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So sonderbar nun auch die um des Lateinischen willen zusammengelesenen deutschen Ausdrücke zuweilen klangen, so nützlich war doch im Grunde diese Übung, und solch einen Wetteifer erregte sie. – Denn binnen einem Jahre kam Reiser dadurch so weit, daß er ohne einen einzigen grammatikalischen Fehler Latein schrieb und sich also in dieser Sprache richtiger als in der deutschen ausdrückte. Denn im Lateinischen wußte er, wo er den Akkusativ und den Dativ setzen mußte. Im Deutschen aber hatte er nie daran gedacht, daß mich z. B. der Akkusativ und mir der Dativ sei, und daß man seine Muttersprache ebenso wie das Lateinische auch deklinieren und konjugieren müsse. – Indes faßte er doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe, die er nachher auf seine Muttersprache anwenden konnte. – Er fing allmählich an, sich deutliche Begriffe von dem zu machen, was man Substantivum und Verbum nannte, welche er sonst noch oft verwechselte, wo sie aneinander grenzten, als z. B. gehn und das Gehen. Weil aber dergleichen Irrtümer in der lateinischen Ausarbeitung immer einen Fehler zu veranlassen pflegten, so wurde er beständig aufmerksamer darauf und lernte auch die feinern Unterschiede zwischen den Redeteilen und ihren Abänderungen unvermerkt einsehen, so daß er sich nach einiger Zeit zuweilen selbst verwunderte, wie er vor kurzem noch solche auffallende Fehler habe machen können.
Der Kantor pflegte unter jede lateinische Ausarbeitung, nachdem er an den Seiten mit roten Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte, sein vidi (ich habe es durchgesehen) zu setzen. Da nun Reiser dies vidi unter seinem ersten Exerzitium sahe, so glaubte er, es sei dies ein Wort, das er selbst immer ans Ende der Ausarbeitung schreiben müsse, und dessen Auslassung ihm der Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe. Er schrieb also mit eigner Hand unter sein zweites Exerzitium vidi, worüber der Kantor und sein Sohn, der dabei war, laut auflachten und ihm erklärten, was es hieße. – Auf einmal sahe nun Reiser seinen Irrtum und konnte nicht begreifen, wie er nicht selbst auf die richtige Erklärung des vidi gefallen sei, da er doch sonst wohl wußte, was vidi hieß.
Es war ihm, als ob er mit Beschämung aus einer Art von Dummheit erwachte, die ihm angewandelt hatte. Und er wurde auf einige Augenblicke fast ebenso niedergeschlagen darüber, als da der Inspektor auf dem Seminarium einst zu ihm sagte: dummer Knabe, indem er glaubte, daß er nicht einmal buchstabieren könne. Eine solche Art von wirklicher oder anscheinender Dummheit bei gewissen Vorfällen rührte zum Teil aus einem Mangel an Gegenwart des Geistes, zum Teil aus einer gewissen Ängstlichkeit oder auch Trägheit her, wodurch die natürliche Kraft des Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirksamkeit gehindert wurde.
Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbeschreibungen der griechischen Feldherrn vom Kornelius Nepos, wovon wöchentlich ein Kapitel aus der Lebensbeschreibung irgendeines Feldherrn auswendig mußte hergesagt werden. Diese Gedächtnisübungen wurden Reisern sehr leicht, weil er nicht sowohl die Worte als die Sachen sich einzuprägen suchte, welches er allemal des Abends vor dem Schlafengehen tat und des Morgens, wenn er aufwachte, die Ideen weit heller und besser geordnet als den Abend vorher in seinem Gedächtnis wiederfand, gleichsam, als ob die Seele während dem Schlafen fortgearbeitet und das, was sie einmal angefangen, nun während der gänzlichen Ruhe des Körpers mit Muße vollendet hätte.
Alles, was Reiser dem Gedächtnis anvertraute, pflegte er auf die Weise auswendig zu lernen.
Er fing nun auch an, sich mit der Poesie zu beschäftigen, welches er schon in seiner Kindheit getan hatte, wo denn seine Verse immer die schöne Natur, das Landleben und dergleichen zum Gegenstand zu haben pflegten. Denn seine einsamen Spaziergänge und der Anblick der grünen Wiesen, wenn er etwa einmal vor das Tor kam, war wirklich das einzige, was ihn in seiner Lage in eine poetische Begeisterung versetzen konnte.
Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte er ein paar Strophen, die sich anfingen:
In den schön beblümten Auen Kann man Gottes Güte schauen, usw. |
welche sein Vater in Musik setzte. Und das Gedicht, das er jetzt hervorbrachte, war eine ›Einladung auf das Land‹, worin wenigstens die Worte nicht übel gewählt waren. – Dies kleine Gedicht gab er dem jungen Marquard, durch welchen es in die Hände des Pastor Marquard und des Direktors kam, die ihren Beifall darüber bezeigten, so daß Reiser beinahe angefangen hätte, sich für einen Dichter zu halten. Aber der Kantor benahm ihm fürs erste diesen Irrtum, indem er sein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging und ihn sowohl auf die Fehler gegen das Metrum als auf den fehlerhaften Ausdruck und den Mangel des Zusammenhangs der Gedanken aufmerksam machte.
Diese scharfe Kritik des Kantors war für Reisern eine wahre Wohltat, die er ihm nie genug verdanken kann. Der Beifall, den dies erste Produkt seiner Muse so unverdienterweise erhielt, hätte ihm sonst vielleicht auf sein ganzes Leben geschadet.
Demohngeachtet wandelte ihm der furor poeticus noch manchmal an, und weil ihn jetzt wirklich das Vergnügen, dem Studieren obzuliegen, am meisten begeisterte, so wagte er sich an ein neues Gedicht zum Lobe der Wissenschaften, welches sich komisch genug anhob:
An euch, ihr schönen Wissenschaften, An euch soll meine Seele haften, usw. |
Der Kantor lehrte auch lateinische Verse machen, trug die Regeln der Prosodie vor, die er nachher auf Catonis disticha beim Skandieren derselben anwenden ließ. Reiser fand hieran sehr großes Vergnügen, weil es ihm so gelehrt klang, lateinische Verse skandieren zu können und zu wissen, warum die eine Silbe lang und die andere kurz ausgesprochen werden mußte; der Kantor schlug mit den Händen den Takt beim Skandieren. Das anzusehen und mitmachen zu können, war ihm denn eine wahre Seelenfreude. – Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl durcheinandergeworfener lateinischer Wörter, welches Verse gewesen waren, diktierte, damit sie wieder in metrische Ordnung gebracht werden sollten, welch ein Vergnügen für Reisern, da er nun mit wenigen Fehlern ein paar ordentliche Hexameter wieder herausbrachte und von dem Kantor einen alten Kurtius zum Prämium erhielt.
Hier herrschte nun gewiß der sogenannte alte Schulschlendrian, und Reiser kam demohngeachtet in einem Jahre so weit, daß er ohne einen grammatikalischen Fehler Latein schreiben und einen lateinischen Vers richtig skandieren konnte. – Das ganz einfache Mittel hierzu war – die öftere Wiederholung des Alten mit dem Neuen, welches doch die Pädagogen der neuern Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten. Eine Sache mag noch so schön vorgetragen sein, sobald sie nicht öfter wiederholt wird, haftet sie schlechterdings nicht in dem jugendlichen Gemüte. Die Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet, wenn sie sagten: daß die Wiederholung die Mutter des Studierens sei.
Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch eine Privatstunde im deutschen Deklamieren und im deutschen Stil, worauf sich Reiser immer am meisten freute, weil er Gelegenheit hatte, sich durch Ausarbeitungen hervorzutun und sich zugleich vom Katheder öffentlich konnte hören lassen, welches einige Ähnlichkeit mit dem Predigen hatte, das immer der höchste Gegenstand aller seiner Wünsche war.
Außer ihm war nun noch einer, namens Iffland, der an dieser Übung im Deklamieren ein ebenso großes Vergnügen fand. Dieser Iffland ist nachher einer unsrer ersten Schauspieler und beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden; und Reisers Schicksal hat mit dem seinigen bis auf einen gewissen Zeitpunkt viel Ähnliches gehabt. – Iffland und Reiser zeichneten sich immer in der Deklamationsübung am meisten aus. – Iffland übertraf Reisern weit an lebhaftem Ausdruck der Empfindung – Reiser aber empfand tiefer. – Iffland dachte weit schneller und hatte daher Witz und Gegenwart des Geistes, aber keine Geduld, lange über einem Gegenstande auszuhalten. – Reiser schwang sich daher auch in allen übrigen bald über ihn hinauf. – Er verlor allemal gegen Iffland, sobald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam, aber er gewann immer gegen ihn, sobald es darauf ankam, die eigentliche Kraft des Denkens an irgendeinem Gegenstande zu üben. – Iffland konnte sehr lebhaft durch etwas gerührt werden, aber es machte bei ihm keinen so daurenden Eindruck. Er konnte sehr leicht und wie im Fluge etwas fassen, aber es entwischte ihm gemeiniglich ebenso schnell wieder. – Iffland war zum Schauspieler geboren. Er hatte schon als ein Knabe von zwölf Jahren alle seine Mienen und Bewegungen in seiner Gewalt – und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen. Da war kein Prediger in Hannover, dem er nicht auf das natürlichste nachgepredigt hatte. Dazu wurde denn gemeiniglich die Zwischenzeit, ehe der Konrektor zur Privatstunde kam, angewandt. Jedermann fürchtete sich daher vor Iffland, weil er jedermann, sobald er nur wollte, lächerlich zu machen wußte. – Reiser liebte ihn dennoch und hätte schon damals gern nähern Umgang mit ihm gehabt, wenn die Verschiedenheit der Glücksumstände es nicht verhindert hätte. Ifflands Eltern waren reich und angesehn, und Reiser war ein armer Knabe, der von Wohltaten lebte, demohngeachtet aber den Gedanken bis in den Tod haßte, sich auf irgendeine Weise Reichen aufzudringen. – Indes genoß er von seinen reichern und besser gekleideten Mitschülern weit mehr Achtung, als er erwartet hatte, welches zum Teil wohl mit daher kommen mochte, weil man wußte, daß ihn der Prinz studieren ließe, und ihn daher schon in einem etwas höhern Lichte betrachtete, als man sonst würde getan haben. – Dies brachte ihm auch von seinen Lehrern etwas mehr Aufmerksamkeit und Achtung zuwege.