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Nichts hätte für Anton erwünschter sein können als die Nachricht, daß sein Vater ihn nun mit nächsten wieder zu Hause holen würde. – In eine Schule, schloß er, müsse er doch in Hannover auf alle Fälle geschickt werden, ehe er zum Abendmahl zugelassen würde, und dann wollte er sich schon so auszeichnen, daß man aufmerksam auf ihn werden solle. – So sehr er vorher nach Braunschweig zu kommen gestrebt hatte, so sehr verlangte ihn jetzt nach Hannover wieder zurück, und er wiegte sich nun aufs neue in angenehmen Träumen von der Zukunft ein.
Ohngeachtet seiner harten Lage aber waren ihm dennoch viele Dinge in Braunschweig sehr lieb geworden, so daß sich in seine angenehmen Hoffnungen oft eine Wehmut mischte, die ihn in eine sanfte Melancholie versetzte. – Oft stand er einsam an der Oker und sahe irgendeinem vorbeifahrenden kleinen Kahne nach, soweit er ihn mit den Augen verfolgen konnte – dann war es ihm oft plötzlich, als habe er einen Blick in die dunkle Zukunft getan, aber wenn er eben das angenehme Blendwerk festzuhalten glaubte, so war es auf einmal verschwunden.
Er suchte sich nun an allen Gegenden der Stadt, die er bisher auf seinen Spaziergängen des Sonntags besucht hatte, gleichsam noch einmal zu letzen und nahm von einer nach der andern wehmütig Abschied, so wie er sie nie wieder zu sehen hoffte.
Er hörte von dem Pastor Paulmann noch verschiedne Predigten, worin manche einzelne Stellen nie aus seinem Gedächtnis gekommen sind. –
Ganz außerordentlich rührte ihn in einer Predigt vom Leiden Jesu der immersteigende Affekt, womit der Pastor Paulmann die Worte sagte: mitleidsvoll sieht er auf seine Mörder herab, und betet, und betet, und betet – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Und in einer Predigt über die Beichte, welche über das Evangelium vom Aussätzigen gehalten wurde, der sich dem Priester zeigen sollte, die Anrede an die Heuchler, die alle äußere Gebräuche der Religion gewissenhaft beobachten und doch ein feindseliges Herz im Busen tragen, und wo sich jeder Periode anfing mit: ihr kommt in den Beichtstuhl, ihr zeiget euch dem Priester, aber er kann in euer Herz nicht schauen usw. – Dann wurde in dieser Predigt auch oft ein Ausdruck wiederholt, der für Anton außerordentlich rührend war, dieser klang ihm als: »ihr kommt in den Heben«. – Das letzte Wort nämlich, was immer verschlungen wurde, so daß er es nicht recht verstehen konnte, klang ihm wie Heben, und dies Wort oder dieser Laut rührte ihn bis zu Tränen, so oft er wieder daran dachte.
Ebenso reizend klang ihm der Ausdruck, der sehr oft in den Predigten des Pastor Paulmann vorkam. ›Die Höhen der Vernunft‹ – dies hatte aber seine besondern Ursachen, deren Entwickelung nicht unnütz sein wird. Das Chor in der Kirche, wo die Orgel war und die Schüler sangen, schien ihm immer etwas für ihn Unerreichbares zu sein; sehnsuchtsvoll blickte er oft dahin auf und wünschte sich keine größere Glückseligkeit, als nur einmal den wunderbaren Bau der Orgel und was sonst da war, in der Nähe betrachten zu können, da er dies alles jetzt nur in der Ferne anstaunen durfte. – Diese Phantasie war mit einer andern verwandt, die er noch aus Hannover mitgebracht hatte – schon dort war ein gewisser Turm für ihn immer ein äußerst reizender Gegenstand gewesen; er betrachtete ihn mit Entzücken und beneidete oft die Stadtmusikanten, die oben auf der Galerie standen, um des Morgens und Abends hinunter zu blasen.
Stundenlang konnte er diese Galerie betrachten, die ihm von unten so klein schien, daß sie ihm nicht bis an die Knie reichen würde, und über welche doch kaum die Köpfe der blasenden Stadtmusikanten hervorragten; und vollends das Zifferblatt, welches nach der Versicherung verschiedner Leute, die oben gewesen waren, so groß sein sollte wie ein Wagenrad, und ihm doch unten nicht größer als irgendein Rad in einem Schiebkarren vorkam. – Dies alles erregte seine Neugierde im höchsten Grade, so daß er oft ganze Tage lang mit nichts als dem Gedanken und dem Wunsch umging, diese Galerie und dies Zifferblatt einmal in der Nähe betrachten zu können.
Nun konnte man auf dem Turme in Hannover durch die Schallöcher, welche über der Galerie offen standen, auch die Glocken treten sehen; und Anton verschlang beinahe mit seinen Augen dieses ihm ganz neue Schauspiel, da er die große metallne Maschine, die den alles erschütternden Klang verursachte, unter den Füßen der ganz klein scheinenden Leute, die in dieser Höhe standen und auf die Balken traten, wechselsweise in die Höhe steigen sahe.
Es war ihm, als habe er in das innerste Eingeweide des Turms geblickt, und als habe sich ihm das geheimnisvolle Triebwerk des wunderbaren Schalles, den er so oft mit Rührung vernommen hatte, nun in der Ferne enthüllt. – Allein seine Neugierde wurde hierdurch nur noch mehr erregt, statt befriedigt zu werden – er hatte nur die eine Hälfte der Glocke, die sich mit ihrer ungeheuren Wölbung emporhub, und nicht ihren ganzen Umfang gesehen – von der Größe dieser Glocke hatte er von Kindheit an gehört, und seine Einbildungskraft vergrößerte das Bild in seiner Seele noch zu unzähligen Malen, so daß er sich davon die romanhaftesten und ausschweifendsten Ideen machte.
Bei seinen Schmerzen nun, die er am Fuße erduldete; bei aller Bedrückung von seinen Eltern, worunter er seufzte; was war sein Trost? was war der angenehmste Traum seiner Kindheit? was sein sehnlichster Wunsch, über den er oft alles vergaß? – – Was anders, als die nahe Beschauung des Zifferblatts und der Galerie am neustädtischen Turme in Hannover und der Glocken, die darin hingen.
Länger als ein Jahr hindurch versüßte ihm dies Spiel seiner Phantasie die trübsten Stunden seines Lebens – aber ach, er mußte Hannover verlassen, ohne seines sehnlichsten Wunsches gewährt zu werden. – – Doch das Bild vom neustädtischen Turme wich nie aus seinen Gedanken, es verfolgte ihn nach Braunschweig und schwebte ihm dort oft in nächtlichen Träumen auf hohen Treppen in tausend labyrinthischen Krümmungen vor, wo er den Turm hinaufstieg, auf der Galerie stand, und mit unaussprechlichem Vergnügen das Zifferblatt am Turme betastete und dann inwendig nicht nur die große Glocke, sondern noch unzählige andre kleinere nebst mehr wunderbaren Dingen dicht vor Augen sahe, bis er etwa mit dem Kopfe an den unübersehbaren Rand der großen Glocke stieß und erwachte.
So oft nun der Pastor Paulmann von den ›Höhen der Vernunft‹ sprach, so dachte Anton mit Entzücken an die Höhen seines geliebten Turms, an die Glocke darin und an das Zifferblatt – und dann auch an das hohe Chor, worauf die Orgel in der Brüdernkirche stand – dann erwachte auf einmal alle seine Sehnsucht wieder, und der Ausdruck ›die Höhen der Vernunft‹ preßte ihm Tränen der Wehmut aus den Augen.
Der eigentliche abhandelnde Teil von den Predigten des Pastor Paulmann, wo derselbe mit erstaunlicher Geschwindigkeit sprach, war für Anton freilich verloren, weil er ihm mit seinen Gedanken unmöglich folgen konnte. In der Hoffnung aber auf den ermahnenden Teil hörte er ihn dennoch mit Vergnügen an – es war ihm dann, als wenn sich nun erst die Wolken zusammenzögen, die bald in ein wohltätiges Gewitter oder einen sanften Regen ausbrechen würden.
Nun ging er aber einmal mit dem Gedanken in die Kirche, die Predigt des Pastor Paulmann zu Hause aufzuschreiben, und auf einmal war es, als ob es, indem er zuhörte, in seiner Seele licht wurde, seine Aufmerksamkeit hatte eine neue Richtung erhalten – vorher hatte er mit dem Herzen zugehört, jetzt hörte er zum ersten Male mit dem Verstande zu – er wollte nicht nur durch einzelne Stellen erschüttert werden, sondern das Ganze der Predigt fassen, und nun fing er an, den abhandelnden Teil ebenso interessant als den ermahnenden Teil zu finden. – Die Predigt handelte von der Nächstenliebe, wie glücklich die Menschen sein würden, wenn jeder das Wohl aller übrigen und alle übrige das Wohl jedes einzelnen zu befördern suchten. – Nie ist ihm diese Predigt mit allen ihren Abteilungen und Unterabteilungen aus dem Gedächtnis gekommen, die er mit dem Vorsatz hörte, um sie aufzuschreiben, welches er tat, sobald er zu Hause kam und den August, dem er es nun vorlas, sehr dadurch in Verwunderung setzte.
Das Aufschreiben dieser Predigt hatte gleichsam eine neue Entwickelung seiner Verstandeskräfte bewirkt. – Denn von der Zeit fingen seine Ideen an sich allmählich untereinander zu ordnen – er lernte selbst für sich über einen Gegenstand nachdenken – er suchte die Reihe seiner Gedanken wieder außer sich darzustellen, und weil er sie niemanden sagen konnte, so machte er schriftliche Aufsätze, die denn freilich oft sonderbar genug waren. – Denn hatte er vorher mit Gott mündlich gesprochen, so fing er nun an, mit ihm zu korrespondieren, und schrieb lange Gebete an ihn, worin er ihm seinen Zustand schilderte.
Er fühlte sich jetzt um so mehr zu schriftlichen Aufsätzen gedrungen, weil es ihm gänzlich an aller Lektüre fehlte – denn Lobenstein hatte ihm schon lange kein Buch mehr in die Hände gegeben, ausgenommen Engelbrechts, eines Tuchmachergesellen zu Winsen an der Aller Beschreibung von dem Himmel und der Hölle, welches er ihm geschenkt hatte. –
Einen ärgern Aufschneider kann es nun wohl in der Welt nicht mehr geben, als dieser Engelbrecht gewesen sein muß, von dem man geglaubt hatte, daß er wirklich tot wäre, und der nun, nachdem er sich wieder erholt hatte, seiner alten Großmutter weismachte, er sei wirklich im Himmel und in der Hölle gewesen; diese hatte es dann weiter erzählt, und so war dies köstliche Buch entstanden.
Der Kerl entblödete sich nicht zu behaupten, er sei mit Christo und den Engeln Gottes bis dicht unter dem Himmel geschwebt und habe da die Sonne in die eine und den Mond in die andre Hand genommen und am Himmel die Sterne gezählt.
Demohngeachtet waren seine Vergleichungen zuweilen ziemlich naiv – so verglich er z. B. den Himmel mit einer köstlichen Weinsuppe, wovon man auf Erden nur wenige Tropfen gekostet hat und die man alsdenn mit Löffeln essen könne – und die himmlische Musik war ebenso weit über die irdische Musik erhaben als ein schönes Konzert über das Geleier eines Dudelsacks oder über das Tüten eines Nachtwächterhorns.
Und was ihm für Ehre im Himmel widerfahren war, davon konnte er nicht genug rühmen.