Hermann Löns
Jagdgeschichten
Hermann Löns

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Ein Schlauberger

Quer durch den Bergwald zieht sich eine gewundene Schlucht, das Überbleibsel eines ehemaligen Erdfalles, in den so lange Gesteinschotter und Erde hineineinrollte, bis aus der Kluft eine Rinne wurde. Mit der Zeit wurde ein Hohlweg daraus.

Der älteste Rehbock, der in der ganzen Gegend steht, hat bei dem Hohlweg seinen Stand; wird er abgeschossen, so steht nach einigen Tagen wieder ein alter Bock hier, der den jüngeren Bock, der dort Unterstand nahm, fortbringt. Weit und breit gibt es keinen Winkel, der als Stand für einen Bock so günstig ist wie die Haulung, wie der Wald seit unvordenklichen Zeiten bei den Bauern heißt. Er ist eine halbe Stunde lang, eine Viertelstunde breit und läuft ganz über den buckeligen, vielfach gewellten Rücken des Hügels.

An drei Seiten fassen Wiesen und Felder den Wald ein, die vierte ist heidwüchsig und mit jungen Kiefern, Birken und Fichten bepflanzt. Rund herum steht allerlei Buschwerk. Der Wald besteht aus vielerlei Baumarten, hat eine Unmenge Sträucher, eine stark fließende Quelle in einen moorigen Erlengrund, Lichtschläge mit hohem Grase, undurchdringliche Fichtendickungen, alte und junge, dichte und lichte Bestände, breite und schmale Wege, also alles, was ein Rehbock zum Leben braucht.

Wenn er will, kann er durch den ganzen Wald wechseln, ohne daß auch nur einmal seine brandrote Decke sichtbar wird. Der Wind kann wehen, wie er will, nach irgendeiner Seite ist er immer günstig für den Bock, so daß dieser nach irgendeiner Richtung hin ungefährdet austreten oder wieder zurückwechseln kann.

Der Bock, der vor fünf Jahren hier stand, war ein ganz geriebener alte Bursche, und es war der reine Zufall, daß der Jäger ihn bekam. Zwei Jahre lang hatte er den Bock vergeblich geweidwerkt, war vor Tau und Tag aufgestanden, hatte bis in die schwarze Nacht auf dem Hochsitz gesessen, aber immer vergebens.

Als er schließlich im Herbste bei starkem Sturm mit zwei Hasen im Rucksack durch die Haulung ging, warf der Wind einen armdicken Ast dem Bock gerade zwischen das Gehörn, worüber dieser sich so erschreckte, daß er wie verrückt lostürmte und durch Schütteln den Knüppel loszuwerden suchte, so daß der Jäger den Kugellauf des Drillings spannen und dem Bocke die Kugel auf das Blatt setzen konnte. Jedesmal, wenn der Jäger das starke, dicke wunderbar geperlte Gehörn zeigt, lacht er; denn es hatte zu dumm ausgesehen, wie der Bock herumtobte.

Der Bock, der jetzt in der Haulung steht, ist sehr stark im Gebäude und von hellroter Farbe. Er trägt sehr hohe, weitausgelegte Stangen mit langen, weißen Enden. Den rechten Hinterlauf schont er, wenn er langsam zieht, denn da traf ihn vor Jahren eine Kugel. Deswegen ist seine Fährte unverkennbar, weil er hinten rechts nur mit der Schärfe der Schale auftritt. Seine Stimme ist sehr tief, und wenn er Wind von seinem Menschen bekommt und schreckt, so hört es sich an, als wenn ein alter Leonberger oder Bernhardiner bellt.

Der Jagdpächter ist ebenso gerissen wie der Bock; denn er jagt schon über vierzig Jahre. Aber wenn er auch der beste Schütze im ganzen Gau ist, pirschen kann wie ein Fuchs, Augen wie ein Luchs und Ohren wie eine Eule hat und eine Ruhe wie ein Bussard: seine Nase ist nicht besser als die der meisten Menschen, und so führte ihn der Bock immer an, wenn er es auch noch so geschickt anstellte. Schließlich, als alles Pirschen und Passen nichts half, baute er sich um die Haulung ein halbes Dutzend Hochsitze und in ihr zwei, einen auf dem großen Lichtschlage, den anderen bei dem Ellernsohl. Aber selbst das half ihm nicht; denn da der Berg stark bewegt war, konnte der Bock in der Höhe der Hochsitze entlangziehen und bekam immer Witterung, und dann schimpfte er: »Bö, bö, böö!« und sprang mit Gepolter ab.

Schließlich wurde dem alten Herrn die Sache langweilig, er kümmerte sich um den Bock in der Haulung nicht und schoß ein Dutzend Böcke in den anderen Teilen der Jagd, bis eines Nachmittags ein fürchterliches Gewitter herunterging. Da fragte er: »Johann, spann an, ich will auf den Haulungsbock!« Eine Stunde später stand er vor dem Hohlweg. Er streckte den Finger in den Mund, hielt ihn in die Luft, prüfte den Wind und nickte zufrieden. Dann pirschte er auf Gummisohlen lautlos den Hohlweg ab und nickte wieder zufrieden; denn überall stand die nagelfrische Fährte des Bockes in dem roten Lehm.

Da es Mücken sehr stark trieben, steckte er sich die Pfeife an und schüttelte ärgerlich den Kopf; denn an dem Rauche sah er, daß der Wind bald so, bald so wehte, und das bedeutete einmal, daß noch Regen kam, und zweitens, daß heute der Bock dreimal so vorsichtig sein würde als sonst. Der Jäger legte seinen Rucksack auf einen Felsblock, setzte sich darauf, strich seinen langen, weißen Bart, rauchte und überlegte, auf welchen Hochsitz er sich setzen solle. Am Wahrloch, das ging nicht; denn dort stand der Wind zur Wiesen. Am Ellernhohl und auf dem Lichtschlage ging es auch nicht, dort stand übermannshohes Kraut und Gras. Oben am Hange warnte der Eichelhäher. Der Jäger sah hinauf; aber da war nichts als Buchenlaub und silberne Stämme mit goldenen Sonnenflecken, Schattengras, Farnkraut, braunes Vorjahrslaub und moosige Felstrümmer. Aber bewegte sich da nicht etwas quer zu den steilen Stämmen? Richtig, ein Reh! Und ein altes Reh, ein starkes Reh, ein Bock sogar, ein guter Bock, und wahrhaftig: der alte Bock. Ohne Glas sah der Jäger das hohe Gehörn mit den langen, weißen Enden, wenn der Bock nach jedem Blättchen, das er abäste, den Kopf hochnahm und sicherte. Aber immer stand er so, daß ein dicker Stamm sein Blatt deckte.

Ganz vorsichtig entsicherte der alte Herr den Drilling und legte ihn sich bequemer auf die Knie, kein Auge von dem Bocke lassend, immer wartend, daß er das Blatt freigäbe. Auf einmal war der rote Fleck fort. Und dann war er wieder da, mehr links, und dann verschwand er wieder hinter einem Weißdornbusch. Eine Viertelstunde blieb er verborgen, und endlich blitzt sein Gehörn wieder hinter einem Stamme her, und dann bearbeitete er einen Hirschholderbusch, daß die Blätter nur so umherflogen, und darauf tat er sich nieder und blieb zwei volle Stunden hinter einem großen Horste von blühendem Fingerhut sitzen, so daß nur das Gehörn zu sehen war, und der Jäger saß und wagte sich nicht zu rühren; denn er hatte keine Vorderdeckung. Mit der Zeit tat ihm der Rücken weh, das eine Bein schlief ihm ein, die Augen wurden ihm vom angestrengten Hinsehen müde, und wenn die Mücken nicht gewesen wären, so wäre er eingenickt. Er wünschte den Bock zum Kuckuck; aber fortgehen mochte er doch nicht.

Endlich stand der Bock auf, aber so, daß er den Spiegel zeigte, und langsam zog er bergan. Vorsichtig pirschte der Jäger den Hohlweg zurück und den Holzabfuhrweg entlang, der der Länge nach durch den Wald führte, sorgfältig abspürend, ob sich nicht die Fährte des Bockes zeige, und fortwährend auf den Rauch der Zigarre achtend. Rehfährten gab es genug; aber die des starken Bockes war nicht dabei, und der Wind war günstig. So leise wie ein Fuchs schlich der Jäger den Weg entlang, bis das dichte Unterholz aufhörte und das helle Holz begann. Dort stellte er sich vor eine dicke Buche, nachdem er einen vollaubigen Buchenzweig vor sich in den Boden gesteckt hatte, um etwas Deckung zu haben. Eine ganze Stunde stand er da und sah nichts als eine Ricke mit zwei Kitzchen. Mit der Zeit langweilte ihn das Paffen, und er wollte eben fortgehen, da hörte er es zu seiner rechten Hand brechen. Vorsichtig wandte er den Kopf, aber da ging es auch schon: »Bö, bö, böö;« polternd sprang der Bock ab und schimpfte noch eine ganze Weile aus der sicheren Dickung; und als der Jäger nach dem Pfeifenrauche sah, fand er, daß der Wind sich gedreht und dem Bocke die Witterung zugeweht hatte.

»Halt!« dacht er; »der Bock wird jetzt nach dem Hai ziehen. Also werde ich dort abwarten.« So pirschte er wieder den Holzweg und den Hohlweg zurück. Als er auf der Mitte des Weges war, sah er, daß der Bock quer über den Weg gewechselt war. Also mußte er wieder umkehren und den Steig nehmen, der am Rande des unteren Teils der Haulung entlangführte, wo das Ellernsohl lag. Kaum war er hundert Schritte in den Steig eingebogen, da stand eine Ricke vor ihm, und er mußte eine halbe Stunde warten, bis sie in den Busch zog. Als er am Ellernsohl war, eräugte ihn eine Krähe und schlug Lärm; sofort brach es im Gebüsch, ein starkes Stück Rehwild sprang ab und flüchtete in die Fichtendickung; da sah der Jäger, daß es der Bock gewesen war; und nun wurde der alte Herr wütend und sagte; »Nun gerade!«

So vesperte er erst, schlich wieder zurück und ging zum dritten Male den Hohlweg entlang. Als er nach einer halben Stunde vorsichtig aus der Felsenspalte trat und mit dem Glase das Hai absuchte, auf dem junge Birken, Fichten, Brombeeren, Fingerhut, Weidenröschen, Sandrohr, Tollkirsche und Jakobskraut abwechselten, sah er da wohl drei Ricken herumäsen, sonst aber nichts. Vorsichtig pirschte er sich an den Hochsitz heran, immer Umschau haltend, ob sich nicht irgendwo im Gestrüpp der hellgelbrote Fleck zeige, und jedesmal, wenn ein Zaunkönig oder eine Grasmücke schimpfte, stehen bleibend, bis die Vögel ruhig wurden. Endlich, nach einer vollen Viertelstunde, hatte er die hundert Schritte hinter sich. Er entlud die Waffe, hängte sie über den Rücken und stieg die Leiter empor. Als er drei Sprossen hinter sich hatte, sah er hinter einem Schlehbusch einen gelben Fleck, und darüber blitzten weiße Enden. Da stand der Bock, äugte den Mann einen Augenblick an, dann machte er eine hohe Flucht nach dem Busch hin, und sein dröhnender Baß schallte höhnisch herüber.

Nun lachte der alte Herr, aber es war ein ärgerliches Lachen. Mit brummigem Gesicht stieg er von der Leiter, ging um das Hai herum und setzte sich im hellen Holz auf einem Baumstumpf, so daß er die Fichtendickung übersehen konnte. Eine Stunde saß er da, sah aber nichts als den Fuchs, der dicht an ihm vorbeischnürte, und einen Hasen, der hinter dem Fuchse herhoppelte. Es wurde dämmerig, die Tauben kamen von Felde zurück, überall tickten die Rotkehlchen, im Felde rief der Rebhahn, Salamander watschelten über das Moos, lange, gesteifte Schnecken krochen im Fallaube, die große Fledermaus flog um, der Bussard schwang sich zum Schlafen ein, der Kuckuck verstummte, ein Reiher ruderte heiser rufend hoch über den Wipfeln hin nach den Fischteichen im Tale, und quarrend strichen die Saatkrähen zu ihren Brutholze.

Mit einem Male war vor der Dickung ein roter Fleck. Der Jäger setzte vorsichtig das Glas an die Augen. Es war der alte Bock, aber er stand spitz von vorn. Im nächsten Augenblick war er fort. Dann tauchte er mehr rechts auf, verschwand wieder, kam bei den grauen Klippen zum Vorschein, trat wieder zurück und war bald darauf links auf dem Grasband unterhalb der Dickung, halb verdeckt von einem Weinrosenbusch. Von da aus schob er sich ganz langsam hinter den Dornbüschen her in den lichten Bestand, aber sorgfältig hinter den Stämmen Deckung nehmend. Der Jäger zog die Büchse an die Backe und wartete darauf daß der Bock das Blatt freigeben solle. Der Pfeifenrauch strich steif nach links. »Zieht der Bock noch fünfzig Schritte weiter, so bekommt er Wind,« dachte der Jäger. Da fingen sie Wipfel an zu rauschen, die Farnwedel zuckten, die Grashalme nickten, und plötzlich zog der Tabaksdampf gerade auf den Bock zu. »Bö«, machte der und sprang in die Dickung, und als der Jäger aufstand und fortging, schalte es immer wieder hinter ihm: »Bö, bö, böö,« und als er das Holz hinter sich hatte, hörte er immer noch, wie der alte Bock hinter ihm herschimpfte.


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