Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Winter war sonst ein sehr aufrichtiger Mensch – und da Reiser ihn fragte, was unter ihm und einer Anzahl seiner Mitschüler, die immer zusammenkämen, im Werke sei, so gab ihm Winter erst ohne Umschweife zu verstehen: er wolle es ihm nicht sagen – bis Reiser weiter in ihn drang und dann doch die ganze Sache erfuhr – wo dann jener sich damit aus der Verlegenheit zog, daß er die ganze Sache als unbedeutend vorstellte und als etwas, das doch wohl schwerlich zustande kommen würde usw.

Diese Erfahrung, die Reiser damals zuerst an seinem Freunde Winter machte, hat er nachher nur zu oft in seinem Leben wieder bestätigt gefunden. –

Außer Reisern war nun Iffland, von dem ich schon erwähnt habe, daß er nachher einer der beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden ist, derjenige, welcher sich unter der damaligen Generation der Primaner in Hannover in Ansehung seines Kopfes am mehrsten auszeichnete – und an den sich Reiser schon vor einigen Jahren anzuschließen gesucht hatte. – Allein die Verschiedenheit ihrer Glücksumstände hatte dieses Aneinanderschließen damals gehindert. –

Da nun aber Reiser angefangen hatte, sich auszuzeichnen, so fing Iffland von selber an, sich an ihn zu schließen – und sie unterredeten sich oft bei ihren einsamen Spaziergängen über ihre künftige Bestimmung in der Welt. – Iffland lebte auch ganz in der Phantasienwelt und hatte sich damals gerade ein sehr reizendes Bild von der angenehmen Lage eines Landpredigers entworfen – er war also entschlossen, Theologie zu studieren, und unterhielt Reisern fast beständig mit der Schilderung jener stillen, häuslichen Glückseligkeit, die er dann im Schoß einer kleinen Gemeinde, die ihn liebte, in seinem Dörfchen genießen würde. – Reiser, welcher dergleichen Spiele der Phantasie aus eigner Erfahrung kannte, prophezeite ihm im voraus, daß er diesen Entschluß zu seinem eignen Besten wohl nie in Erfüllung bringen würde: denn wenn er Prediger würde, so würde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden – er würde mit der größten Hitze des Affekts und mit aller Stärke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spielen. – Ein geheimes Gefühl sagte Reisern, daß dies bei ihm selber wohl der Fall sein würde, darum konnte er jenem so gut den Text lesen. –

Iffland ist nun freilich nicht Prediger geworden – aber es ist doch sonderbar, jene Ideen von häuslicher stiller Glückseligkeit, die er damals so oft gegen Reisern geäußert hat, sind doch nicht verloren gegangen, sondern fast in allen seinen dramatischen Arbeiten realisiert, da er sie in seinem Leben nicht hat realisieren können. –

Da nun aber die Schauspieler wieder nach Hannover kamen, so wurden bei Iffland alle jene reizenden Phantasien von stiller Glückseligkeit auf einem Dorfe sehr bald verdrängt, und die herrschende Idee war nun bei ihm sowie bei Reisern wieder das Theater. –

Iffland war nun einer der vorzüglichsten Mitglieder der Gesellschaft, die sich zum Aufführen der Komödie verbunden hatten, aber hier hatte er dennoch seinen Freund Reiser auch vergessen. –

Diese Vernachlässigung von denen, die er noch für seine besten Freunde hielt, bei einer Sache, die ihm so sehr am Herzen lag wie diese, war ihm äußerst kränkend. – Er sprach mit Iffland darüber, der sich damit entschuldigte, er habe nicht geglaubt, daß Reiser zu der Sache noch Lust habe. – Und was Reisern am meisten kränkte, war, als er hörte, daß er bei der Rollenausteilung nicht etwa Feinde unter der Gesellschaft gehabt, die ihn hätten ausschließen wollen, sondern daß man gar nicht einmal an ihn gedacht, seiner nicht einmal erwähnt hatte. –

Da er sich nun indes erklärte, daß er an der Gesellschaft teilnehmen wolle, so war man ihm nicht zuwider, wenn er mit einer von den Rollen, die noch übrig waren, vorliebnehmen wollte. – Er mußte sich denn hiezu entschließen und erhielt in dem ersten Stück, das aufgeführt wurde, in dem Deserteur aus Kindesliebe, noch die Rolle des Peter, welche ihm freilich nicht die angenehmste war, die er doch aber lieber als gar keine nahm. –

Man wird die Erzählung dieser anscheinenden Kleinigkeiten nicht unwichtig finden, wenn man in der Folge sehen wird, daß sie auf sein künftiges Leben einen großen Einfluß hatten, und daß die Rollenausteilung bei den Komödien, die er mit seinen Mitschülern aufführte, gleichsam ein Bild von einem Teile seines künftigen Lebens war. –

Er wollte sich nicht zudrängen und war doch wieder nicht stark genug, es zu ertragen, wenn man ihn vernachlässigte. –

Da er nun ein Mitglied der theatralischen Gesellschaft geworden war, so verleitete ihn dies zu vielen Ausgaben, die seine Einkünfte überstiegen – und zu vielen Versäumnissen, die seine Einkünfte verminderten. – Er mußte die Gesellschaft zuweilen zu sich bitten, wie es ein jeder tat – und der öftern Proben wegen, die angestellt wurden, manche seiner Unterrichtsstunden, die er gab, versäumen. – Überdem war sein Kopf nun wieder beständig mit Phantasien erfüllt – er war zu keinem anhaltenden und ernsthaften Nachdenken, zu keinem Fleiß im Studieren mehr aufgelegt. –

Es bildeten sich nun schon Schriftstellerprojekte in seinem Kopfe – er wollte ein Trauerspiel ›der Meineid‹ schreiben. – Er sah schon den Komödienzettel angeschlagen, worauf sein Name stand – seine ganze Seele war voll von dieser Idee – und er ging oft wie ein Rasender in seiner Stube wütend auf und nieder, indem er alle die gräßlichen und fürchterlichen Szenen seines Trauerspiels durchdachte und durchempfand. – Der Meineid gereute den Meineidigen zu spät, und Mord und Blutschande war schon die Folge davon gewesen, als er eben im Begriff war, von unaufhörlicher Gewissensangst getrieben, den Meineid durch Aufopferung seines ganzen Vermögens, das er dadurch gewonnen hatte, wieder gutzumachen – und der schmeichelhafteste Gedanke für Reisern war, wenn er dies Stück noch in seinem jetzigen Stande, noch als Schüler vollenden würde, was man denn für Erwartungen von ihm schöpfen – wie es dann noch weit mehr ihm zum Ruhm gereichen müßte. –

Schon in seinem neunten Jahre, da er in die Schreibschule ging, hatte er sich mit einem seiner Mitschüler vorgenommen, daß sie zusammen ein Buch schreiben wollten – und beide schmeichelten sich schon damals mit der Idee, wie ihnen dies zum ewigen Ruhme gereichen würde. – Der Knabe, welcher damals den Entwurf zu dem Buche mit ihm machte, das ihre beiderseitigen Lebensgeschichten enthalten sollte, war ein sehr guter Kopf, der sich aber nachher durch einen übertriebenen Fleiß zugrunde richtete und im siebzehnten Jahre starb. –

Mit diesem spielte er auch schon damals zuweilen, ehe die Stunde anging, und wenn der Lehrer noch nicht da war, Komödie und fand immer in dieser Art von Belustigung ein unbeschreibliches Vergnügen – ob er gleich damals noch gar keine Komödie gesehen, sondern nur aus Erzählungen andrer einen ganz dunklen Begriff davon hatte. – Was aber die Verfertigung des Buchs anbetraf, so war ihm das damals schon eine so erhabene Idee – ein Buch war ihm eine so heilige und wichtige Sache, deren Hervorbringung er kaum einem Sterblichen, wenigstens keinem noch lebenden Sterblichen zutrauete. –

Überhaupt war es ihm noch lange nachher immer eine sonderbare Idee, wenn er hörte, daß die Personen, die irgendein berühmtes Werk geschrieben hatten, noch lebten und also aßen, tranken und schliefen wie er. –

Da er in seinem sechzehnten Jahre zum ersten Male Moses Mendelssohns Schriften las, so kam der Name, der alte Homerskopf auf dem Titel, alles zusammen, um eine sonderbare Täuschung bei ihm hervorzubringen, als ob dieser Moses Mendelssohn irgendein alter Weiser sei, der vor Jahrhunderten gelebt hätte und dessen Schriften nun etwa ins Deutsche übersetzt wären – er trug sich lange mit diesem Wahn herum, bis er einmal zufälligerweise von seinem Vater hörte, daß dieser Mendelssohn noch lebe, daß er ein Jude sei, auf den die ganze jüdische Nation sehr stolz wäre, und daß Reisers Vater ihn selbst in Pyrmont gesehen habe, und wie er aussähe usw. Dies brachte in Reisers Ideenzustande auf einmal eine große Veränderung hervor – seine Vorstellungen vom Alten und Neuen, Gegenwärtigen und Vergangnen mischten sich sonderbar durcheinander. – Er konnte sich nur mit Mühe zu dem Gedanken gewöhnen, sich einen Mann als noch lebend vorzustellen, den seine Einbildungskraft so lange in die vergangnen Jahrhunderte zurückversetzt hatte. – Er dachte sich einen solchen Mann wie eine unter den Menschen wandelnde Gottheit – und solche Menschen einst von Angesicht zu Angesicht zu sehen, mit ihnen sich zu unterreden, das war der höchste seiner Wünsche. –

Und nun hatte er sich doch im Ausdruck seiner Gedanken auf verschiedene Art versucht; er fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein Werk des Geistes gelingen würde, wodurch er sich den Weg in jenen glänzenden Zirkel bahnte und sich das Recht erwürbe, mit Wesen umzugehen, die er bis jetzt noch so weit über sich erhaben glaubte. – Daher schrieb sich vorzüglich mit die Schriftstellersucht, welche schon damals anfing, ihn Tag und Nacht zu quälen. –

Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein höchster Wunsch gewesen; – aber der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit liegen – er wollte ihn gleichsam aus der ersten Hand haben und wollte gern, wie es der natürliche Hang zur Trägheit mit sich bringt, ernten ohne zu säen. – Und so griff nun freilich das Theater am stärksten in seinen Wunsch ein. – Nirgends war jener Beifall aus der ersten Hand so wie hier zu erwarten. – Er betrachtete einen Brockmann, einen Reineck immer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er sie auf der Straße gehen sahe, und was konnte er mehr wünschen, als in den Köpfen anderer Menschen einst ebenso zu existieren, wie diese in seinem Kopfe existierten. – So wie jene Leute vor einer so großen Anzahl von Menschen, als sonst nur selten oder nie versammlet sind, alle die erschütternden Empfindungen der Wut, der Rache, der Großmut nacheinander durchzugehen und sich gleichsam jeder Nerve des Zuschauers mitzuteilen, – das deuchte ihm ein Wirkungskreis, der in Ansehung der Lebhaftigkeit in der Welt nicht seinesgleichen hat. –


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