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Seine Freundschaft mit Philipp Reisern konnte ihm damals nicht zustatten kommen, weil es jenem nicht viel besser ging – und so wie zwei Wandrer, die zusammen in einer brennenden Wüste in Gefahr vor Durst zu verschmachten sind, indem sie forteilen, eben nicht imstande sind, viel zu reden und sich wechselsweise Trost einzusprechen, so war dies auch jetzt der Fall zwischen Anton Reisern und Philipp Reisern.
Allein eben der G..., welcher einst den sterbenden Sokrates gespielt hatte, wovon Reiser noch immer den Spottnamen trug, entschloß sich, bei ihm zu ziehen, und war auch gerade in denselben Umständen wie Reiser, nur mit dem Unterschiede, daß er durch wirkliche Liederlichkeit hineingeraten war – an ihm fand also Reiser nun einen würdigen Stubengesellschafter.
Es dauerte nicht lange, so zog auch der Bauernsohn, namens M., zu diesen beiden, der ebenfalls in keinen bessern Umständen war. – Es fand sich also hier eine Stubengesellschaft von drei der ärmsten Menschen zusammen, die vielleicht nur je zwischen vier Wänden eingeschlossen waren. –
Mancher Tag ging hin, wo sie sich alle drei mit nichts als gekochtem Wasser und etwas Brot hinhielten. – Indes hatten G... und M... doch noch einige Freitische. –
G... war im Grunde ein Mensch von Kopf, der sehr gut sprach, und gegen den Reiser sonst immer viel Achtung empfunden hatte.
Einmal bekamen beide auch noch eine Anwandlung von Fleiß und fingen an, Virgils Eklogen zusammen zu lesen, wobei sie wirklich das reinste Vergnügen genossen, nachdem sie eine Ekloge mit vieler Mühe für sich selbst herausgebracht hatten, und nun ein jeder eine Übersetzung davon niederschrieb – allein dies konnte natürlicherweise unter den Umständen nicht lange dauern – sobald ein jeder seine Lage wieder lebhaft empfand, so war aller Mut und Lust zum Studieren verschwunden. –
In Ansehung der Kleidung war es mit G... und M ... ebenso schlecht wie mit Reisern bestellt – sie machten daher, wenn sie ausgingen, zusammen einen Aufzug, der das wahre Bild der Liederlichkeit und Unordnung schien, so daß man mit Fingern auf sie wies, weswegen sie denn auch immer auf Abwegen und durch enge Straßen aus der Stadt zu kommen suchten, wenn sie spazieren gingen.
Diese drei Leute führten nun auch völlig ein Leben, wie es mit ihrem Zustande übereinstimmte – sie blieben oft den ganzen Tag im Bette liegen – oft saßen sie alle drei zusammen, den Kopf auf die Hand gestützt, und dachten über ihr Schicksal nach; oft trennten sie sich, und ein jeder ließ für sich seiner Laune freien Lauf – Reiser ging auf den Boden und musterte seine Kirschkerne – M... ging bei sein großes Brot, das er sorgfältig in einem Koffer verschlossen hatte – und G... lag auf dem Bette und machte Projekte, die denn nicht die besten waren, wie sich bald nachher zeigte. – Zwei Bücher las doch Reiser damals, weil er kein anders hatte, zu verschiedenen Malen durch, indem er auf dem Boden zwischen seinen Kirschkernen saß – das waren die Werke des Philosophen von Sanssouci und Popens Werke nach Duschens Übersetzung, die er beide von dem Schuster Schantz geliehen bekommen hatte.
Diese drei Leute gingen nun auch eines Tages zusammen in einer schönen Gegend von Hannover längs dem Fluß spazieren, in welchem sich eine kleine Insel erhob, die ganz voller Kirschbäume stand. –
Für unsre drei Abenteurer waren diese Kirschbäume, die alle voll der schönsten Kirschen saßen, ein so einladender Anblick, daß sie sich des Wunsches nicht enthalten konnten, auf diese Insel versetzt zu sein, um sich an dieser herrlichen Frucht nach Gefallen sättigen zu können.
Nun fügte es sich gerade, daß eine Menge Floßholz den Fluß hinuntergeschwommen kam, welches sich in der Verengung des Flusses zwischen dem Ufer und der Insel zuweilen stopfte und eine anscheinende Brücke bis zu der Insel bildete.
Unter G...s Anführung, der in der Ausführung solcher Projekte schon geübt zu sein schien, wurde nun ein Wagestück unternommen, das leicht allen dreien das Leben hätte kosten können. – Sie zogen nämlich da, wo das Floßholz sich gestopft hatte, ein Stück nach dem andern aus dem Wasser heraus und trugen es alle auf einen Fleck, wo ihnen die Passage über den Fluß zwischen dem Ufer und der Insel am engsten zu sein schien, und nun bauten sie die Brücke, worüber sie gehen wollten, erst vor sich her, indem sie ein Stück Holz nach dem andern vor sich hinwarfen, um festen Fuß zu fassen – natürlicherweise mußte diese Brücke unter ihnen zu sinken anfangen, und sie kamen sehr tief ins Wasser, ehe sie kaum die Hälfte ihres gefährlichen Weges zurückgelegt hatten – endlich landeten sie denn doch, obgleich mit Lebensgefahr, auf der Insel an. –
Und nun bemächtigte sich aller dreier auf einmal ein Geist des Raubes und der Gier, daß ein jeder über einen Kirschbaum herfiel und ihn mit einer Art von Wut plünderte. –
Es war, als hätte man eine Festung mit Sturm erobert; man wollte für die überstandene Gefahr, die man sich selbst gemacht hatte, Ersatz haben und dafür belohnt sein.
Da man sich sattgegessen hatte, wurden alle Taschen, Schnupftücher, Halstücher, Hüte, und was nur etwas in sich fassen konnte, von Kirschen vollgestopft – und in der Dämmerung wurde der Rückweg über die gefährliche Brücke, wovon indes schon ein Teil weggeschwommen war, wieder angetreten und ohngeachtet der Beute, womit die Abenteurer belastet waren, mehr durch Zufall als Geschicklichkeit oder Behutsamkeit, glücklich geendet. –
Reiser fand sich zu dergleichen Expeditionen gar nicht übel aufgelegt – dies deuchte ihm eigentlich nicht Diebstahl, sondern nur gleichsam eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu sein, die wegen des Muts, der dabei erfordert wird, immer noch eine ehrenvolle Sache ist. –
Und wer weiß, zu welchen Wagestücken von der Art er noch unter G...s Anführung mit geschritten wäre, wenn er länger bei diesem gewohnt hätte. –
Allein dieser G... gehörte denn doch im Grunde mehr zu den abgefeimten als zu den herzhaften Parteigängern – denn er war niederträchtig genug, selbst seine beiden Stubengesellschafter und Gefährten, Reisern und M..., zu bestehlen, indem er ihnen ein paar Bücher und andre Sachen, die sie noch hatten, nahm und heimlich verkaufte, wie sich nachher zeigte. –
Kurz, dieser G..., mit dem Reiser so nahe zusammen wohnte, war im Grunde ein abgefeimter Spitzbube, der, wenn er den ganzen Tag über auf dem Bette lag und nachsann, auf nichts als Bübereien dachte, die er ausführen wollte – und der demohngeachtet von Tugend und Moralität sprechen konnte wie ein Buch, wodurch er Reisern zuerst eine solche Ehrfurcht gegen ihn eingeflößt hatte.
Denn von der Tugend hatte er sich damals ein sonderbares Ideal gemacht, welches seine Phantasie so sehr einnahm, daß ihn oft schon der Name Tugend bis zu Tränen rührte. –
Er dachte sich aber unter diesem Namen etwas viel zu Allgemeines und dachte dies Allgemeine viel zu dunkel und mit zu weniger Anwendung auf besondre Vorfälle, als daß es ihm je hätte gelingen können, auch den aufrichtigsten Vorsatz, tugendhaft zu sein, auszuführen – denn er dachte immer nicht daran, wo er nun eigentlich anfangen sollte. –
Einmal kam er an einem schönen Abend von einem einsamen Spaziergang zu Hause, und der Anblick der Natur hatte sein Herz zu sanften Empfindungen geschmolzen, daß er viele Tränen vergoß und sich in der Stille gelobte, von nun an der Tugend ewig getreu zu sein! – und da er diesen Vorsatz fest gefaßt hatte, so empfand er ein so himmlisches Vergnügen über diesen Entschluß, daß es ihm nun fast unmöglich schien, je von diesem beglückenden Vorsatze wieder abzuweichen. – Mit diesen Gedanken schlief er ein – und da er am Morgen erwachte, so war es wieder so leer in seinem Herzen; die Aussicht auf den Tag war so trübe und öde; alle seine äußern Verhältnisse waren so unwiederbringlich zerrüttet; ein unüberwindlicher Lebensüberdruß trat an die Stelle der gestrigen Empfindung, womit er einschlief – er suchte sich vor sich selbst zu retten und machte den Anfang tugendhaft zu sein damit, daß er auf den Boden ging und in Schlachtordnung gestellte Kirschkerne zerschmetterte. –
Dies nun zu unterlassen und statt dessen etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine Ekloge zu lesen, wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen – aber auf diesen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmütigen Entschlusse nicht gefaßt gemacht.
Wenn man die Begriffe der Menschen von der Tugend prüfen wollte, so würden sie vielleicht bei den meisten auf ebensolche dunkle und verworrene Vorstellungen hinauslaufen – und man sieht wenigstens hieraus, wie unnütz es ist, im allgemeinen und ohne Anwendung auf ganz besondre und oft geringfügig scheinende Fälle von Tugend zu predigen. –
Reiser wunderte sich damals oft selbst darüber, wie seine plötzliche Anwandlung von Tugendeifer so bald verrauchen und gar keine Spur zurücklassen konnte – aber er erwog nicht, daß Selbstachtung, welche sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen konnte, die Basis der Tugend ist – und daß ohne diese das schönste Gebäude seiner Phantasie sehr bald wieder zusammenstürzen mußte.
Sooft es ihm während dieses Zustandes noch möglich gewesen war, einige Groschen zusammenzubringen, so oft hatte er sie auch in die Komödie getragen – da aber die Schauspielergesellschaft in der Mitte des Sommers wieder wegzog, so war nun eine Wiese vor dem neuen Tore nicht nur das Ziel seiner Spaziergänge, sondern fast sein immerwährender Aufenthalt – er lagerte sich hier zuweilen den ganzen Tag auf einen Fleck im Sonnenschein hin oder ging längs dem Flusse spazieren und freute sich vorzüglich, wenn er in der heißen Mittagsstunde keinen Menschen um sich her erblickte. –
Indem er hier ganze Tage lang seinen melancholischen Gedanken nachhing, näherte sich seine Einbildungskraft unvermerkt mit großen Bildern, welche sich erst ein Jahr nachher allmählich zu entwickeln anfingen. –
Sein Lebensüberdruß aber wurde dabei aufs äußerste getrieben – oft stand er bei diesen Spaziergängen am Ufer der Leine, lehnte sich in die reißende Flut hinüber, indes die wunderbare Begier zu atmen mit der Verzweiflung kämpfte und mit schrecklicher Gewalt seinen überhängenden Körper wieder zurückbog. –