Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Indem er nun so in schwermütige Gedanken vertieft einherging und schon nahe am Tore war, schoß auf einmal wie ein Blitz ein Gedanke durch seine Seele, der alles aufhellte und wodurch sich ihm alles wieder in einem schönern Lichte malte – er erinnerte sich, daß er schon zu Hause bei seinen Eltern gehört hatte, es wäre eine Schauspielergesellschaft nach Hannover gekommen, die den Sommer über dort spielen würde. – Dies war die damalige Ackermannsche Truppe, welche fast alle die jetzt hin und her zerstreuten Zierden aller Bühnen Deutschlands in sich vereinigte. –

Mit schnellen Schritten eilte nun Reiser der Stadt zu, die ihm vorher so verhaßt und nun plötzlich wieder über alles lieb geworden war – ohne erst zu Hause zu gehen (es war noch Vormittag, denn er war die Nacht an einem Orte unterwegens geblieben, von welchem er nur noch ein paar Meilen bis nach Hannover zu gehen hatte), eilte er sogleich nach dem Schlosse, wo er wußte, daß der Komödienzettel mit dem Personenverzeichnis angeschlagen war, und las, daß man an demselben Abend noch Emilia Galotti aufführen würde. –

Sein Herz schlug ihm für Freuden, da er dies las, gerade dies Stück, bei dem er schon so manche Träne geweint und so oft bis ins Innerste der Seele erschüttert worden, und was bis jetzt nur noch in seiner Phantasie aufgeführt war, nun auf dem Schauplatz mit aller möglichen Täuschung wirklich dargestellt zu sehn. –

Er wäre den Abend nicht aus der Komödie geblieben, hätte es auch kosten mögen, was es gewollt hätte – da er nun zu Hause kam, so wurde die Stube, worin er schlief, geweißt und etwas darin gebaut, wodurch sie ganz unbewohnbar gemacht wurde. – Dieser mißtröstende Anblick des Orts seines eigentlichsten Aufenthalts trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn umgebenden Welt hinaus – er schmachtete nach der Stunde, wann das Schauspiel anheben würde.

Wohin er kam, konnte er seine Freude nicht verbergen; da er bei der Frau Filter in die Stube trat, war sein erstes Wort die Komödie, welches sie ihm lange nachher vorwarf – und ebenso war es, da er zu seinem Vetter, dem Perückenmacher, kam, wo er nun einige Nächte auf dem Boden schlafen mußte, während daß seine Stube in dem Hause des Rektors erst wieder bewohnbar gemacht wurde. –

Folgende Rollenbesetzung mag ohngefähr einen Begriff davon geben, was Emilia Galotti als das erste Schauspiel, das er in dieser Stimmung der Seele sahe, für eine Wirkung auf ihn müsse gehabt haben.

Die verstorbene Charlotte Ackermann spielte die Emilia, ihre Schwester die Orsina, und die Reinecken spielte die Claudia, Borchers den Odoardo, Brockmann den Prinzen, Reineck den Appiani und Dauer den Conti. – Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder so aufgeführt worden sein?

Wie mächtig mußte Reisers Seele hier eingreifen; da sie nun die Welt ihrer Phantasie gewissermaßen wirklich gemacht fand! – Er dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr als das Theater und schien nun für alle seine Aussichten und Hoffnungen im Leben gänzlich verloren zu sein. –

Was er nun irgend an Geld auftreiben konnte, das wurde zur Komödie angewandt, aus welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben konnte, wenn er es sich auch am Munde abdarben sollte. – Um der Komödie willen aß er oft den ganzen Tag über nichts als etwas Salz und Brot, wenn ihm nicht etwa die alte Mutter des Rektors Essen auf seine Stube schickte, welches sie doch zuweilen aus Mitleid tat. –

Und weil es nun Sommer war, so genoß er auch der Wonne, auf seiner Stube wieder allein sein zu können – welches ihm mehr wert war als die köstlichsten Speisen, die er hätte genießen können. –

Die Aussicht auf die Komödie am Abend tröstete ihn, wenn er am Morgen zu einem traurigen Tage erwachte, wie er denn nie anders erwachte. – Denn die Verachtung und der Spott seiner Mitschüler und das dadurch erregte Gefühl seiner eignen Unwürdigkeit, welches er allenthalben mit sich umhertrug, dauerte noch immer fort und verbitterte ihm sein Leben. – Und alles, was er tat, um sich hievon loszureißen, war im Grunde eine bloße Betäubung seines innern Schmerzes und keine Heilung desselben, – sie erwachte mit jedem Tage wieder, und während daß seine Phantasie ihm manche Stunde lang ein täuschendes Blendwerk vormalte, verwünschte er doch im Grunde sein Dasein. –

Die häufigen Tränen, welche er oft beim Buche und im Schauspielhause vergoß, flossen im Grunde ebensowohl über sein eignes Schicksal als über das Schicksal der Personen, an denen er teilnahm, er fand sich immer auf eine nähere oder entferntere Weise in dem unschuldig Unterdrückten, in dem Unzufriednen mit sich und der Welt, in dem Schwermutsvollen und dem Selbsthasser wieder. –

Die drückende Hitze im Sommer trieb ihn oft aus seiner Stube in die Küche oder in den Hof hinunter, wo er sich auf einen Holzhaufen setzte und las und oft sein Gesicht verbergen mußte, wenn etwa jemand hereintrat und er mit rotgeweinten Augen dasaß. –

Das war wieder the Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte.

Dies ging so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten, als z. B. bei der Jagd, mehr weinte als lachte – was aber auch ein solches Stück damals für Wirkung tun mußte, kann man wieder aus der Rollenbesetzung schließen, indem die Charlotte Ackermann Röschen, ihre Schwester Hannchen, die Reinecken die Mutter, Schröder den Töffel, Reineck den Vater und Dauer den Christel spielte. –

Wenn irgend äußere Umstände fähig waren, jemanden einen entschiednen Geschmack am Theater beizubringen, so war es, Reisers Vorliebe und seine besondern Verhältnisse abgerechnet, der Zufall, welcher diese vortrefflichen Schauspieler damals in eine Truppe zusammenbrachte.

Man kann nun leicht schließen, wie Romeo und Julie, die Rache von Young, die Oper Klarisse, Eugenie, welche Stücke auf Reisern den stärksten Eindruck machten, gegeben werden mußten. –

Dies hatte nun auch so sehr alle seine Gedanken eingenommen, daß er alle Morgen den Komödienzettel gleichsam verschlang und alles, auch das: der Anfang ist präzise um halb sechs Uhr und der Schauplatz ist auf dem königlichen Schloßtheater, gewissenhaft mitlas – und für einen vorzüglichen Schauspieler, den er etwa auf der Straße erblickte, fast so viel Ehrfurcht wie ehemals gegen den Pastor Paulmann in Braunschweig empfand. – Alles, was zum Theater gehörte, war ihm ehrwürdig, und er hätte viel darum gegeben, nur mit dem Lichtputzer Bekanntschaft zu haben.

Vor zwei Jahren hatte er schon den Herkules auf dem Oeta, den Grafen von Olsbach und die Pamela spielen sehen, wo Ekhof, Böck, Günther, Hensel, Brandes nebst seiner Frau und die Seilerin die vorzüglichsten Rollen spielten, und schon von jener Zeit her schwebten die rührendsten Szenen aus diesen Stücken noch seinem Gedächtnis vor, worunter Günther als Herkules, Böck als Graf von Olsbach und die Brandes als Pamela fast jeden Tag wechselsweise einmal in seine Gedanken gekommen waren – und mit diesen Personen hatte er denn auch bis zur Ankunft der Ackermannschen Truppe die Stücke, die er las, in seiner Phantasie größtenteils aufgeführt. –

Es fügte sich also gerade bei ihm, daß er, wenn jene mit diesen zusammengenommen wurden, nun alle die vorzüglichsten Schauspieler Deutschlands zu sehen bekommen hatte, die jetzt in ganz Deutschland zerstreut sind. –

Dadurch bildete sich ein Ideal von der Schauspielkunst in ihm, das nachher nirgends befriedigt wurde und ihm doch weder Tag und Nacht Ruhe ließ, sondern ihn unaufhörlich umhertrieb und sein Leben unstät und flüchtig machte. –

Weil er ehemals Böck und jetzt Brockmannen die Rollen spielen sahe, wobei am meisten geweint wurde, so waren diese auch seine Lieblingsakteurs, mit denen sich seine Gedanken immer am meisten beschäftigten. –

Allein bei alle den glänzenden Szenen, die aus der Theaterwelt beständig seiner Phantasie vorschwebten, wurden seine äußern Umstände von Tage zu Tage zu schlechter. – Er verlor immer mehr in der Achtung der Menschen, geriet immer tiefer in Unordnung, – seine Kleidung und Wäsche wurden immer schlechter, so daß er am Ende Scheu trug, sich vor Menschen sehen zu lassen – er versäumte daher, so oft er konnte, die Schule und das Chor und hungerte lieber, als daß er irgendeinen seiner noch übrigen Freitische besucht hätte, ausgenommen den bei dem Schuster Schantz, wo er auch unter diesen mißlichen Umständen noch immer gastfreundlich empfangen und mit der liebreichsten Art bewirtet wurde. –

Da nun dem Rektor endlich Reisers inkorrigible Unordnung und insbesondere das immerwährende späte Zuhausekommen aus der Komödie unausstehlich wurde, so sagte er ihm das Logis auf. –

Reiser hörte die Ankündigung des Rektors, daß er zu Johanni ausziehen und sich während der Zeit nach einem andern Logis umsehen sollte, mit gänzlicher Verhärtung und Stillschweigen an, und da er wieder allein war, vergoß er nicht einmal eine Träne mehr über sein Schicksal – denn er war sich selbst so gleichgültig geworden und hatte so wenig Achtung gegen sich und Mitleid mit sich selber übrig behalten, daß, wenn seine Achtung und Empfindung des Mitleids und alle die Leidenschaften, wovon sein Herz überströmte, nicht auf Personen aus einer erdichteten Welt gefallen wären, sie notwendig sich alle gegen ihn selbst kehren und sein eignes Wesen hätten zerstören müssen.


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