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Seine Gedanken hatten eine eigne Wendung genommen, welche von der alltäglichen in dem Gedichte, das er auswendig wußte, ganz verschieden war. – Er dachte sich den Gottesleugner als den Sklaven des Sturmwindes, des Donners, der tobenden Elemente, der Krankheit und der Verwesung, kurz als den Sklaven aller der unvernünftigen leblosen Wesen, die stärker sind als er, und die nun seine Herren geworden sind, da er den Geist voll ewger Huld nicht verehren will. – Das Bedürfnis, einen Gott zu glauben, erwachte bei dieser Gelegenheit, da er erst bloß damit umging, ein Gedicht zu verfertigen und zu deklamieren, so mächtig in Reisers Seele, daß er gegen den, der diesen Trost ihm rauben wolle, gleichsam eine Art von gerechter Erbitterung fühlte und sich in diesem Feuer erhalten konnte, bis sein Gedicht vollendet war, das sich mit der frohen Überzeugung von dem Dasein einer vernünftigen Ursach aller Dinge, welche sind und geschehn, anhub und endigte, und bei aller Unregelmäßigkeit und dem oftmals Gezwungnen im Ausdruck doch ein Ganzes von Empfindungen ausmachte, welches Reisern bis jetzt hervorzubringen noch nicht gelungen war. – Die Mitteilung dieses Gedichts wird daher in dieser Rücksicht nicht überflüssig sein, wenn es gleich um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene:
Der Gottesleugner.
Es ist ein Gott – wohl mir! Dem Vater meiner Tage, Ihm dank' ich mein Geschick – er wog mir jeden Schmerz Und jede Freude zu – er kennet jede Plage, Die ich hier leiden soll – drum weine nicht, mein Herz! Wenn sich der Morgen schön aus brauner Nacht enthüllet, O freue früh und spät dich seiner, meine Seele! Du, der du zweifelst, ob ein Gott im Himmel wohnet, Du kannst, du willst ihn nicht, den guten Gott, erkennen, Droht dir am Himmel hoch ein schwarzes Donnerwetter, Und droht die Krankheit dir mit schreckendem Gefieder – Dann sinke in dein Grab – vereine mit dem Staube Wer seinen Gott verkennt, dem wird die Welt zur Hölle – |
Durch die Empfindungen, welche während der Zeit, daß er dies Gedicht verfertigte, in ihm abwechselten, war wirklich seine ganze Seele erschüttert – er bebte vor dem schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zurück und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens hinein. –
Da nun dies Gedicht auch seines Freundes völligen Beifall fand, so lernte er es auswendig, und den nächsten Tag in der Woche, da Deklamationsübung war, nahm er sich vor, es zu deklamieren. – Er erschien hierbei mit seinem neuangeschafften Kleide, das sich ziemlich gut ausnahm und das erste feine Kleid war, welches er in seinem Leben trug – das war ein nicht unbedeutender Umstand bei ihm. – Das neue Kleid, wodurch er sich nun seinen Mitschülern, von denen er so lange durch seine schlechte Kleidung ausgezeichnet gewesen war, wieder gleichgesetzt sahe, flößte ihm Mut und Zutrauen zu sich selber ein; und was das Sonderbarste war, so schien es ihm auch mehr Achtung bei andern zu erwerben, die nun erst mit ihm sprachen, da sie sich vorher gar nicht um ihn bekümmert hatten. –
Und da er nun vollends in dem Hörsaale, wo er so lange ein Gegenstand der allgemeinen Verachtung gewesen war, auf dem Katheder vor seinen versammleten Mitschülern öffentlich auftrat, um sein von ihm selbst verfertigtes Gedicht zu deklamieren, so erhob sich sein niedergedrückter Geist zum ersten Male wieder, und es erwachten wieder Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft in seiner Seele. –
Er hatte dem Direktor eine Abschrift von dem Gedichte zum Nachlesen gegeben, die ihm dieser wieder zurückgab, ohne daß Reiser in Versuchung geriet, ihm zu sagen, daß er das Gedicht selbst verfertigt habe – er war mit dem innern Bewußtsein davon zufrieden, und es war ihm angenehm, wenn seine Mitschüler sich bei ihm erkundigten, wo das Gedicht, das er deklamiert hätte, stünde, und er ihnen dann irgendeinen Dichter nannte, woraus er es abgeschrieben habe. –
Reiser bat sich vom Direktor die Erlaubnis aus, in der künftigen Woche noch einmal deklamieren zu dürfen, und da er diese erhielt, änderte er das Gedicht an Philipp Reisern:
Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen
etwas um und gab ihm die Überschrift: ›Die Melancholie.‹ – Er ließ dies Gedicht nun anfangen:
Der Seele Leiden will ich klagen – Könnt ihr es, Worte, halb nur sagen, O sagts und lindert meinen Schmerz! |
Die letzte Strophe:
Wem soll ich dieses Dasein danken? Wer setzt ihm diese engen Schranken? Aus welchem Chaos stiegs empor? In welche greuelvolle Nächte Sinkts, wenn des Schicksals ehrne Rechte Mir winket zu des Todes Tor? |
deklamierte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung äußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnen Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdaurenden unaufgelösten schrecklichen Zweifels blieb.
Da er nun von dem Direktor die Abschrift seines Gedichts wieder zurückerhielt, gab ihm dieser seinen Beifall mit seiner Deklamation zu erkennen und sagte zugleich, die beiden Gedichte, welche er deklamiert hätte, wären sehr gut ausgewählt. –
Dies war denn doch zu viel für Reisern, als daß er länger der Versuchung hätte widerstehen können, den Direktor wissen zu lassen, daß die Gedichte von ihm selber wären, und den Beifall, der jetzt nur seine Auswahl traf, für seine Arbeit einzuernten.