Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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24.

Ach ja! die Sorgen, welche ein Kriminalprozeß verursacht, wenn man feindlicher Umtriebe gegen den Staat angeklagt ist, sind furchtbare! Wie groß die Angst, einem anderen zu schaden! Wie schwierig die Aufgabe, gegen so viele Verdächtigungen sich zu wehren! Wie groß die Wahrscheinlichkeit, daß alles in immer unheilvollere Verwicklung gerate, wenn der Prozeß nicht schnell beendigt wird, wenn neue Verhaftungen erfolgen, wenn neue Unklugheiten an den Tag kommen, auch von Leuten, die man gar nicht kennt, die aber derselben Partei angehören!

Da ich mir vorgenommen habe, von Politik nicht zu reden, so muß ich hier jede Mitteilung, welche den Prozeß angeht, unterdrücken. Nur dies will ich sagen, oftmals wenn ich stundenlang im Verhör gestanden, kehrte ich so erbittert, so wütend auf mein Zimmer zurück, daß ich mich umgebracht haben würde, wenn mich die Stimme der Religion und die Erinnerung an meine lieben Eltern nicht aufrechterhalten hätte.

Die Gewöhnung, meine Fassung zu behaupten, die ich mir schon in Mailand angeeignet zu haben glaubte, war gänzlich dahin. Einige Tage verzweifelte ich daran, sie wiederzuerlangen, und dies waren wahrhafte Höllentage. Damals hörte ich auf zu beten, hegte Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes, fluchte auf die Menschen und die ganze Welt und verfiel auf alle möglichen Sophismen über die Nichtigkeit der Tugend.

Wenn der Mensch im Unglücke ist und von der Wut sich hinreißen läßt, so ist er in erschreckender Weise erfinderisch, Schmähungen auf seine Nächsten und selbst auf den Schöpfer zu häufen. Der Zorn ist weit unmoralischer, weit ruchloser, als man gewöhnlich meint. Da man nicht wochenlang vom Morgen bis zum Abend toben kann, und da selbst für ein Gemüt, das vom Zorne völlig beherrscht wird, Zwischenräume zur Beruhigung notwendig sind, so gibt sich doch auch in diesen Zwischenräumen gewöhnlich noch der vorangegangene unsittliche Zustand kund. Zwar glaubt man dann Frieden zu haben, aber es ist ein tückischer, irreligiöser Friede; ein höhnisches Lachen, ohne Menschenliebe, ohne sittliche Würde; ein Hang zur Regellosigkeit, zur Trunkenheit, zu bittrem Spotte.

In einem solchen Zustande sang ich ganze Stunden lang, mit einer Art von Fröhlichkeit, der jede gute Empfindung fremd war; ich scherzte mit allen, die in mein Zimmer kamen; gewaltsam zwang ich mich, alle Dinge mit einer gemeinen Weisheit zu betrachten, mit der Weisheit der Zyniker.

Diese abscheuliche Zeit währte nicht lange, sechs oder sieben Tage.

Meine Bibel war verstaubt. Einer von des Kerkermeisters Söhnen sagte, indem er mich liebkoste: »Seitdem Sie nicht mehr in dem garstigen Buche da lesen, sind Sie auch nicht mehr so schwermütig, wie mir vorkommt.«

»Kommt dir's so vor?« sagte ich.

Dabei ergriff ich die Bibel, wischte den Staub ab, schlug ganz nach Zufall auf, da fielen mir folgende Worte in die Augen: »Und er sprach zu seinen Jüngern: Notwendig werden Ärgernisse kommen: wehe aber demjenigen, durch den sie kommen! Ihm wäre besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in das Meer geworfen würde, als daß er einen von diesen Kleinen ärgert!«

Ich war betroffen, diese Worte zu finden und errötete, daß der Knabe aus dem Staube, den er darauf gesehen, bemerkt hatte, ich läse nicht mehr in der Bibel, und daß er annähme, ich sei liebenswürdiger geworden, seit ich mich um Gott nicht mehr kümmere.

»Schlingel! (mit freundlichem Vorwurfe sagte ich dies, bekümmert darüber, ihm ein Ärgernis gegeben zu haben). Dies ist kein garstiges Buch, und seit einigen Tagen, wo ich nicht mehr drin lese, steht es mit mir weit schlechter. Wenn deine Mutter dir erlaubt, einen Augenblick bei mir zu bleiben, bemühe ich mich, die üble Laune fahren zu lassen; aber wenn du wüßtest, wie diese mich bezwingt, wenn ich allein bin, wenn du mich wie einen Wahnsinnigen singen hörst!«


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