oder dem anderen dieser beiden Volksstämme angehört, so werden dort abwechselnd an einem Sonntage die Lieder deutsch, am anderen slawisch gesungen. Ebenso werden an jedem Sonntage zwei Predigten gehalten, und es wechseln auch hier die beiden Sprachen. Für uns war es jedesmal ein großes Vergnügen, diese Gesänge mit der Begleitung der Orgel zu hören.
Unter den Frauen gab es einige, deren Stimme zum Herzen drang. Die Unglücklichen! Einige waren noch sehr jung. Liebe, Eifersucht und böses Beispiel hatten sie zum Verbrechen verlockt! – Noch tönt in meiner Seele ihr andächtiges Singen des sanctus: Heilig! heilig! heilig! Eine Träne vergoß ich noch, als ich es jetzt hörte.
Um zehn Uhr kamen die Frauen zurück, dann gingen wir zur Messe. Ich sah noch diejenigen meiner Leidensgefährten, welche die Messe auf dem Orgelchore hörten, und von denen wir nur durch ein Gitter getrennt waren; alle blaß, abgezehrt, mühsam ihre Ketten schleppend!
Nach der Messe kehrten wir in unsere Höhlen zurück. Eine viertel Stunde später brachte man uns das Mittagbrot. Wir deckten unseren Tisch; dies geschah, indem wir ein Brettchen auf denselben legten und nach unseren hölzernen Löffeln griffen: da trat der Unterinspektor Herr Wegrath in unser Gefängnis ein.
»Ich bedaure,« sagte er, »Sie bei Ihrer Mahlzeit stören zu müssen, aber haben Sie die Güte, mir zu folgen; der Herr Polizeidirektor ist da.«
Da dieser nur wegen lästiger Angelegenheiten zu kommen pflegte, um Durchsuchungen und Verhöre anzustellen, so folgten wir dem braven Inspektor in ziemlich übler Laune bis ins Audienzzimmer.
Dort fanden wir den Polizeidirektor und den Oberinspektor; und der erstere machte uns eine Verbeugung und zwar höflicher als gewöhnlich.
Er nahm ein Papier in die Hand und sagte in abgerissenen Worten, wie wenn er fürchtete, es möchte eine fließendere Redeweise uns eine zu große Überraschung verursachen: »Meine Herren ... ich habe das Vergnügen ... ich habe die Ehre ... Ihnen mitzuteilen ... daß Seine Majestät hat eintreten lassen noch ... eine Gnade...«
Hier zögerte er, ehe er uns weiter sagte, worin diese Gnade bestände. Wir meinten, es handle sich um eine Milderung der Strafe, daß wir etwa von der Langenweile unserer Untätigkeit befreit werden, daß wir einige Bücher mehr haben oder weniger ekelhafte Kost erhalten sollten.
»Aber begreifen Sie denn nicht?« sagte er.
»Nein, mein Herr. Haben Sie die Güte, uns zu eröffnen, welcher Art diese Gnade sei.«
»Es ist die Freiheit für Sie beide und für einen dritten, den Sie in wenigen Augenblicken umarmen werden.«
Es sollte scheinen, diese Mitteilung hätte uns in die ausgelassenste Freude versetzen müssen. Unsere Gedanken flogen schnell zu unseren Verwandten, von denen wir seit so langer Zeit keine Nachricht erhalten hatten, und die Furcht, wir möchten sie vielleicht nicht mehr am Leben finden, ergriff uns dergestalt, daß sie die Freude, welche die Ankündigung unserer Freilassung in uns erwecken konnte, unterdrückte.
»Sie verstummen?« sagte der Polizeidirektor. »Ich hatte erwartet, Sie in Jubel ausbrechen zu sehen.«
»Ich ersuche Sie,« versetzte ich, »dem Kaiser unseren Dank auszusprechen; aber solange wir keine Kunde von unseren Familien haben, ist es uns nicht möglich, die Angst abzulegen, daß die teuersten Personen uns entrissen sein möchten. Diese Ungewißheit drückt uns nieder, selbst in einem Augenblicke, der für uns ein Augenblick der höchsten Freude sein sollte.«
Darauf übergab er Maroncelli einen Brief von seinem Bruder, der ihn tröstete. Mir sagte er, daß für mich von meiner Familie keiner da wäre; dies ließ mich um so mehr fürchten, daß in derselben irgendein Unglück vorgefallen wäre.
»Gehen Sie jetzt,« fuhr der Polizeidirektor fort, »auf Ihre Zelle; und in kurzem werde ich Ihnen den dritten schicken, der ebenfalls begnadigt worden ist.«
Wir gingen und harrten ängstlich dieses dritten. Gern hätten wir gewünscht, daß es alle wären, und doch konnte es nur einer sein. – Wäre es doch der arme alte Munari! wäre es doch der! oder der andere! Es gab keinen, an den wir nicht in unseren Wünschen dachten.
Endlich öffnet sich die Tür, und wir sehen, daß Herr Andrea Tonelli aus Brescia dieser Gefährte ist.
Wir umarmten uns. Essen konnten wir nicht mehr. Wir schwatzten bis zum Abend und beklagten die zurückbleibenden Freunde.
Mit Sonnenuntergang kehrte der Polizeidirektor zurück, um uns von diesem Orte des Jammers abzuholen. Unsere Herzen seufzten, als wir an den Türen der Gefängnisse so vieler Freunde vorübergingen, die wir nicht mitnehmen konnten! Wer weiß, wie lange sie hier noch schmachten sollten! Wer weiß, wie viele von ihnen hier noch eine Beute langsamen Todes werden mußten!
Man gab einem jedem von uns einen Soldatenmantel über die Schultern und eine Mütze auf den Kopf, und so in der alten Sträflingskleidung, aber von den Ketten befreit, stiegen wir den verhängnisvollen Berg hinab und wurden nach der Stadt in die Polizeigefängnisse geführt.
Herrlich schien der Mond. Die Straßen, die Häuser, die Leute, an denen wir vorübergingen, alles kam mir nach so vielen Jahren, in denen ich einen ähnlichen Anblick nicht gehabt hatte, so freundlich und so fremd vor.