Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Die Stücke, die noch aufgeführt wurden, waren Clavigo, der Mann nach der Uhr und der Edelknabe. – Er hatte im Deserteur aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Nebenrolle vorlieb genommen und rechnete nun darauf, wenigstens die Rolle des Clavigo zu erhalten – so wie nun alle Wünsche seines Herzens sich auf das Theater hefteten, so waren sie insbesondre auf diese Rolle gleichsam gespannt – und man teilte sie nicht ihm, sondern einem andern zu, der sie offenbar schlechter spielte, wie Reiser sie gespielt haben würde. –

Reisers Kränkung hierüber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stürzte. – Wem dies unwahrscheinlich oder unnatürlich vorkommt, der erwäge, daß sein ganzer Wunsch, den er schon jahrelang bei sich genährt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der Erfüllung oder Nichterfüllung stand, öffentlich vor den versammleten Einwohnern seiner Vaterstadt seine Talente zu entwickeln und zeigen zu können, wie tief er empfand, was er sagte, und wie mächtig er wieder das durch Stimme und Ausdruck zu sagen imstande wäre, was er so tief empfand – solche erschütternde Empfindungen wieder bei Tausenden zu erregen, wie Reineck, der den Clavigo spielte, in ihm erregt hatte, das war für ihn ein so großer, stolzer und die Seele erhebender Gedanke, wie vielleicht nie für irgendeinen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerspiel gewesen sein mag. – Hier wäre nun alles das weit über seine Erwartung erfüllt worden, was er sich schon vor mehr als fünf Jahren gewünscht hatte. – Denn das Auditorium war hier so glänzend und zahlreich, wie es vielleicht nie gewesen sein mochte. – Das Schauspielhaus, welches einige tausend Personen faßte, war so voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und unter den Zuschauern befand sich der Prinz nebst dem ganzen Adel, die Geistlichkeit und die Gelehrten und Künstler der Stadt. – Vor einem solchen Auditorium und dazu in einer Stadt, die beinahe seine Vaterstadt war, worin er erzogen und so mancherlei widerwärtige Schicksale erlebt hatte, sich mit aller der Stärke der Empfindungen und des Ausdrucks, die er bis jetzt nur für sich allein hatte entwickeln können, öffentlich zu zeigen – konnte in seiner Lage wohl etwas Wünschenswerteres für ihn sein? –

Aber vom sterbenden Sokrates an schien der Genius der Schauspielkunst auf ihn zu zürnen.

Er suchte sich die Rolle des Clavigo zu erbitten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; sein Nebenbuhler siegte. –

Dies griff ihn auf seiner verwundbarsten Seite, auf dem zärtlichsten Fleck seines Lebens an – alles übrige wurde ihm nun dadurch verbittert. – Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Clavigo abgetreten hätte, würde so viel darunter verloren haben als er, daß er sie nicht erhielt. – Da sein eigentlicher gegenwärtiger Lebensfleck ihm so verdunkelt war, so zog es sich auch wieder über sein ganzes übriges Leben wie ein Flor; alles hüllte sich ihm in melancholische Trauer – er suchte die Einsamkeit wieder, wo er nur konnte, und fing an, sich in seinem Äußern zu vernachlässigen. –

Philipp Reiser machte indes auf seiner Stube Klaviere und nahm an allen diesen Possen keinen Teil. – Anton Reiser war seit seiner Verbindung mit der dramatischen Gesellschaft selten zu ihm gekommen – jetzt, da es ihm so wenig nach Wunsch ging, besuchte er ihn wieder öfter, hing bei ihm seiner Schwermut nach, ohne ihm doch den eigentlichen Grund davon zu sagen – denn er wollte sich gegen sich selbst nicht einmal recht merken lassen, daß seine Schwermut bloß davon herrührte, weil er die Rolle des Clavigo nicht erhalten hatte, sondern er wollte sich lieber überreden, daß dieselbe eine Folge von seiner Betrachtung des menschlichen Lebens überhaupt sei. –

Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er die Rolle des Clavigo nicht erhielt, sein Aufenthalt in Hannover lästig, er fing von der Zeit an, unstet und flüchtig zu werden. – Sein jahrelanger sehnlichster Wunsch mußte in Erfüllung gebracht werden, mochte es nun auch sein, wo es wollte – er mußte irgendwo alles das wirklich machen, was bis jetzt durch eine so lang anhaltende Komödienlektüre und seinen schon so lange fortdaurenden Hang zum Theater in seiner Phantasie reif geworden war. –

Als der Clavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß Iffland als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer alle auf ihn allein hingeheftet und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts wie unter der Menge verloren ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Clavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker Empfindenden, gebührt hätte. –

Nach alle den vorhergehenden Situationen, worin er sich seit Jahren befunden hatte, war ihm nun die Rolle des Clavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das durch tausend drückende Lagen einmal ganz unter die Herrschaft der Phantasie zurückgedrängt war, die nun über dasselbe ihre Rechte ausüben wollte. – – Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun sprang sie. –

Als diese schreckliche Probe vorbei war, so fand sich Reiser wieder ganz allein, ohne einen Freund, ohne einen, der sich seiner annahm. – Er wollte doch jemanden seinen Kummer klagen und ging zu Iffland, der sich von dem Augenblick fester wie jemals an ihn schloß: weil gerade dasselbe Bedürfnis bei ihm war, was Reisern zu ihm trieb. –

Ifflands Phantasie war ebenfalls bis auf den höchsten Grad gespannt, und sein Hang zum Theater überwiegend geworden, er bedurfte einen, dem er seine geheimsten Wünsche und seinen Kummer entdecken konnte. –

Nun hatten sein Vater und sein älterer Bruder nicht ohne Grund befürchtet, daß der Hang zum Theater durch den großen Beifall, den er sich durch sein Spiel erwarb, zu sehr genährt und am Ende überwiegend werden möchte, und ihm daher untersagt, an den dramatischen Übungen ferner teilzunehmen, wogegen er nun freilich alle möglichen Einwendungen machte und eben jetzt noch deswegen mit seinem Vater in Unterhandlung stand. – Er machte nun Reisern zum Vertrauten von seinem Vorsatz, sich ganz dem Theater zu widmen, so wie er ehmals mit ihm über seinen Entschluß, ein Dorfprediger zu werden, gesprochen hatte. – Die Rolle, welche Iffland schon gespielt hatte, war der Deserteur im Deserteur aus Kindesliebe und der Jude im Diamant, der als Nachspiel zum Deserteur gegeben wurde. – Den Juden hatte er so meisterhaft gespielt, daß er nachher mit ebendieser Rolle unter Ekhofs Augen debütierte und seine theatralische Laufbahn eröffnete – so wie er sich nun durch den Juden im höchsten Komischen gezeigt hatte, so zeigte er sich durch den Beaumarchais im höchsten Tragischen, und sein Spiel war wirklich in dieser letztern Rolle so hinreißend, daß man Brockmann selbst zu hören und zu sehen glaubte; und das Vergnügen, sich in dieser Rolle öffentlich zu zeigen, sollte ihm nun verleidet werden. – Er nötigte Reisern, die Nacht bei ihm auf seiner Stube zu bleiben, wo sie sich denn in reizenden Träumen von der Glückseligkeit, die der Stand eines Schauspielers gewährte, verloren, bis sie beide darüber einschliefen. –

Jetzt waren sie beide fast unzertrennlich und Tag und Nacht beisammen. – Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden. – Die Idee wurde in beider Köpfen so rege, daß nicht viel fehlte, sie hätten sie gleich ins Werk gerichtet – indes wollte doch Iffland womöglich in Hannover noch seinen Beaumarchais spielen – sie kehrten also nach der Stadt wieder um – so sehr sich nun auch Iffland für Reisern mit bewarb, so war es doch unmöglich, daß dieser die Rolle des Clavigo erhalten konnte – statt dessen trat ihm endlich der, welcher den Clavigo spielte, den Fürsten im Edelknaben ab – und in dem Manne nach der Uhr erhielt Reiser die Rolle des Magister Blasius. –

Reiser war nun darüber melancholisch, daß er den Clavigo nicht spielen sollte, und Iffland, daß er überhaupt nicht mehr mit Komödie spielen sollte – beide aber suchten sich zu überreden, daß sie des Lebens um sein selbst willen überdrüssig wären, und luden sich einmal des Nachts zwei Pistolen, womit sie fast die ganze Nacht hindurch Kurzweil trieben, indem sie ›sein oder nicht sein‹ hertragierten. –

Bei Reisern ging indes der Lebensüberdruß in der Tat so weit, daß er nicht aus der Stelle wich, wenn Iffland die geladene Pistole auf ihn hielt und den Finger anlegte, um sie abzudrücken, indes Reiser ebendasselbe wieder gegen ihn tat. –

Am andern Tage aber hatte er einen etwas ernsthaftern Auftritt mit Philipp Reisern, den er besuchte. – Er hatte die Nacht nicht geschlafen, eine dumme Trägheit blickte aus seinen hohlen Augen hervor, der Lebensüberdruß saß auf seiner Stirne, alle Spannkraft seiner Seele war dahin – er sagte zu Philipp Reisern guten Tag! – und dann stand er da wie ein Stock. –

Philipp Reiser, der ihn schon öfter aber noch nie in dem Grade in einem solchen Zustand der Erschlaffung gesehen hatte und der nun zu fürchten anfing, daß es wohl gänzlich mit ihm vorbei sein möchte – tat ihm im ganzen Ernst den Vorschlag, daß er ihn totschießen wollte, ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm würde, wie jetzt der Fall wäre. – Mit Philipp Reisern, dessen Begriffe ebenfalls romanhaft und überspannt waren, war in solchen Fällen nicht zu spaßen. – Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch für jetzt und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Erschlaffung wieder erholen würde. –


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