Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Ganz an dem einen Ende des halben Zirkels stand ein Jüngling mit blassen Wangen von ausnehmend schöner Bildung. – Reiser konnte seine Augen nicht von den seinigen wenden, die er andachtsvoll gen Himmel schlug. –

Ockord kannte diesen Unglücklichen, der in den Orden der Kartäuser getreten war, weil der Blitz seinen Jugendfreund an seiner Seite erschlagen hatte – und Reisern schwebte das Bild dieses Jünglings von nun an beständig vor der Seele. –

Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer hinter seiner Wohnung zu und sehnte sich in den Bezirk jener stillen Mauren hin, die seiner Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren Täuschungen und Blendwerken ausschlossen. –

Mit jenem Jüngling wollte er dort verblühen und dem Grabe zuwelken – dort wollte er selber sein einsames Gärtchen bauen, – den sanften Strahl der Abendsonne in seiner Zelle begrüßen – und allen irdischen Wünschen und Hoffnungen entnommen mit Ruhe und Heiterkeit dem Tode entgegensehen.

In dieser Stimmung machte er nun auf den alten eingefallnen Mauern hinter seiner Wohnung folgendes Gedicht:

Du stille geweihte Behausung, des Grabes rührendes Vorbild,
Welch eine geheime Empfindung heftet mein Auge voll Tränen
Auf deine einsamen Hütten? Ehrwürd'ger Greis, du Bewohner
Des Orts der Stille und der Andacht, Heil dir! vom leeren Gewimmel
Der gaukelnden Eitelkeit fern und fern vom Geräusche des Stolzes,
Kannst du mit eignen Händen dein einsames Gärtchen dir bauen
Und deine Seele, die oft mit edlem Unwillen strebet,
Aus ihrem Kerker zu fliehen, mit jedem kommenden Tage
Dem Himmel würdiger machen – Heil dir! genieße die Segen
Der göttlichen Einsamkeit ganz, daß dein von Erdegedanken
Schon lang entwöhnter Geist in Engelgefühlen zerfließe
Und zu seinem ewigen Ursprung sich jauchzend emporschwinge – herrlich,
O Greis, war so das Los deiner Tage! Du aber, den Jahre,
Voll Kummer des Lebens durchlebt, noch nicht die sinkende Scheitel
Bereiften, rüst'ger Mann, und du, starker, blühender Jüngling,
Der für die Freuden des Lebens die einsame Zelle sich wählte;
O warst du vielleicht das Ziel der Verachtung, des höhnenden Stolzes?
Betrog dich vielleicht ein falscher Freund? oder fühltest du lebhaft,
Wie alle die Wünsche der Menschen und ihre Hoffnungen alle
So nichtig und doch so stolz sind? War's verbitternder Ekel
Vor diesen schalen, unschmackhaften Freuden des Lebens, der dir einst
Den blumigten Schauplatz der Welt zur traurigen Einöde machte;
Dann wohl auch dir! daß du eine sichere Freistatt vor allen
Den list'gen Ränken der Bosheit fandst und vor dem Geräusche
Der Toren und vor der Verführung des schön gleißenden Lasters
Und vor des Lebens betrüglichen Freuden fandst! – Doch was seh ich?
Im Aug' eine stumme Zähre zittert langsam die Wange
Des Jünglings herab, der abgehärmt und bleich sein gebrochnes,
Hinsterbendes Leben verweinet und wie die lechzende Blume
In schwülen Tagen dahinwelkt. – Der du im geheiligten Kerker
Von keinem Strahl erquickt aus Zwang und Unbedacht schmachtest,
O weine, Jüngling, weine! Dein Gott vergibt dir die Zähren,
Die der unschuldige Wunsch der Natur aus der Seele dir preßte!
O könnt' ich doch meine Tränen mit deinen Tränen vermischen
Und sanften lindernden Trost in deine Seele hinweinen!
Sanftlächelnd geht die Sonn' am Frühlingsabend dir unter,
Noch rötet ihr letzter Strahl mitleidig dein einsames Fenster,
Du legst dich hin auf dein Lager und träumst von künftigen Tagen
Voll glänzender Aussichten, schwimmst in Wonnegefühlen, verlierst dich
In Labyrinthen von Freuden, erwachst vom glücklichen Schlummer
Und siehest – ach, deiner traurigen Zelle öde vier Wänd', und
Kein Strahl von Hoffnung lächelt hinein – o säuselt, Zephire,
Um dieses Jünglings Haus, liebkoset und trocknet mitleidig
Vom Aug' die Zähr' ihm! Blühet, ihr Blumen, in seinem Garten,
Und um seine Fenster erschalle dein tröstendes Lied, Philomele!
Bis der Alliebende einst von des Lebens quälenden Banden
Die leidende Seele befreit, dann wirst du voll zärtlicher Wehmut
Noch oft in durchtaueten Nächten um seine Grabstätte klagen.

Reiser war wirklich so mit ganzer Seele bei den Kartäusern, daß er anfing im Ernst darauf zu denken, wie er auch so abgeschieden von der Welt seine Tage zubringen könnte und dann von allem, was ihn drückte, von seinen Wünschen und Begierden, die ihn quälten, auf einmal und auf immer befreit sein würde. –

Als er schon einige Tage in diesen Gedanken vertieft gewesen war, kam Ockord zu ihm und sagte, daß die Studenten in Erfurt willens wären, eine Komödie zu spielen, und daß einige Rollen noch unbesetzt wären. – –

Diese Anrede wirkte so mächtig auf Reisers Phantasie, daß auf einmal das Kartäuserkloster mit seinen hohen Mauren tief im Hintergrunde stand und die Kulissen mit den Lichtern sich plötzlich wieder vordrängten; da nun Ockord überdem noch hinzufügte, daß man damit umgehe, in dem Stücke, das man aufzuführen willens sei, Reisern eine Rolle anzutragen, so war vollends jeder ernste und melancholische Gedanke wie verschwunden.

Das Stück nämlich, was die Studenten in Erfurt aufführen wollten, hieß Medon oder die Rache des Weisen, und man könnte davon sagen, daß es die ganze Moral in sich enthielt, so erstaunlich viel Tugend wurde von allen Personen darin gepredigt.

In diesem Stücke nun sollte Reiser die Rolle der Clelie, der Geliebten des Medon, übernehmen, weil sich an seinem Kinne noch die wenigste Spur von einem Barte zeigte und weil auch seine Länge als Frauenzimmer eben nicht auffiel, da der, welcher den Medon spielte, von einer fast riesenmäßigen Größe war.

Ohngeachtet der auffallenden Sonderbarkeit dieser Rolle konnte Reiser dennoch seinem Hange, das Theater auf irgendeine Weise zu betreten, nicht widerstehen, um so weniger, da sich ihm die Gelegenheit dazu so ganz ungesucht und von selbst darbot.

Während der Zeit hatte nun der Doktor Froriep nach Hannover geschrieben und sich wegen Reisers Aufführung bei seinem ehemaligen Lehrer, dem Rektor Sextroh, wo er im Hause gewohnt hatte, erkundigt, und dieser hatte ihm ganz wider Reisers Vermuten ein Zeugnis gegeben, welches ihn bei dem Doktor Froriep noch weit mehr in Gunst brachte.

Der Rektor Sextroh hatte nämlich geschrieben, daß man allerdings von den Anlagen dieses jungen Menschen sich viel versprochen hätte. Und dies war für den Doktor Froriep genug, um das Nachteilige, was dies Zeugnis enthielt, mit Schonung und Nachsicht zu betrachten und sich nun Reisers mit verdoppeltem Eifer anzunehmen, um ihm womöglich auch die Gnade des Prinzen wieder zu verschaffen.

Das Zeugnis selbst aber war auch schonend und nachsichtsvoll abgefaßt, ausgenommen einen Punkt, wo man Reisern wegen seiner nächtlichen Spaziergänge im Verdacht der Liederlichkeit gehabt hatte und ihn also gerade einer Sache beschuldigte, wovon er am weitesten entfernt war, weil er schon durch das Drückende seines Zustandes, durch seine Selbstverachtung und selbst durch seine Schwärmereien davon abgehalten wurde.

Dann war sein Hang zum Theater dasjenige, worauf man nicht ohne Grund seine übrigen Unregelmäßigkeiten schob und wodurch damals so viele junge Leute auf der Schule in Hannover waren hingerissen worden. –

Und gerade indem nun dieser Brief ankam, war Reiser schon wieder im Begriff, mit den Studenten in Erfurt Komödie zu spielen. – Der Doktor Froriep widerriet es ihm zwar; da er aber sahe, wie sehr sein Herz daran hing, sahe er ihm auch noch diese Torheit nach und entzog ihm darüber nichts von seiner Gunst.

Die Vorbereitungen zu der Komödie wurden nun gemacht; Reiser lernte die Rolle der Clelie auswendig, und nun wurden häufige Proben gehalten, wodurch Reiser mit dem größten Teil der Studenten in Erfurt bekannt wurde, die sich alle gegen ihn sehr höflich betrugen und alle eine vorteilhafte Meinung von ihm hegten, wodurch er sich in eine Welt versetzt fand, die von derjenigen ganz verschieden war, worin er von Kindheit auf gelebt hatte.

Zwischen diesen Komödienproben versäumte nun Reiser nicht, des Doktor Frorieps Predigerkollegium fleißig zu besuchen. Dies bestand aus einer Anzahl Studenten, die sich in der Kaufmannskirche in Gegenwart des Doktor Froriep und der übrigen Studenten bei verschloßnen Türen im Predigen übten.


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