Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Als nun die alten Türme von Erfurt wieder aus dem Tale emporstiegen und Reiser nun hoffnungslos dahin zurückwanderte, wo er noch vor kurzem mit dem jugendlichen Schimmer der ersten Hoffnung ausgereist war, so fiel es ihm sonderbar auf, da sein Gefährte, der Buchbindergeselle, auf einmal zu ihm sagte: er glaube nicht, daß Reiser ein Schuhknecht sei, sondern hielte ihn für einen Studenten, der auf der Universität in Erfurt studieren wolle.

Reiser, der schon wieder bis zum Hinsinken ermattet war, fühlte sich durch diese zufälligen Worte des Buchbindergesellen wie ins Leben zurückgerufen.

Sobald er in dieser Stadt, die so nahe vor ihm lag, studieren und bleiben wollte, war sie das Ende seiner mühseligen Wanderung; sie war der Endzweck, das Ziel seiner Reise, das er nun so nahe vor sich sahe, und wo er noch dazu auf eine ehrenvolle Weise mit seinem Plane umwechseln konnte. Je mehr seine Müdigkeit zunahm, je reizender und wünschenswerter wurde ihm der Gedanke an den Aufenthalt in dieser weiten Stadt, worin doch auch, wie er dachte, noch wohl ein Plätzchen für ihn sich finden würde.

Dieser hoffnungslose traurige Zustand des Umherirrens, worin er sich nun schon seit mehrern Tagen befand, konnte durch keinen Reiz einer angespannten erhitzten Einbildungskraft mehr übertragen werden, sondern der Gedanke der gänzlichen Hülflosigkeit ermüdete ihn mit jedem Schritte noch mehr, und die Müdigkeit vermehrte wieder den Gedanken der Hülflosigkeit, die vorzüglich aus dem Sinken seines Mutes und aus der Erschöpfung seiner Kräfte entstand.

Sie kamen nun in die Stadt vor einem Bäckerhause vorbei, wo auf dem Laden eine Menge Brote aufgetürmt lagen: Reiser wollte sich eins darunter aussuchen, und als er es kaum berühret hatte, schoß beinahe der ganze Haufe von Broten auf die Straße herunter. – Die Leute im Hause fingen einen großen Lärm an, und Reiser mußte mit seinem Gefährten sich nur schnell um eine Ecke wenden, um den Schmähungen zu entgehen. So verfolgte Reisern sein widriges Geschick bis aufs äußerste.

Sie kehrten nun in einem Gasthofe ein, wo Reiser dem Durst nicht widerstehen konnte und für die letzten neun Pfennige, die er noch übrig hatte, sich Bier geben ließ. Für diesen einen Trunk hatte er also sein Schlafgeld auf noch drei künftige Nächte ausgegeben, und ihm blieb nichts weiter übrig, als ganz unter freiem Himmel zu wohnen.

Bei diesem Gedanken war es ihm, als ob er nun mit dem Trunk Bier die Vergessenheit alles Künftigen und Vergangenen trinke und von allem Kummer auf einmal befreiet werden sollte. Denn nun gab er sich ganz seinem Schicksale hin und betrachtete sich wieder wie ein fremdes Wesen, für das er nicht mehr denken könnte, weil es unwiederbringlich verloren war; so schlummerte er ein und schlief eine Stunde lang.

Als er erwachte, war es noch eine Stunde vor Mittage, sein Gefährte war weggegangen, und er saß, den Kopf auf die Hand gestützt, in stummer Verzweiflung da, als ein Mann, der gerade gegen ihm über saß, ihn anredete und sich erkundigte, ob er nicht ein fremder Student sei?

Als dies bejahet wurde, erzählte der Mann, gleichsam als ob er um Reisers Zustand gewußt hätte, daß der jetzige Prorektor der Universität, der Abt vom Benediktinerkloster auf dem Petersberge, ein äußerst menschenfreundlicher Mann sei, der erst vor kurzem einem jungen Manne, der auch mit Nichts hiehergekommen sei, sogleich Unterstützung verschafft und sich seiner auf das menschenfreundlichste angenommen habe. Wenn Reiser diesen Prälaten besuchen wollte, so solle er nur dreist zu ihm gehen; er würde gewiß eine gütige Aufnahme bei ihm finden. Hierauf kamen andere Leute, mit denen der Mann sich ins Gespräch gab.

Reiser aber, den die gänzliche Erschlaffung aller seiner Seelen- und Körperkräfte und der wohltätige Schlummer, der hievon eine Folge war, schon wieder etwas gestärkt hatten, fühlte sich auf einmal wieder mit neuer Hoffnung und neuem Mut beseelt, da er sich den Prälaten im Benediktinerkloster auf dem Petersberge dachte.

Er machte sich sogleich auf den Weg und erkundigte sich nach dem Petersberge; ein junger Student, der ihm begegnete, gab ihm nicht nur höflich Bescheid, sondern begleitete ihn sogar eine Strecke, um ihn gehörig zurechtzuweisen. Dies war ihm ein gutes Omen. Er stieg den befestigten Petersberg hinauf, und die Wachen ließen ihn ungehindert durch. –

Er kam in der Wohnung des Prälaten an, dessen Bedienter ihn mit einem freundlichen Gesicht empfing, und sobald er sagte, daß er ein Student sei, ihn sogleich bei dem Prälaten zu melden versprach. –

Er ward eine Treppe hoch in einen großen Saal geführt, in welchem Gemälde hingen, unter denen das eine den Petrus vorstellte, wie er sich in des Hohenpriesters Hause am Feuer wärmt. – Indem Reisers Blicke noch auf dies Gemälde geheftet waren, trat der Prälat in seiner schwarzen Ordenskleidung mit dem Brevier in der Hand heraus, und Reiser richtete eine kurze lateinische Anrede an ihn, die er sich beim Hinaufsteigen auf den Petersberg ausgedacht hatte, und deren Inhalt war, daß er vom widrigen Glück umhergetrieben nach Erfurt gekommen sei und hier einige Unterstützung zu finden hoffte, um auf irgendeine Weise sein angefangenes Studium hier fortzusetzen.

Der Prälat fragte ihn mit großer Leutseligkeit wieder in lateinischer Sprache, ob er katholisch sei oder sich zur Augspurgischen Konfession bekenne, und als Reiser das letztere bejahte, so antwortete ihm der Prälat fast mit seinen eigenen Worten wieder: es täte ihm zwar leid, daß Reiser vom widrigen Glück umhergetrieben sei, doch sähe er noch kein Mittel, wie er gerade auf dieser Universität Unterstützung finden würde. Indes wolle er ihm die Hoffnung nicht dazu benehmen.

Hierauf fragte er nach Reisers Geburtsort, und da dieser Hannover nannte, so fuhr der Prälat fort: er gäbe ihm den Rat, sich an den Doktor Froriep zu wenden, weil dieser gewissermaßen sein Landsmann sei. Bei dem möchte er sich also melden und dann wieder zu ihm kommen. Mit diesen Worten drückte er Reisern ein Stück Silbergeld in die Hand und fügte hinzu: er möchte mit diesem kleinen Mittagsmahl vorliebnehmen.

Wenn ja etwas den Mut des Zerschlagenen wieder aufrichten und den völlig Gesunkenen von der Verzweiflung retten kann, so ist es die Miene und der Ton, womit der Prälat Günther damals Reisers Bitte beantwortete und ihm seinen Rat erteilte.

Von dieser Behandlung beinahe bis zu Tränen gerührt eilte Reiser fort und glaubte zu träumen, da er wieder draußen vor der Türe stand, sein Stück Geld besahe und sich auf einmal wieder im Besitz von einem halben Gulden sahe; da es ihm kurz vorher noch an einem Dreier für ein Nachtlager fehlte. – Dieser halbe Gulden dünkte ihm jetzt ein unschätzbarer Reichtum, und war es auch würklich für ihn, weil er ihm wieder den Mut einflößte, woran sein ganzes Schicksal hing.

Er ging nun nach einem Speisehause und genoß zum ersten Male wieder warmes Essen. Gleich nach Tische aber erkundigte er sich nach der Kaufmannskirche, bei welcher der Doktor Froriep wohnte. Er traf ihn gerade, da er eben um zwei Uhr des Nachmittags ein Kollegium lesen wollte, und redete ihn auf eine ähnliche Weise wie den Abt Günther lateinisch an.

Da der Doktor Froriep von Reisern hörte, daß er aus Hannover sei, nahm er ihn außerordentlich freundlich auf und führte ihn mit sich in seinen Hörsaal, wo die Studenten schon mit den Hüten auf den Köpfen saßen, welches für Reisern ein ganz ungewohnter Anblick war; um so viel mehr, da er merkte, daß man sich über ihn aufhielt, weil er nicht auch bedeckt blieb.

Er sahe sich also nun auf einmal in Erfurt in dem Hörsaale eines Professors mitten unter Studenten sitzen, da er am Morgen eben dieses Tages noch weiter nichts als das offne Feld, das er durchwanderte, zu seinem Aufenthalt vor sich sahe.

Der Doktor Froriep las Kirchengeschichte, wobei auch manche lustige Anekdote mit unterlief, die das Auditorium aufmunterte und von den Musensöhnen oft mit einem schallenden Gelächter begleitet wurde. Dies alles war Reisern noch wie ein Traum. Er erinnerte sich an die Jahre seiner Kindheit, wo ihm der Hörsaal der Schule schon heilig war, und itzt fand er sich auf einmal in einem akademischen Hörsaale, über dem nun nichts Höhers mehr war.

Als das Kollegium zu Ende war, nahm der Doktor Froriep Reisern mit sich auf seine Stube und fragte ihn um seine Geschichte, der er nun die neue Wendung gab, daß er sich in Hannover durch eine Schrift, die übel ausgedeutet sei, den Haß eines vornehmen Mannes zugezogen und von dort habe weggehen müssen. – Da er nun weiter keine Aussicht gehabt, so sei er auf die Gedanken gekommen, sich dem Theater zu widmen, nach reiflicher Überlegung aber habe er diesen Entschluß fahren lassen, weil er wohl einsehe, daß er sich auf immer für die Zukunft durch diesen Schritt schaden würde; und darum habe er nun gedacht, sich in Erfurt aufs neue dem Studieren zu widmen.

Nun war es merkwürdig, wie Reiser diese Lüge, die er sich während dem Kollegium des Doktor Frorieps ausgedacht, sich selbst, ehe er sie sagte, in Wahrheit zu verwandeln suchte und wie jesuitisch er sich dabei selber täuschte. Er suchte sich nämlich in seinen Gedanken zu überzeugen, daß er nun wirklich die Torheit seines Unternehmens vollkommen einsehe und daß er nun ganz freiwillig seinen Entschluß geändert habe und fest bei diesem Vorsatz bleiben würde, wenn sich ihm auch gleich jetzt die beste Gelegenheit den Schauplatz zu betreten von selbst darböte.

Und was die erste Hälfte seiner Lüge anbetraf, so suchte er sich einzubilden, daß in seiner Rede, die er an der Königin Geburtstage gehalten, wirklich einige verfängliche Stellen wären, die wohl jemand zu seinem Nachteil ausgedeutet haben könnte. Ob dies nun wirklich geschehen sei, das berührte er nun nicht weiter, sondern beruhigte sich diesmal bei der Möglichkeit, weil er sich nicht anders zu helfen wußte.

Denn er durfte nicht sagen, daß er aus Neigung zum Theater aus Hannover gegangen sei, wenn sein Trieb zum Studieren wahrscheinlich bleiben sollte, und die Duellgeschichte paßte hier auch nicht her.


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