Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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79.

Zu Anfang des Jahres 1824 verlegte der Oberinspektor, welcher seine Bureaus an dem einen Ende des Ganges hatte, dieselben anderswohin, und die dafür bestimmt gewesenen Zimmer wurden nebst einigen anderen, welche daran stießen, zu Gefängnissen eingerichtet. Ah, wir begriffen wohl, daß neue Staatsgefangene aus Italien eintreffen würden.

In der Tat kamen die Angeklagten einer dritten Prozeßabteilung bald darauf an; alles Freunde und Bekannte von mir! Ach, wie groß war meine Betrübnis, als ich ihre Namen erfuhr! Borsieri war einer meiner ältesten Freunde! Mit Confalonieri war ich zwar erst seit kürzerer Zeit befreundet, doch aber liebte ich ihn von ganzem Herzen! Hätte ich ihre Strafe bezahlen und sie befreien können, Gott weiß es, gern hätte ich die härteste Kerkerhaft oder irgendeine nur erdenkbare Marter über mich verhängen lassen! Ich sage nicht bloß, daß ich das Leben für sie hergegeben hätte: ach, was will es heißen, das Leben hingeben? Leiden ist weit mehr!

Damals hätte ich die Tröstungen des Pater Battista so nötig gehabt; aber man erlaubte ihm nicht mehr, zu uns zu kommen.

Neue Erlasse ergingen über die Beobachtung der strengsten Zucht. Der Wall, welcher uns zu unseren Spaziergängen diente, ward zuerst mit einem Zaune umgeben, so daß niemand, nicht einmal mit Ferngläsern, uns von weitem beobachten könnte; so verloren wir den herrlichen Anblick der rings sich hindehnenden Hügel und die Aussicht auf die unten liegende Stadt. Das war noch nicht alles. Um auf diesen Wall zu gelangen, mußte man, wie ich schon sagte, über den Hof gehen, wobei viele Gelegenheit hatten, uns zu sehen. Um uns nun allen Blicken zu entziehen, nahm man uns diesen Ort für unsere Spaziergänge, dafür wies man uns einen ganz kleinen Raum an, der an unseren Gang anstieß und, wie unsere Zimmer, direkt nach Norden lag.

Ich vermag nicht zu beschreiben, wie sehr uns diese Verlegung unseres Spazierganges betrübte. Noch habe ich nicht alle Annehmlichkeiten aufgezählt, welche der uns genommene Platz darbot: der Besuch der Knaben des Oberinspektors, ihre zärtlichen Umarmungen dort, wo wir ihre kranke Mutter in ihren letzten Tagen gesehen hatten; manchmal ein Gespräch mit dem Schmied, der dort gerade seine Wohnung hatte; die heiteren Lieder und Melodien eines Korporals, der die Gitarre spielte; endlich eine unschuldige Liebe – eine Liebe, die nicht von mir, auch nicht von meinem Gefährten ausging, sondern von einer hübschen ungarischen Korporalsfrau, welche Obst feilhielt. Sie war in Maroncelli verliebt.

Schon in der Zeit, wo jeder von uns noch allein saß, hatten er und die Frau sich dort fast jeden Tag gesehen und miteinander Freundschaft geschlossen. Er besaß ein so rechtschaffnes, so ehrenwertes, so anspruchsloses Herz, daß er selbst gar keine Ahnung davon hatte, wie sehr das brave Geschöpf in ihn verliebt war. Ich machte ihn erst darauf aufmerksam. Es ward ihm schwer, meinen Worten Glauben zu schenken, und bloß weil er besorgte, ich könnte doch recht haben, legte er sich die Pflicht auf, sich kälter gegen sie zu zeigen. Die größere Zurückhaltung von seiner Seite schien aber die Liebe dieser Frau zu vermehren, anstatt sie zu dämpfen.

Da das Fenster ihrer Wohnung kaum eine Elle über dem Boden des Walles war, so hüpfte sie oft unter dem äußerlichen Vorwande, Zeug in der Sonne hinzubreiten oder irgendein anderes Geschäftchen zu besorgen, an unsere Seite und blieb stehen, um uns anzusehen, und wenn sie konnte, knüpfte sie ein Gespräch mit uns an.

Unsere armen Wachen, stets müde, weil sie die Nacht wenig oder gar nicht geschlafen hatten, benutzten gern die Gelegenheit, in jenem Winkel sich aufzuhalten, wo sie, unbeachtet von den Vorgesetzten, in das Gras niedersitzen und träumen konnten. So heftig äußerte sich alsdann die Liebe dieser Unglücklichen, daß Maroncelli in großer Verlegenheit war. Noch größer aber war die Verlegenheit auf meiner Seite. Doch hatten diese Auftritte, die an sich lächerlich genug gewesen wären, wenn das Weib uns weniger Achtung eingeflößt hätte, etwas Ernsthaftes für uns, fast möchte ich sagen, etwas Wehmütiges. Die unglückliche Ungarin hatte eine jener Physiognomien, auf denen sich tugendhafte Sitte zweifellos ausprägt und die notwendige Achtung einflößen. Sie war nicht schön, aber in ihrem Benehmen zeigte sich eine solche Anmut, daß die etwas unregelmäßigen Züge ihres Gesichts bei jedem Lächeln, bei jeder Bewegung der Muskeln schöner zu werden schienen.

Läge es in meiner Absicht, über die Liebe zu schreiben, so würde ich langes und breites von diesem armen und tugendhaften Weibe zu erzählen haben – das jetzt leider tot ist. Aber es mag genügen, eins der wenigen Begegnisse aus unserem Gefängnisleben berührt zu haben.


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