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In Pyrmont, einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahre 1756 ein Edelmann auf seinem Gute, der das Haupt einer Sekte in Deutschland war, die unter dem Namen der Quietisten oder Separatisten bekannt ist, und deren Lehren vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fénelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte.
Der Herr von Fleischbein, so hieß dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts und ihrer Religion, Sitten und Gebräuchen ebenso abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab.
Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiß eine ganz andre Verfassung als rund umher im ganzen Lande herrschte. Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstboten bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging oder zu gehen schien, in ihr ›Nichts‹ (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ›ertöten‹ und alle ›Eigenheit‹ auszurotten.
Alle diese Personen mußten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Herr von Fleischbein selbst eingerichtet hatte, und welcher darin bestand, daß sie sich alle um einen Tisch setzten und mit zugeschloßnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder das ›innre Wort‹ in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den übrigen bekannt.
Der Herr von Fleischbein bestimmte auch die Lektüre seiner Leute, und wer von den Knechten oder Mägden eine müßige Viertelstunde hatte, den sahe man nicht anders als mit einer von der Mad. Guion Schriften, vom ›innern Gebet‹ oder dergleichen, in der Hand in einer nachdenkenden Stellung sitzen und lesen.
Alles bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges und feierliches Ansehn. In allen Mienen glaubte man ›Ertötung‹ und ›Verleugnung‹ und in allen Handlungen ›Ausgehen aus sich selbst‹ und ›Eingehen ins Nichts‹ zu lesen.
Der Herr von Fleischbein hatte sich nach dem Tode seiner ersten Gemahlin nicht wieder verheiratet, sondern lebte mit seiner Schwester, der Frau von Prüschenk, in dieser Eingezogenheit, um sich dem großen Geschäfte, die Lehren der Mad. Guion auszubreiten, ganz und ungestört widmen zu können.
Ein Verwalter, namens H., und eine Haushälterin mit ihrer Tochter machten gleichsam den mittlern Stand des Hauses aus, und dann folgte das niedrige Gesinde. – Diese Leute schlossen sich wirklich fest aneinander, und alles hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen den Herrn von Fleischbein, der wirklich einen unsträflichen Lebenswandel führte, obgleich die Einwohner des Orts sich mit den ärgerlichsten Geschichten von ihm trugen.
Er stand jede Nacht dreimal zu bestimmten Stunden auf, um zu beten, und bei Tage brachte er seine meiste Zeit damit zu, daß er die Schriften der Mad. Guion, deren eine große Anzahl von Bänden ist, aus dem Französischen übersetzte, die er denn auf seine Kosten drucken ließ und sie umsonst unter seine Anhänger austeilte.
Die Lehren, welche in diesen Schriften enthalten sind, betreffen größtenteils jenes schon erwähnte völlige Ausgehen aus sich selbst und Eingehen in ein seliges Nichts, jene gänzliche Ertötung aller sogenannten ›Eigenheit‹ oder ›Eigenliebe‹ und eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott, worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommne, selige ›Ruhe‹ entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist.
Weil nun die Mad. Guion sich fast ihr ganzes Leben hindurch mit nichts als mit Bücherschreiben beschäftigt hat, so sind ihrer Schriften eine so erstaunliche Menge, daß selbst Martin Luther schwerlich mehr geschrieben haben kann. Unter andern macht allein eine mystische Erklärung der ganzen Bibel wohl an zwanzig Bände aus.
Diese Mad. Guion mußte viel Verfolgung leiden und wurde endlich, weil man ihre Lehrsätze für gefährlich hielt, in die Bastille gesetzt, wo sie nach einer zehnjährigen Gefangenschaft starb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet. Sie wird übrigens noch itzt von ihren Anhängern als eine Heilige der ersten Größe beinahe göttlich verehrt, und ihre Aussprüche werden den Aussprüchen der Bibel gleich geschätzt; weil man annimmt, daß sie durch gänzliche Ertötung aller ›Eigenheit‹ so gewiß mit Gott sei vereinigt worden, daß alle ihre Gedanken auch notwendig göttliche Gedanken werden mußten.
Der Herr von Fleischbein hatte die Schriften der Mad. Guion auf seinen Reisen in Frankreich kennen gelernt, und die trockne, metaphysische Schwärmerei, welche darin herrscht, hatte für seine Gemütsbeschaffenheit so viel Anziehendes, daß er sich ihr mit eben dem Eifer ergab, womit er sich wahrscheinlich unter andern Umständen dem höchsten Stoizismus würde ergeben haben, womit die Lehren der Mad. Guion in Ansehung der gänzlichen Ertötung aller Begierden usw. oft eine auffallende Ähnlichkeit haben.
Er wurde nun auch von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt und ihm wirklich zugetrauet, daß er beim ersten Anblick das Innerste der Seele eines Menschen durchschauen könne.
Zu seinem Hause geschahen Wallfahrten von allen Seiten, und unter denen, die jährlich wenigstens einmal dieses Haus besuchten, war auch Antons Vater.
Dieser, ohne eigentliche Erziehung aufgewachsen, hatte seine erste Frau sehr früh geheiratet, immer ein ziemlich wildes, herumirrendes Leben geführt, wohl zuweilen einige fromme Rührungen gehabt, aber nicht viel darauf geachtet. Bis er nach dem Tode seiner ersten Frau plötzlich in sich geht, auf einmal tiefsinnig und, wie man sagt, ein ganz andrer Mensch wird und bei seinem Aufenthalt in Pyrmont zufälligerweise erstlich den Verwalter des Herrn von Fleischbein und nachher durch diesen den Herrn von Fleischbein selber kennen lernte.
Dieser gibt ihm denn nach und nach die Guionschen Schriften zu lesen, er findet Geschmack daran und wird bald ein erklärter Anhänger des Herrn von Fleischbein.
Demohngeachtet fiel es ihm ein, wieder zu heiraten, und er machte mit Antons Mutter Bekanntschaft, welche bald in die Heirat willigte, das sie nie würde getan haben, hätte sie die Hölle von Elend vorausgesehen, die ihr im Ehestande drohete. Sie versprach sich von ihrem Manne noch mehr Liebe und Achtung, als sie vorher bei ihren Anverwandten genossen hatte, aber wie entsetzlich fand sie sich betrogen.
So sehr die Lehre der Mad. Guion von der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften mit der harten und unempfindlichen Seele ihres Mannes übereinstimmte, so wenig war es ihr möglich, sich jemals mit diesen Ideen zu verständigen, wogegen sich ihr Herz auflehnte.
Dies war der erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht.
Ihr Mann fing an, ihre Einsichten zu verachten, weil sie die hohen Geheimnisse nicht fassen wollte, die die Mad. Guion lehrte.
Diese Verachtung erstreckte sich nachher auch auf ihre übrigen Einsichten, und je mehr sie dies empfand, je stärker mußte notwendig die eheliche Liebe sich vermindern und das wechselseitige Mißvergnügen aneinander mit jedem Tage zunehmen.
Antons Mutter hatte eine starke Belesenheit in der Bibel und eine ziemlich deutliche Erkenntnis von ihrem Religionssystem, sie wußte z. E. sehr erbaulich davon zu reden, daß der Glaube ohne Werke tot sei, usw.
In der Bibel las sie wirklich zu ganzen Stunden mit innigem Vergnügen, aber sobald ihr Mann es versuchte, ihr aus den Guionschen Schriften vorzulesen, so empfand sie eine Art von Bangigkeit, die vermutlich aus der Vorstellung entstand, sie werde dadurch in dem rechten Glauben irregemacht werden.
Sie suchte sich alsdann auf alle Weise loszumachen. – Hiezu kam nun noch, daß sie vieles von der Kälte und dem lieblosen Wesen ihres Mannes auf Rechnung der Guionschen Lehre schrieb, die sie nun in ihrem Herzen immer mehr zu verwünschen anfing, und bei dem völligen Ausbruch der ehelichen Zwietracht sie laut verwünschte.
So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig wie der andere verstehen mochte.
Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward.
Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.
Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten und ihm doch einer so nahe wie der andre war.
In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.
Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen.
Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.