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Gar nicht so weit von der großen Stadt liegt ein unbekannter Wald. Wenn man eine Stunde mit der Straßenbahn fährt und eine Stunde zu Fuß geht, ist man da. Aber das ist den Stadtleuten zu beschwerlich, und da bei dem Walde kein Wirtshaus steht, so bleiben sie dort fort.
Und das ist gut; denn in dem alten, großen Walde wachsen wunderschöne Blumen und leben seltene Tiere, um die es geschehen wäre, wenn der große Troß dorthin käme, alles voller Papier und Flaschenscherben streute, die Blumen ausrisse, die Nester ausnähme und mit Geplärre und Gepfeife die Tiere vertriebe, die Ruhe und Einsamkeit haben wollen, sollen sie sich wohl fühlen.
Einst war dieser Wald seine Hudewohld, in der das Vieh ging. Wo Vieh geht, liegt Dung, und wo Dung liegt, leben sehr viele Mistkäfer und allerlei Gewürm, und wo so viel Käfer und Gewürm lebt, haben viele Arten Vögel ihre Nahrung. Als hier noch das Vieh ging, brütete die Schnepfe hier viel, waren mehrere Paare Blauracken und Wiedehopfe ansässig; sie verschwanden, als der Weidebetrieb von der Forstverwaltung abgelöst wurde.
Was der Wald dadurch nach der einen Seite verlor, gewann er nach der anderen. Das Vieh verbiß die jungen Büsche und trat die Blumen nieder; seitdem es hier nicht mehr geht, ist der Waldboden ein Blumenteppich, und nirgendwo weit und breit wuchern so viele Sträuche wie hier: Weiß- und Schwarzdorn, Brombeere und Himbeere, Hartriegel und Pfaffenhut, Faulbaum und Pulverholz, Steckpalme und Wildrose, und die seltensten Knabenkräuter erheben zwischen stolzen Farnen ihre sonderbaren Blüten.
Das schönste aber in den Walde sind seine Bäume. Tausende von uralten, gewaltigen, knorrigen Eichen stehen da, morsch und hohl die einen, andere langschäftig und kerngesund; alte Erlen bilden ganze Bestände, weiterhin herrscht die Rotbuche, dann kommen alte Fichtenbestände, und dort, wo der lustige Bach sich hinschlängelt, stehen Tausende von uralten, geköpften Hainbuchen, deren Stämme so verrenkt, verdreht und verbogen, so gespalten, zerrissen und zerklüftet sind, daß sie in der Dämmerung aussehen wie ein Heer unheimlicher Gespenster. Hier und da erheben Eschen und Pappeln sich auf den Lichtungen, und an den Rändern der Bestände stehen alte, mächtige Espen.
Es ist unglaublich, wie vielerlei Arten Tiere hier leben. Über dreihundert Rehe haben hier ihren Stand, Hasen gibt es in Menge, Kaninchen desgleichen. Auf allen Forstwegen sonnen sich die Fasanen, Eichkatzen schlüpfen überall, nachts geht der Marder um; der Hühnerhabicht horstet hier, Gabelweih, Bussard, Sperber, Turmfalk und Baumfalk, Waldkauz und Ohreule bauen hier, ein Kolkrabenpaar ist auch noch da, und außer Krähe, Häher, Elster, fünferlei Spechten, Pfingstvogel und Drossel ist soviel Kleingeflügel vorhanden, daß es überall hüpft und schlüpft, schwirrt und flattert, schmettert und schlägt.
Wenn aber zur Maienzeit das vielstimmige Konzert noch so betäubend ist, drei Stimmen übertönen alle. Sie sind so ganz anders als die der übrigen Vögel, so dumpf, so hohl, so tief, daß sie alle anderen Stimmen hinter sich lassen. Sie sind sich ähnlich und sind es nicht, sie sind alle auf ein dunkles, tiefes U gestimmt, aber jede hat ihre eigene Farbe. Klingt die eine gemütlich, so hört sich die andere zärtlich an, aber die dritte mahnt an Urwaldunheimlichkeit. Und wie die drei Stimmen, so sind die drei Vögel, die sie hervorbringen, ähnlich an Gestalt, Farbe und Wesen, und doch verschieden an Größe, Färbung und Benehmen.
Hier, wo der Bach nicht recht weiter kann und auf dem feuchten, von Feigwurz mit grünem, goldgestricktem Teppich bedeckten Boden Erlen, Fichten, Birken und Weidengebüsch sich um den Vorrang streiten, ist das Reich der kleinsten von ihnen, der zierlichen, feinen, fröhlichen Turteltaube. Überall erklingt gemütliches Schnurren, überall steigt ein Täuberchen über die Wipfel, klatscht mit den Flügeln, schwebt in schönem Bogen herab, setzt sich seiner Taube gegenüber und schnurrt ihr das Lied vor, das seine Ururahnen in ihrer Ururheimat, in den Pinienwäldern und Platanenhainen des Mittelmeergestades lernten.
Als der blonde Weidebauer von Norden hier in das Land stieg und die mongolischen Fischer- und Jägervölker vor sich hertrieb, als er Weiden schuf und Ackerbau trieb, da rückten die Turteltauben hier ein; denn sie wollen Feld haben, und wo kein Getreidebau ist, da paßt es ihnen nicht. Mit ihnen wanderte die Ringeltaube ein, die größte ihrer Art bei uns; denn auch sie will Feld haben. Wie man es dem gemütlichen »Turr, turr, turr« der Turteltaube anhört, daß es ein Lied aus südlichen Breiten ist, so kennzeichnet auch das Zärtliche »Kaku, kakuru« die Ringeltaube als einen Südlandsvogel. Früher, als hier noch weniger Acker war, kam sie seltener vor. Seitdem aber die Ödflächen unter den Pflug kamen, vermehrte sie sich so stark, daß sie schon in die Gärten und Anlagen der Stadt einrückt.
Auf dem höchsten Hornzacken des uralten Eichenüberhälters auf der jungen Besamung sitzt ein alter Täuber und ruckst. Wie Silber blitzt sein weißer Kragen, und sein Gefieder hat die Farben des Abendhimmels, ein sanftes Mohnblau und ein zartes Weinrot. Jetzt endet er seinen dumpfen Ruf mit einem tiefen »Huk«, und nun steigt er empor, steigt immer höher klatscht die Schwingen über sich zusammen, daß es weithin schallt, schwebt in herrlichem Bogen mit gespreizten Flügeln und breit gefächertem Schwanze hinab, steigt wieder, klatscht noch einmal, und stürzt sich mit lautem Geklingel in das leuchtende Buchenlaub, wo er eine Weile rastet und dumpf knurrt.
Nun aber läßt sich der dritte Bauchredner des Waldes vernehmen, die Hohltaube. Sie hält in der Größe die Mitte zwischen den beiden anderen Arten, aber sonst ähnelt sie ihnen wenig. Düsterer ist ihr Gefieder, ungeselliger ihr Wesen, unheimlicher ihr Ruf. Es ist ein dumpfes, zweisilbiges, langsam, sich steigerndes Geheul, »Hu-uk, hu-uk«, das nichts von der Gemütlichkeit des Turteltaubenrufes, nichts von der Zärtlichkeit des Rufes des Ringeltäubers hat. Urwaldheimlichkeit, Waldschatteneinsamkeit klingt daraus hervor. Als noch keine Turteltaube hier schnurrte, als noch keine Ringeltaube hier ruckste, als noch Wisent und Elch hier lebten und Bär und Luchs, da rief der Hohltäuber hier schon.
Die anderen Wildtauben lieben den Menschen, weil er ihnen Felder schafft; die Hohltaube haßt ihn. Auch sie fliegt zu Felde, aber sie braucht den Acker nicht, sie findet Atzung genug im Walde selber, Samenkörner, Kerbtiere und Schnecken mit und ohne Haus. Hier wo die Eichen ihr trautes Astwerk recken, trippelt sie mit Vorliebe zwischen den Gekräute umher, und wenn sie zu Felde streicht, so ist sie doppelt vorsichtig; denn sie fühlt sich nur dort sicher, wo ein dichtes Astgewirr über ihr ist.
Die anderen Tauben bauen liederliche, offene Nester in den Zweigen; sie aber sucht sich ein Nestloch in einem Baume, dem alten Brauche folgend, der den Baumvögeln, die weiße Eier legen, vorschreibt, sie in Höhlen und Löchern zu bergen. Die Ringeltaube und die Turteltaube haben das vergessen, die Hohltaube aber blieb der alten Sitte treu, und findet sie kein Baumloch, so nimmt sie mit einem Kaninchenbau vorlieb.
Es will Abend werden, die Tauben fliegen zu Holze. Überall klingelt es in der Luft, überall fallen helle Flecke auf den dunklen Fichtenzweigen ein, und rundherum beginnen die Bauchredner ihre dumpfen Lieder. Hier schnurren die Turteltauben, dort ruckst ein Ringeltäuber, und da heult eine Hohltaube dazwischen, und schließlich übertönt das Schnurren, Rucksen und Heulen die Abendlieder von Rotkehlchen und Drossel, um fast mit einem Schlage abzubrechen; denn früh enden die Tauben ihr Tagewerk, und spät beginnen sie es.
Wenn die Drossel schon lange singt, wenn die Finken schon schlagen, dann erst schütteln sie den Schlaf von sich, und der alte Wald ertönt wieder von den Stimmen der drei Bauchredner.