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Da er nun so schon mit lauter Todesgedanken umging, fügte es sich, daß er das erstemal nach seiner Krankheit wieder zu dem Pastor Paulmann in die Kirche kam. Dieser stand schon auf der Kanzel und predigte über – den Tod.
Das war für Anton ein Donnerschlag; denn da er nun einmal gelernet hatte, nach dem, was ihm von einer besondern göttlichen Führung in den Kopf gesetzt war, alles auf sich zu beziehen – wem anders als ihm sollte nun wohl die Predigt vom Tode gehalten werden? – Mit nicht mehr Herzensangst kann ein Missetäter sein Todesurteil anhören als Anton diese Predigt. – Der Pastor Paulmann fügte zwar Trostgründe gnug gegen die Schrecken des Todes hinzu, aber was verschlug das alles gegen die natürliche Liebe zum Leben, die trotz aller Schwärmereien, wovon Anton den Kopf vollgepropft hatte, dennoch bei ihm die Oberhand behielt.
Niedergeschlagnes und betrübtes Herzens ging er zu Hause, und vierzehn Tage lang machte ihn diese Predigt melancholisch, die der Pastor Paulmann, wenn er gewußt hätte, daß sie noch auf zwei Menschen solche Würkung wie auf Anton tun würde, wahrscheinlich nicht würde gehalten haben.
So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre durch die besondre Führung, die ihm die göttliche Gnade durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, daß er in jedem Augenblick lebend starb. – Der um den Genuß seiner Jugend schändlich betrogen wurde – dem die zuvorkommende Gnade den Kopf verrückte. –
Aber der Frühling kam wieder heran, und die Natur, die alles heilet, fing auch hier allmählich an, wieder gutzumachen, was die Gnade verdorben hatte.
Anton fühlte neue Lebenskraft in sich; er wusch sich, und seine Hände rauchten wieder – es heulten keine Hunde mehr – das Huhn hörte auf zu krähen – und der Pastor Paulmann hielt keine Todespredigten mehr. –
Anton fing wieder an, des Sonntags für sich allein spazieren zu gehen, und einmal fügte es sich, daß er, ohne es erst selbst zu wissen, gerade an das Tor kam, wo er vor ohngefähr anderthalb Jahren mit seinem Vater zuerst von Hannover eingewandert war. Er konnte sich nicht enthalten, hinauszugehn und die mit Weiden bepflanzte breite Heerstraße zu verfolgen, die er damals gekommen war. Sonderbare Empfindungen entwickelten sich dabei in seiner Seele. – Sein ganzes Leben von jener Zeit an – da er zuerst die Schildwache auf dem hohen Walle hin und her gehend erblickte und sich allerlei Vorstellungen machte, wie nun wohl die Stadt inwendig aussehen und wie das Lobensteinsche Haus beschaffen sein würde – stand jetzt auf einmal in seiner Erinnerung da. – Es war ihm, als ob er aus einem Traume erwachte – und nun wieder auf dem Flecke wäre, wo der Traum anhub; – alle die abwechselnden Szenen seines Lebens, die er diese anderthalb Jahre hindurch in Braunschweig gehabt hatte, drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größern Maßstabe, den seine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern. –
So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsre übrige Vorstellungen knüpfen. – Die einzelnen Straßen und Häuser, die Anton täglich wieder sahe, waren das Bleibende in seinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in seinem Leben anschloß, wodurch es Zusammenhang und Wahrheit erhielt, wodurch er das Wachen vom Träumen unterschied. –
In der Kindheit ist es insbesondre nötig, daß alle übrigen Ideen sich an die Ideen des Orts anschließen, weil sie gleichsam in sich noch zu wenig Konsistenz haben und sich an sich selber noch nicht festhalten können.
Es fällt daher auch würklich in der Kindheit oft schwer, das Wachen vom Traume zu unterscheiden; und ich erinnere mich, daß einer unserer größten jetztlebenden Philosophen mir in dieser Rücksicht eine sehr merkwürdige Beobachtung aus den Jahren seiner Kindheit erzählet hat.
Er war wegen einer gewissen bösen Angewohnheit, die bei Kindern sehr gewöhnlich ist, oft mit der Rute gezüchtigt worden. Es hatte ihn aber, wie es auch gewöhnlich ist, immer sehr lebhaft geträumet, er habe sich an die Wand gestellt und ... Wenn er sich nun manchmal bei Tage zu dem Ende wirklich an die Wand gestellt hatte, so fiel ihm die harte Züchtigung ein, die er so oft erlitten hatte, – und er stand oft lange an, ehe er es wagte, einem dringenden Bedürfnis der Natur ein Gnüge zu tun, weil er befürchtete, es möchte wieder ein Traum sein, für den er wieder eine scharfe Züchtigung erwarten müßte – bis er sich erst allenthalben umgesehen und dann auch in Ansehung der Zeit zurückgerechnet hatte, ehe er sich völlig überzeugen konnte, daß er nicht träume.
Auch pflegt man des Morgens beim Erwachen oft noch halb zu träumen, und der Übergang zum Wachen wird allmählich dadurch gemacht, daß man erst anfängt, sich zu orientieren, und wenn man denn nur erst einmal den hellen Schein des Fensters gefaßt hat, so ordnet sich nach und nach alles übrige von selber.
Daher war es sehr natürlich, daß Anton, nachdem er schon einige Wochen in Braunschweig im Lobensteinschen Hause war, des Morgens noch immer glaubte, er träume, wenn er schon wirklich wachte, weil der Stift, woran er sonst immer des Morgens beim Erwachen die Ideen vom vorigen Tage sowohl als von seinem vorigen Leben anknüpfte, und wodurch sie erst Zusammenhang und Wahrheit erhielten, nun gleichsam verrückt war; weil die Idee des Orts nicht mehr dieselbe war.
Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?
In spätern Jahren und insbesondre, wenn man viel gereist ist, verliert sich dies Anschließen der Ideen an den Ort in etwas. Wo man hinkömmt, sieht man entweder Dächer, Fenster, Türen, Steinpflaster, Kirchen und Türme, oder man sieht Wiese, Wald, Acker oder Heide. – Die auffallenden Unterschiede verschwinden; die Erde wird sich überall gleich. –
Wenn Anton in Braunschweig auf der Straße ging, so war es ihm besonders des Abends im Anfange der Dämmerung manchmal plötzlich wie im Traume. – Auch pflegte sich dies bei ihm zu ereignen, wenn er in irgendeine Straße ging, die ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Straße in Hannover zu haben schien. – Dann deuchte ihm einige Augenblicke sein Zustand in Hannover wieder gegenwärtig; die Szenen seines Lebens verwirreten sich untereinander.
Bei seinen Spaziergängen fand er nun immer einen besondern Reiz darin, Gegenden in der Stadt aufzusuchen, wo er noch gar nicht gewesen war. Seine Seele erweiterte sich dann immer, es war ihm, als ob er aus dem engen Kreise seines Daseins einen Sprung gewagt hätte; die alltäglichen Ideen verloren sich, und große angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft eröffneten sich vor ihm.
Allein es war ihm noch nie gelungen, sein ganzes Leben in Braunschweig mit allen seinen mannigfaltigen Veränderungen in einen einzigen vollen Blick zusammenzufassen. Der Ort, wo er sich jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu stark an irgendeinen einzelnen Teil desselben, als daß noch für das Ganze in seiner Denkkraft Platz gewesen wäre; er drehete sich mit seinen Vorstellungen immer in einem engen Zirkel seines Daseins herum.
Um von dem Ganzen seines hiesigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, daß gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wurden, die seine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte desselben hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt wieder versetzt wurde, aus welchem er sein Leben in Braunschweig betrachtete, ehe er es anfing, da es noch wie eine dämmernde Zukunft vor ihm lag.
In diesen Standpunkt wurde er nun gerade versetzt, da er zufälligerweise aus dem Tore ging, durch welches er vor ohngefähr anderthalb Jahren auf der breiten, mit Weiden bepflanzten Heerstraße hereingekommen war und die Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin und her gehen sehen.
Dieser Ort mußte es gerade sein, der ihn durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem Anfange seines hiesigen Lebens befand. – Alles, was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinandergehen, einem Traum ähnlich werden. Denn sein jetziges Dastehen auf der Brücke und den Hohen-Wall-hinaufsehen, wo die Schildwache stand, schloß sich dicht an sein Dastehen und den Hohen-Wall-hinaufsehen vor anderthalb Jahren an. Die Vergangenheit, alle die Szenen des Lebens, das Anton in Braunschweig geführet hatte, stellte er sich jetzt wieder vor, wie er sie sich damals vor anderthalb Jahren noch als zukünftig gedacht hatte, und die zu lebhafte Vorstellung und Wiedererinnerung des Orts machte, daß die Erinnerung an den Zwischenraum der Zeit, welche unterdes verflossen war, verlosch oder schwächer wurde – anders wenigstens läßt sich wohl schwerlich das Phänomen jener sonderbaren Empfindung erklären, die Anton damals hatte, und die ein jeder wenigstens einige Male in seinem Leben gehabt zu haben sich erinnern wird.
Mehr als zehnmal stand Anton auf dem Punkte, nicht wieder in die Stadt zurückzukehren, sondern gerade den Weg vor sich hin wieder nach Hannover zu gehen, wenn ihn nicht der Gedanke an Hunger und Kälte wieder zurückgeschreckt hätte.
Aber von dem Tage an blieb der Vorsatz fest bei ihm, im Lobensteinschen Hause nicht länger mehr zu bleiben, es koste auch, was es wolle. Er wurde daher auch gegen alles gleichgültiger, weil er sich vorstellte, daß es nun nicht lange mehr so dauren würde. Lobenstein selbst fing nun an, seiner so überdrüssig zu werden, daß er endlich nach Hannover an Antons Vater schrieb, dieser möchte seinen Sohn, mit dem nichts anzufangen wäre, nur immer wieder abholen.