Hermann Löns
Jagdgeschichten
Hermann Löns

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Die bunte Stadt am Harz

Alle Städte den Harz hinauf, den Harz hinab haben ihre Schätze und Kostbarkeiten; keine aber ist so reich und so bunt wie Wernigerode.

Alles ist da, was das Herz begehrt: lustiges Leben und träumerische Stille, städtische Eleganz und dörfliche Einfachheit, flutender Fremdenverkehr und feststehende Eigenart, neue Bauart und alte Architektur; sie ist die Stadt der bunten Gegensätze die zu einer stimmungsvollen Einheitlichkeit verschmolzen sind.

Schon die Lage des Dreistädtegebildes Hasserode-Wernigerode-Nöschenrode ist eigener Art. Zwischen dem fröhlichen Vorharz und dem ernsten Oberharz schmiegt sich die Stadt an der Stelle hin, wo die wildverwegene Holtemme und der stillsinnige Zillierbach ineinanderrinnen, und in beider Flüsse so verschiedenartig gestaltete Täler dringt die Stadt mit ihren stattlichen Töchterstädten hoch in die Berge und tief in die Täler vor und drängt immer mehr nach der bunten Ebene hin.

So liegt sie da, dem Brocken nahe, dem Hügellande und der Getreideebene, auf der Grenze zwischen Nadelwald und Laubholz, Granit, Schiefer, Kalk, Sandstein und Lehm, zwischen drei verschiedenartigen Floren- und Faunengebieten, auf der Scheide dreier Volksstämme, dreier Sprachgebiete, dreier Temperamente, dreier Baustilarten, und darum ist sie reich an Reizen, ist sie so bunt und so schön.

Sie ist eine echte Harzstadt und voll von internationalem Leben; sie ist eine Acker- und Kleinbürgerstadt, aber mit reichem Gewerbe, kräftigem Handwerk und blühendem Handel. Kein Stand, kein Beruf drückt den andern in den Hintergrund, und die große Fremdenkolonie, in der es von alten Namen und Titeln nur so wimmelt, ist durch unzählige Übergänge mit dem alten Bürgertum und der Arbeiterschaft zu einer rißlosen Lebensmittelgemeinschaft verschmolzen. Dürftigkeit ist keine Schande, und der Luxus gilt als Verdienst.

Es ist gleich, zu welcher Jahreszeit man dort ist; immer ist es dort schön. Klirren die Flüsse durch Ufereis, hüllt der Schnee Berg und Tal, hier drückt der Winter nicht; denn die Luft ist rein, und der Schnee ist trocken. Jedes Wochenende bringt die Schneeschuhläufer und Rodler von weit und breit her; denn zu bequem ist die Stadt zu erreichen von Halle und Magdeburg, Hannover und Braunschweig, Bremen und Hamburg und Berlin.

Wunderbar schön ist es wintertags dort, wenn die Fichten Schneemützen tragen und sich demütig von Sr. Majestät dem Winter beugen, und da die Berge die bösen Winde abhalten, empfindet man die Kälte nicht gar sehr. Wenn die Tauwinde blasen, Holtemme und Zillierbach ihr Randeis zerbrechen und in tollen Sprüngen zu Tale tanzen, wenn die Zeisige und Kreuzschnäbel auf die Höhen fliehen und auf den Brücken und Stegen die Bergbachstelze wieder umhertrippelt, dann kommt die hohe Zeit für die bunte Stadt am Harz.

Zwei Jahreszeiten sind dann dort dicht beieinander. Die Gärten protzen mit ihrem Vorfrühlingsflor, die Bäume blitzen von vielfarbigen Knospen, Amselsang und Finkengeschmetter erfüllt das Gezweige; aber ein Stündchen bergan, und der Nachwinter herrscht dort noch. Ernst liegt der Schnee im Schatten, keine Knospe lüftet die Hüllen, und nur der reisenden Meisen Stimmen bringen Leben in den verschlafenen Wald, bis auch ihn die Sonne weckt, bis auch dort der Boden sich mit Blumen schmückt und aus allen Wipfeln lustige Lieder erschallen.

Blumen und Vogellieder, das ist es, was dem Fremden, und sei er noch so sehr Asphaltmensch, zu allererst in Wernigerode auffällt. Die Ebene, das Hügelland und die Berge, sie alle schicken ihre Blumen bis mitten in die drei Orten hinein, und die drei Städte schieben ihre Anlagen und Gärten hoch in die Berge, überall zwischen die Hügel und tief in die Ebene hinab. Wo hört die Stadt auf, wo endet der Garten, und wo fängt das Gebirge an und beginnt die wilde Flora? Darauf gibt es keine Antwort. An den Schieferböschungen mitten in der Stadt wuchert ungestört, entzückende Stillleben bildend, allerlei buntes, wildes Gekraut, und wohin man sieht, über und unter der Stadt, vertragen sich die feierlichen Gartensträucher auf das beste mit den wilden Gebüschen, und mit feinem Takte läßt die Stadtverwaltung dem wilden Geblüm an den Böschungen nicht nur seinen Platz, sondern pflanzt besonders schöne Wildblumen an jenen Stellen der Anlagen an, die weniger streng gehalten sind. Auch die Gartenbesitzer freuen sich, wenn Wildrose, Weißdorn und Brombeere und allerlei wilde Blumen auf ihrem Rechte bestehen, und wer Augen hat, zu sehen, der hat seine helle Freude bei jedem Schritt und Tritt.

Und nun erst die Vogelwelt. Auch bei ihr gibt es keine Grenzen zwischen Stadt und Umgebung. Hier schilpt der Hausspatz, und drüben läutet der Kuckuck, dort zwitschern die Schwalben, und hier schnurrt der Grünspecht hin, wiehernd lachend; auf jedem dritten Baume plaudert ein Girlitz oder Stieglitz oder Grünfink, in allen Büschen schwatzen Zaunkönige und Braunelle und Grasmücke, und Fink, Meise, Gartenrötel, Trauerfliegenschnäpper, Amsel und Singdrossel sind überall zu finden. Im Mühlentale schluchzt abends die Nachtigall, mitten im belebten Konzertgarten schlüpft der Häher durch die Zweige, über den Dächern kreist der Bussard, und wenn der Abend hereinbricht, lassen die Vögel der Nacht ihre Stimme erschallen; der Waldkauz lacht im Baß, das Käuzchen kichert in Diskant, und unheimlich schnarcht die Turmeule.

Wer die Tierwelt liebt, braucht nicht weit zu gehen hier. In den Gartenstraßen watscheln die schwarzgelben Salamander bedachtsam dahin, in den klaren Flußläufen stehn die Forellen, jagen die Jungen auf Schmerlen und Groppen, und ein bunteres Schmetterlingsgeflatter wie hier hat keine Stadt, und keine so viel lustiges Gesumme und Gebrumme über den Blumen. Außerdem, da ist kaum ein Haus, wo nicht unter dem Fenster ein Käfig hängt, und wo man geht und steht, zwitschert und pfeift und schlägt es, gleich als ob das Volk von lustigem Gesange noch nicht genug hätte.

Das aber ist es, was den Fremden am meisten freut, der heitere Zug, der hier alles beherrscht, der sich in dem bunten Wechsel des Bodens, in dem fesselnden Zusammenfluß von Natur und Stadtleben, in der Blumen Farbenpracht, in den frohen Tierleben ausspricht und in den Gesichtern der Menschen. Sie haben eine bekömmliche Philosophie, die Leute hier, und die ist: nicht zu philosophieren. Es ist zuviel Schönes und Liebes und Lustiges zu sehen, daß sie gar nicht daran denken, zu denken; denn wer denkt, der lebt nur halb. Hier aber lebt man ganz. Bestelle dir zum Sonntag früh den Wagen, Fremdling, denn sonst bekommst du keinen, denn der Wernigeröder und der Hasseröder und der Nöschenröder läßt dir keinen übrig. In aller Frühe donnern sie aus allen Toren, die Wagen, bunt von frohen Gesichten, hellen Blusen und farbigen Hüten, und mit Klingklang und Singsang, mit grünen Zweigen besteckt, donnern sie abends wieder zurück.

Und hast du keinen Wagen bekommen, es schadet nichts. Drehe dich dreimal um deine Achse und gehe dahin, wo deine Nase dich hinweist; es ist völlig gleich, ob du diesen oder jenen Weg einschlägst, ob du zum Christianental oder nach der Steinernen Renne, zur Himmelspforte oder zur Sennhütte hingelangst: überall ist es schön; überall sind Blumen, ist Wald, sind blühende Abhänge, heimliche Schluchten, lachende Matten, und überall lustiges Volk, die Hände voll vom Primeln, Wiesenröschen und Teufelskrallen. Aber suchst du Einsamkeit, nach hundert Schritten hast du sie. Willst du im lichten Laubwalde wandeln, gehe in den Schloßberg; liebst du das dämmrige Tannicht, es ist überall; ziehst du den sonnendurchglühten Kiefernwald vor, er ist nicht weit, und Aussicht kannst du haben, soviel du willst, und hungern und dürsten brauchst du nirgendwo, denn überall zeigen dir die Handweiser, wo eine gastliche Stätte Speise und Trank bietet.

Nimm dir nur nicht vor, planmäßig Wernigerode und seine Umgebung kennen zu lernen; es hat gar keinen Zweck, denn dafür reichen deine vier Wochen Ferien nicht. Bist du schon auf dem Hartenberge gewesen und in dem märchenhaften alten Marmorsteinbruche? Warst du an den Teichen, wo der Drosselrohrsänger singt? Hast du die Sauen bei der Körnung gesehen? Sahst du abends das Rotwild an den steilen Hängen herumziehen? Erspare es dir vorläufig, nach Ilsenburg oder dem Fallstein, nach Elbingerode oder Rübeland zu pilgern oder zu fahren, laß den Huy und den Elm winken und den Brocken brummen, und sieh dich erst in der Nähe um, aber ganz in der Nähe, in der nächsten Nähe.

Setz dich vor das Hotel da unter das Sonnensegel und sperre deine Augen auf, dann hast du vorläufig genug übergenug. Da ist das Rathaus mit seinem Fachwerk und seinen stolzen Spitztürmen, die rechts und links neben der Treppe stehen wie Wacholder neben einem Heideweg, der bergan läuft. Ist es nicht fein, wie Thomas Hildeborg es verstanden hat, Holz- und Steinarchitektur zu wirkungsvollster Einheit zu verschmelzen? Das muß ein ganzer Kerl gewesen sein, sonst hätte er nicht über die Tür geschrieben: »Einer acht's, der andere verlacht's, der dritte betracht's; was macht's?« Und war es nicht ein reizender Zug vom Grafen Heinrich, dieses Haus, das ihm als Spielhaus gehörte, samt dem Weinkeller und allen Gerechtsamen der Stadt zu schenken? Überhaupt die Fürsten von Stolberg-Wernigerode, das ist wieder ein Vorzug der Stadt. Es sind keine regierenden Fürsten mehr, aber den großen Zug behielten sie von der Zeit bei. Mit Ausnahmen des bißchen Park um das Schloß kannst du in allen ihren Anlagen und Wäldern, von hier bis zur Brockenkuppe, frei schweifen; kaum, das dir ein Förster oder Wärter eine Warnung gibt, wenn du quer über den Rasen läufst oder gar zu große Sträuße von den blühenden Büschen schneidest. Sieh, du hast Glück, das Fürstenpaar fährt vorbei im funkelnden, flimmernden Viererzuge. Achte darauf, wie die Leute grüßen! So gar nicht unterwürfig, trotzdem der Hof ein guter Abnehmer für so viele Leute ist. Zuneigung liegt in den Augen, aber nicht Knechttum.

Nun aber wird es dir zu laut und zu voll hier. Brockenfahrer kommen in hellen Haufen an und von allen Sorten, in Rindsleder und Chevreaux, in Loden und Tennisflanell, ganze Bündel Brockenblumen in den Händen. Es ist verboten, sie abzureißen, und doch pflückt jeder Brockenfahrer sie; denn die Beamten sagen nicht gern was. Man ist fast zu liebenswürdig auf stolberg-wernigerödischem Gebiet. Etwas mehr Strenge könnte nicht schaden, denn allzu viel Pöbel fährt sonntags durch den Harz und verschandelt das Land mit Papier und Flaschenscherben. Aber du willst weiter. Geh, wo es dir paßt. Sieh dir das gotische Haus an und freue dich über das reiche Schnitzwerk und die hübschen jungen Mädchen in Weiß, Rosa und Vergißmeinnichtblau, die an den Tischen zwischen den Lorbeerbäumen sitzen, oder geh durch die Anlagen am Bahnhof und lache den Blumen zu, und vergiß das Schlachthaus nicht, dieses wunderschöne Schlachthaus, das ganz gut ein Ferienheim oder etwas ähnliches sein könnte, und sieh zu, daß du die alten Türme findest, den stolzen, patrizierhaften am Westentore und den anderen, der da irgendwo herumsteht und mit der Luke in seinem Bauche so unglaublich lustig aussieht, als müsse er darüber lachen, daß in seinem Erdgeschosse jetzt Borstentiere schlachtreif gemacht werden. Mensch, du glaubst gar nicht, was es hier alles zu sehen gibt!

Das Wasser zum Beispiel! Überall ist Wasser, breit und schmal und noch schmäler, fadendünn aus einer Röhre über die Böschung in die Gosse rieselnd, aber alles so blank, daß man es trinken kann. Und das viele Wasser, das gibt Brücken und Stege und Geländer und Böschungen und Winkel aller Art, ein Stück Klein-Venedig neben dem andern. Hier besonders, wo die Jungen barbeinig herumwaten, ist es besonders nett; darum heißt die Straße auch die schöne Ecke. Aber sieh dich hier vor, Verehrtester, hier wohnen scheußlich viel hübsche Mädchen, und leicht holst du dir einen hoffunglosen Knacks unter der Weste; denn sie sind alle schon versagt, längst versagt. In einer so hübschen Stadt mit so viel Blumen und Vogelsang warten die Mädchen nicht lange auf den einen. Dieses Völkchen hier geht schnell und arbeitet schnell, und es lacht und liebt auch schnell, und küssen tut es schrecklich gern. Heute abend, wenn es schummert, geh einmal über die Straße: überall steht eine mit einem, vor jeder Haustür.

Doch du bist ein ernster Mann mit einer Glatze und mangelhaften Aussichten in Punkto Liebe; also mache lieber ernsthafte Studien. Die Straßennamen sind zu diesem Behufe sehr zu empfehlen: da ist eine Pinte und eine Freiheit; und auch die Flur- und Forstnamen, die haben Saft und Kraft: Pulvergarten, Galgenberg, Flutrenne, Armeleuteberg, Kaltes Tal, Fenstermacherberg, Verbranntes Eichental, Zwölfmorgental, Auerhahn- und Hasenwinkel und Papenanneken. Da aber mußt du nicht hingehen, sonst wird dir betrübt um die Rippen. Da sitzen sie, jung und alt, und haben Körbe voll Kuchen und Kannen und Tassen, und da wird Kaffee gekocht und gelacht und gesungen, und Pfänderspiele werden gemacht, mit Küssen natürlich. Doch sind hierzu Pfänderspiele nicht immer nötig; es geht auch so. Da platzt du auch schon auf so ein Pärchen und ziehst dich wehmutsvoll zurück. Aber du siehst ja noch nicht ganz baufällig aus, alter Freund, und so wundere dich nicht, wenn dich alle Naselang ein paar hübsche Fräulein nach der Uhr oder nach dem Wege fragen: das sind Ferienkolonistinnen aus irgendwelchen Großstädten, denen das einschichtige Leben hier langweilig ist und die so'n bißchen Sonntagnachmittagsanschluß suchen; denn was der Mensch gewohnt ist, das entbehrt er ungern. Wenn du klug bist, so sträube dich nicht; man kann hier nicht gut allein sein. Die Bäume blühen, die Vögel singen, blauweiß grüßt der Brocken über den Wald, von unten her lacht das bunte Land herauf, Automobile sausen, braune Kühe kommen mit Klingklang und frohem Gebrumm heim, jedes Kind hat die Faust voll Blumen; es ist wahrhaftig ein Tag, um eine kleine Dummheit zu wagen.

Sei kein Frosch, alter Junge, steige mit den Mädeln zur Harburg hinauf, lasse dir eine dicke Flasche kaltstellen und ein niedliches Abendessen nebst Sonnenuntergang servieren, und freue dich, daß du noch drei Wochen weilen darfst in der bunten Stadt am Harz.


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