Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Ob nun gleich Neries und Reiser fast unzertrennlich beisammen waren, so sehnte sich der letztre doch wieder nach einsamen Spaziergängen, die ihm immer das reinste Vergnügen gewähret hatten; allein dies hatte er sich nun auch verleidet; denn gemeiniglich versprach er sich von einem solchen Spaziergänge zu viel und kehrte verdrießlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefunden hatte, was er suchte; sobald das Dort nun Hier wurde, hatte es auch alle seinen Reiz verloren, und der Quell der Freude war versiegt. –

Der Verdruß, der dann in die Stelle der gereizten Hoffnung trat, war von einer so groben, gemeinen und niedrigen Art, daß auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Melancholie oder etwas dergleichen damit bestehen konnte. Es war ohngefähr die Empfindung eines Menschen, der ganz vom Regen durchnäßt ist, und indem er vor Frost schaudernd zu Hause kehrt, auch noch eine kalte Stube findet.

Ein solches Leben führte Reiser und schrieb dabei immer an seiner Abhandlung gegen die falsche Empfindsamkeit fort, wobei er denn bei seinen einsamen Spaziergängen einmal eine sonderbare Äußerung von Empfindsamkeit bei einem gemeinen Menschen bemerkte, bei dem er dieselbe am wenigsten erwartet hätte.

Er ging nämlich zwischen den Gärten von Erfurt spazieren, und da es gerade in der Pflaumenzeit war, so konnte er sich nicht enthalten, von einem überhangenden Aste eine schöne reife Pflaume abzupflücken, welches der Eigentümer des Gartens bemerkte, der ihn sehr unsanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wisse, daß die Pflaume, die er da abgepflückt hätte, ihm einen Dukaten kosten würde.

Reiser suchte abzudingen, mußte aber zugleich gestehen, daß er keinen Heller Geld bei sich habe. Um nun aber den Eigentümer des Gartens wegen der geraubten Pflaume einigermaßen zu befriedigen, mußte er ihm sein einziges gutes Schnupftuch aus der Tasche geben, dessen Verlust ihm sehr leid tat.

Als er nun traurig wegging, sah er, nachdem er nur wenige Schritte getan hatte, ein schönes Einlegemesser vor sich auf der Erde liegen; er hob es geschwind auf und rief den Gärtner wieder zurück, dem er einen Tausch antrug, ob er nicht für das gefundene Messer ihm sein Schnupftuch zurückgeben wolle?

Wie erstaunte Reiser, als nun der Gärtner, der vorher so grob gegen ihn gewesen war, ihm auf einmal um den Hals fiel und küßte und sich seine Freundschaft ausbat; weil Reiser notwendig ein Günstling der Vorsehung sein müsse, da sie ihn gerade das Messer habe finden lassen, welches niemand anders als der Gärtner selbst verloren hatte, der nun Reisern sein Schnupftuch mit Freuden wiedergab und ihn zugleich versicherte, daß sein Garten ihm zu jeder Zeit offen stände, um so viel Pflaumen, wie er wollte, zu pflücken, und daß er ihm in jeder Sache dienen würde, wo er nur könnte; denn ein so außerordentlicher Fall sei ihm noch nicht vorgekommen.

Als Reiser im Weggehen über diesen sonderbaren Zufall nachdachte, fiel er ihm um so mehr auf, weil dies das erstemal in seinem Leben war, daß ihm ein eigentlich glückliches Ereignis begegnete, wobei mehrere Umstände sich vereinigen mußten, die sich sonst selten zu vereinigen pflegen.

Sein Glück scheinet sich in dieser Kleinigkeit gleichsam ganz erschöpft zu haben, um ihn im Großen wieder desto mehr büßen zu lassen, was er auf keine andre Weise als durch sein Dasein verschuldet hatte.

Es war wie bei dem Landprediger von Wakefield, der einen ganz ungewöhnlich glücklichen Wurf mit den Würfeln tat, indem er mit seinem Freunde um wenige Pfennige spielte, kurz vorher, ehe er die Nachricht von dem Bankerott des Kaufmanns erhielt, durch welchen er sein ganzes Vermögen verlor.

Noch eine kleine Weile hielt das Schicksal die Demütigungen zurück, welche es Reisern zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungestört in seinem Vergnügen, das ihm nun die zweite Komödienaufführung gewährte und worin ihm drei Rollen zuteil geworden waren.

Sein sehnlichster Wunsch war doch also nun einigermaßen erfüllt, ob er gleich in keiner tragischen Rolle hatte glänzen können. Und was noch mehr war, so hatte man eine Art von Zutrauen zu seinen theatralischen Einsichten, man fragte ihn um Rat, und er wurde nun durch seine Teilnehmung an der Komödie sowohl als durch seine geschriebenen Gedichte unter den Studenten noch mehr bekannt, die ihm mit Höflichkeit begegneten, welches ihm für seine Lage auf der Schule in Hannover ein angenehmer Ersatz war.

Dabei besuchte er nun fleißig die Universitätsbibliothek, wo er einen besondern Gefallen daran fand, des Du Halde Beschreibung von China zu studieren, und sehr viele Zeit damit verschwendete.

Grade damals erschien auch: Siegwart, eine Klostergeschichte, und er las mit seinem Freunde Neries das Buch zu mehreren Malen durch, und beide taten sich bei der entsetzlichsten Langenweile Zwang an, in der einmal angefangenen Rührung alle drei Bände hindurch zu bleiben.

Am Ende hatte Reiser nichts weniger im Sinne, als die ganze Geschichte in ein historisches Trauerspiel zu bringen, wozu er würklich allerlei Entwürfe machte und die schöne Zeit damit verschwendete.

Wenn es ihm dann nicht, wie er wünschte, geraten wollte, so hatte er nach jeder vergebnen Anstrengung dieser Art die trübseligsten und widrigsten Stunden, die man sich nur denken kann. Die ganze Natur und alle seine eigenen Gedanken hatten dann ihren Reiz für ihn verloren, jeder Moment war ihm drückend, und das Leben war ihm im eigentlichen Verstande eine Qual.

Die Leiden der Poesie

können daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Leidensgeschichte ausmachen, welche seinen innern und äußern Zustand in allen Verhältnissen darstellen sollen und wodurch dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch ihnen selbst unbewußt und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.

Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an zu kämpfen hatte.

Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkürlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmütige Empfindung, in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlor, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlor, und dessen Dasein, wenn es nun würklich von ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde.

Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dies ein Trauerspiel oder eine Romanze oder ein elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas sein, das würklich eine solche Empfindung erweckte, wovon der Dichter gewissermaßen schon ein Vorgefühl gehabt hatte.

In den Momenten dieses seligen Vorgefühls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervorbringen. Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Lücken des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt sind.

Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von groß, erhaben, Wonnetränen und dergleichen. – Dies dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zurücksank, ohne auch nur ein paar vernünftige Zeilen zum Anfange von etwas Bestimmten ausgeboren zu haben.

Nun war also während dieser Krisis nichts Schönes entstanden, woran sich die Seele nachher hätte festhalten können, und alles andre, was würklich schon da war, wurde nun keines Blickes mehr gewürdiget. Es war, als ob die Seele eine dunkle Vorstellung von etwas gehabt hätte, was sie selbst nicht sein konnte und wodurch ihr eigenes Dasein ihr verächtlich wurde.

Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im allgemeinen zum Dichten veranlaßt und bei dem nicht die schon bestimmte Szene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detail der Szene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.

Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem solchen täuschenden Hange sich zu überlassen; die warnende Stimme kann nicht früh genug dem Jüngling zurufen, sein Innerstes zu prüfen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stelle der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.

Dies war der Fall bei Reisern, der die besten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche trübete, durch unnützes Streben nach einem täuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebte und, wenn er es nun zu umfassen glaubte, plötzlich in Rauch und Nebel verschwand.

Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastierte, so war es bei Reisern, der von seiner Kindheit an in einer Sphäre war, die ihn bis zum Staube niederdrückte und wo er, bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stufe der Menschenbildung überspringen mußte, ohne sich auf der folgenden erhalten zu können.

So ging es ihm nun jetzt wieder in seiner äußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube für sich, sondern mußte, da es nun anfing kälter zu werden, mit in der gemeinschaftlichen Stube wohnen, deren Einwohner, wenn ausgefegt wurde, so lange herausgehen mußten.


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