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Der Tag, an dem über die Taufe des Kindes Beschluß gefaßt wurde, war für Uutela ein schrecklicher Tag. Zwei Menschen, die nichts miteinander zu schaffen hatten, sollten für immer durch die Bande von Vater und Sohn vereinigt werden.
Allerdings nur der Form nach – das wußte Uutela, und es hielt ihn aufrecht. Aber diese Bande waren furchtbar, denn sie waren unauflöslich. Und es betraf nicht nur ihn, sondern es war zugleich ein Betrug sowohl gegen die göttlichen als gegen die menschlichen Gesetze – die Unterschlagung einer Sündenfrucht im Namen der Ehe. Konnte er an diesem Betrug teilnehmen?
Als er jedoch die Not der alten Frau las: es ist ja sehr unrecht, aber helfen Sie uns doch, Uutela, um Gottes willen, dies zu einem Ende zu bringen – da überwand er seine Bedenken. Was lag an den äußeren Gesetzen, wenn nur das innere erfüllt wurde, und dessen Erfüllung war: leiden mit den Leidenden.
»Als Namen haben wir Kustaa gedacht …?« fügte die Frau scheu fragend hinzu.
»Das ist gut gedacht«, erwiderte Uutela. Er konnte nicht anders, er mußte der leidenden Frau zunicken.
Und so beruhigte er sich auch darüber.
·
An dem Tag aber, als das Kind nachhause gebracht wurde, ergriff ihn von neuem die Angst – gewaltiger als je zuvor. Jetzt mußte er es sehen, es als Vater entgegennehmen, unter einem Dach, in einem Raum mit ihm leben, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche … Wie konnte er dies ertragen …?
Keskitalo kam zu ihm, blaß wie ein zum Tode Verurteilter.
»Soll ich wohl an die Bahn gehen?« fragte er mit klangloser Stimme.
Er wußte, daß seine Frage überflüssig war, doch war er selbst so unruhig, daß er wenigstens ein paar Worte mit Uutela wechseln mußte, um zu erforschen, in welcher Gemütsverfassung sich dieser befand.
»Geh du nur«, erwiderte Uutela und versuchte mit dem Kopf zu nicken. Indes bemerkte Keskitalo, daß er ganz in seine eigenen Gedanken versunken war und gleichwie außer seiner selbst sprach.
»Wenn ich sie noch mit Ehren nachhause bekäme!« seufzte Keskitalo.
·
Uutela versuchte sich im Hause eine kleine Arbeit zu machen, aber daraus wurde nichts. Er überließ sich immer wieder seinen Gedanken, und seine Angst wuchs von Minute zu Minute. – Er begab sich auf den Hof hinaus.
»Soll ich zu den Jungen auf die Brache gehen – oder vielleicht doch lieber in den Wald?« überlegte er. »Hier kann ich nicht bleiben.«
Er ging, machte aber schon nach einigen Schritten Halt.
»Was nützt das auch – ich muß sie ja doch sehen.«
Er begab sich in den Vorbau der guten Stube und setzte sich auf die Bank.
»Wenn ich getrennt wohnen könnte, in irgendeiner Hütte, und nur zur Arbeit hierherkäme?« Er begann eigens darüber nachzudenken.
Da ertönte, fernher vom Wind getragen, ein langer Pfiff. Uutela fuhr auf, wie wenn ihn etwas gestochen hätte. Jetzt kommt es – die Sünde und die Schande – lebend, atmend, sehend!
Es war ihm, als müsse er fliehen und sich verbergen, und er rannte in die Stube. Dort begann er eilig umherzugehen – fühlte den Fußboden unter sich brennen und begann fast zu laufen. Dann blieb er plötzlich stehen.
»Jetzt steigen sie aus dem Zug. Alle blinzeln sich zu und lachen: guck, daß der »Vater« sie nicht einmal abholt – hm!«
Er fühlte, daß er ersticke. – Hinaus!
Auf dem Hof angelangt, vernahm er einen zweiten Pfiff.
»Jetzt ist der Zug abgefahren – jetzt steigen sie auf den Wagen – jetzt kommen sie. – Weg, davon!«
Er machte sich auf, ohne daran zu denken, wohin. Zufällig bog er auf den zum Ufer des Sees führenden Weg ab und eilte auf diesem mit rasender Geschwindigkeit die Böschung hinab. Weg, weit weg, für immer!
Nach einer Weile hörte er hastige, laufende Schritte hinter sich – er fing auch selbst an zu laufen. Er bemerkte kaum, daß er das Ufer erreicht hatte, sah zwar das Wasser weit vor sich, dachte aber nicht an Ertrinken noch an Tod, sondern nur das eine: weg, weit weg! Ohne seine Geschwindigkeit im geringsten zu vermindern, lief er in den See und lief im Wasser von dem seichten Ufer nach der Tiefe zu.
Da hörte er hinter sich einen Schrei und den Ruf: »Uutela, Uutela, um Gottes willen!«
Es war Hannas bebende, flehende Stimme. Er machte Halt, wie gefesselt. Keine andere Kraft als diese Stimme hätte ihn in dem Augenblick zurückzuhalten vermocht.
Er wandte sich um und sah das Mädchen bis an die Knöchel im Wasser stehen und ihm immer nachkommen.
Seine Gedanken gingen wirr durcheinander. Er winkte Hanna mit der Hand, sie solle zurückgehen, wußte jedoch nicht, was selbst tun, machte einige Schritte auf das Ufer zu, blieb aber wieder stehen.
Da bemerkte er dicht neben sich ein Boot. Er ging geradeaus durch das Wasser darauf zu wie auf einen letzten rettenden Strohhalm, riß es mit einem Zug ins Wasser, stürzte sich kopfüber hinein und griff nach den Rudern.
Hanna war ebenfalls dorthin gelaufen und bat:
»Gehen Sie nicht, Uutela, gehen Sie nicht! Haben Sie noch diesmal Erbarmen, Gott wird helfen!«
Hannas Bitten und ihre Angst trafen ihn. Doch konnte er nichts sprechen, er deutete nur mit der Hand über die Schulter nach dem gegenüberliegenden Ufer. Dorthin wollte er – in die Wälder, weg, weit weg! Er begann so heftig zu rudern, daß das Wasser vorn an der Spitze brauste.
Während er da ruderte und das Boot vorwärts stieß, sah er das Mädchen immer noch am Ufer stehen und mit zusammengekrampften Händen bitten. Woran es auch lag, mitten auf dem See änderte er die Richtung und begann in einem großen Kreis herumzurudern, während das Wasser vorn immer noch schäumte.
Er ruderte einmal, ruderte ein zweites Mal im Kreise herum. Da fühlte er: mein Leben ist wie dies hier, ein Herumdrehen auf demselben Fleck, ohne Vorwärtskommen. – Nein, jetzt mache ich ein Ende, es muß doch geschehen!
Er ließ die Ruder ruhen und stand auf – ein Augenblick, und er war alles los!
Doch sein letzter Blick streifte wie aus Versehen das Ufer. Dort stand Hanna, vorwärtsgereckt, wie wenn sie sich ebenfalls ins Wasser stürzen wolle. Er hörte sie auch etwas rufen, aber es sauste ihm so in den Ohren, daß er nicht unterscheiden konnte, was es war.
Da fühlte er, daß er es ja nicht konnte – vor jenem Mädchen – und um jenes Mädchens willen.
Er ergrimmte, daß ihm der Weg zur Rettung so abgeschnitten war und daß er in die frühere Qual versinken mußte. Ohne etwas dabei zu denken, riß er sich die Jacke ab und warf sie in das Boot, setzte sich und griff abermals nach den Rudern.
Er begann mit der Hitze des Zorns und der Verzweiflung zu rudern. Das Boot sprang auf und schwankte – er duckte und streckte sich wie ein weißer Schatten – das Boot sprang von einer Seite zur anderen, die Ruder rasselten, das Wasser kochte schäumend – er stürzte immer weiter vorwärts, vorwärts auf der ziellosen Bahn der Verzweiflung.
Er hatte einen Bogen nach dem anderen gerudert, ohne den Kopf zu heben, ohne zu wissen, wo er war. Da hörte er durch das Brausen eine Stimme – und unterschied die Worte: »Gott wird helfen – Gott lädt uns eine Last auf – Gott wird tragen helfen!«
Es waren ihm stumpfe Worte, aber er war so ermüdet, daß die Ruder ihm wie von selbst aus den Händen fielen. Er blickte auf und bemerkte, daß er nahe am Ufer war. Das Boot hatte sich umgedreht und ging nun darauf zu. Er selbst saß kraftlos auf der Ruderbank.
Das Boot glitt von selbst fast bis an das Ufer. Hanna eilte in das Wasser, faßte die Spitze und zog es daran ans Land.
Uutela aber saß immerfort unbeweglich, stumpf auf der Ruderbank. Der Schweiß rann ihm vom Gesicht und füllte ihm die Augenwimpern, so daß er nicht vor sich sehen konnte.
Er fühlte sich zu Tode ermüdet.
Als er schließlich ans Ufer trat, schwankte er – tat einige Schritte – fiel vornüber – griff mit beiden Händen in das Gras, so daß seine Finger tief in die erdumwachsenen Wurzeln drangen – und zog sich fest an den Boden – aus dem Gras begann ein Schluchzen zu kommen.
Das Mädchen ließ sich neben ihn nieder – weinend, leise sprechend und wieder weinend.
·
Keskitalo fuhr gemächlichen Schrittes den Zaunweg zum Gut entlang und blickte unruhig nach dem Hofplatz.
Draußen war niemand zu sehen.
Sie kamen bereits zu dem Speicher. Noch niemand, nicht einmal Hanna!
»Vielleicht zeigt sich Uutela, wenn wir vor der Tür sind«, tröstete er sich.
Niemand. Die Kommenden blickten sich ins Gesicht, Keskitalo wurde von Angst erfaßt. Nachdem er den Frauen heruntergeholfen, spannte er das Pferd nicht aus, sondern band es eilig an den Ring in der Speicherwand und lief hinein.
Er ging aus einem Zimmer in das andere – keine Menschenseele. Seine Knie begannen zu zittern.
Da blickte er, wie das Schlimmste fürchtend, durch das Fenster nach dem See. Dort stand Uutela ganz nahe am Ufer – die Hände in den Taschen, zusammengesunken, zu Boden sehend. Dicht vor ihm befand sich Hanna, mit beiden Händen an Uutelas Jackenknöpfen und, wie es schien, leise zu ihm redend.
Keskitalo begriff, daß etwas geschehen war und daß sich etwas noch entwickelte. Doch tröstete es ihn, daß Hanna dabei war.
In demselben Augenblick kam die alte Frau unruhig herein. Keskitalo winkte sie zu sich und wies nach dem Ufer hinunter.
Sie sahen Uutela und Hanna zusammen langsam heraufkommen, blickten sich an und seufzten schwer. – Jetzt naht das Letzte!
Die Kommenden blieben stehen, Uutela schien Hanna zuzunicken – dann trennten sie sich. Das Mädchen lief in die Küche, Uutela aber sah man in Gedanken auf das Gesindehaus zugehen.
Hanna war so blaß, daß sie sie nur durch ihre Blicke zu fragen wagten. Das Mädchen antwortete ebenso, ruhig und sicher: wartet!
Keskitalo aber blickte immer noch unruhig durch das Fenster auf den Hof.
Schließlich sah er Uutela kommen. Er fühlte es so in seiner Brust würgen, daß er kaum Atem holen konnte. Er begann inbrünstig zu beten.
Uutela kam langsam, so, wie er vom Ufer heraufgeschritten war: Stiefel und Kleider naß. Er sah nicht nach rechts und nicht nach links, als er durch die Küche ging.
Zur Kammertür hereingetreten, blieb er einen Augenblick stehen und nahm die Mütze ab. Die anderen, die leise hinter ihm herkamen, sahen die Bewegung in seinen Zügen.
Dann aber trat er mit sicheren, langsamen Schritten an das Bett, in dem der kleine Knabe lag. Er blieb daneben stehen und schaute das Kind eine Weile aufmerksam an – es schien, als ginge ein stilles Beben durch ihn hindurch.
Aber sofort danach zeigte sich auf seinem Gesicht etwas wie ein Lächeln – er erhob die Rechte und beschrieb langsam ein großes, kräftiges Kreuz über der Brust des Kindes.
Er wußte nicht, ob man es so mit den Kindern machte, aber er hatte in dieser Weise Tote segnen sehen und wollte jetzt den Kleinen segnen, so gut er es verstand.
Die junge Frau, die beim Kopfende des Bettes saß, hatte Tränen in den Augen. Sie hob scheu den Kopf und blickte nach Uutela hin – wie um Verzeihung bittend. Er bemerkte es, blickte zurück und nickte gleichsam. Alles in einem kurzen Augenblick – weiter sahen sie sich nicht an.
Der an der Tür stehende Keskitalo hatte die Hände fest gefaltet, und Tränen rollten über seine mageren Wangen. Er wäre gern zu Uutela gegangen, wäre ihm um den Hals gefallen und hätte gesagt: du hast Böses mit Gutem vergolten – vergib nun auch uns noch! Aber er vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren.
Uutela sprach nichts. Er konnte auch nicht länger drin bleiben, sondern ging, wie er gekommen war.
Auch die anderen wechselten kein Wort miteinander.
Keskitalo war auf den Stuhl am Fenster gesunken und lehnte zusammengefallen am Fensterbrett. Er fühlte, daß er keinen Tropfen mehr hätte hergeben können, wäre ihm diese Last jetzt nicht von den Schultern geglitten.
Aber es war ihm zugleich, als ob er verblutet sei – so fühlte er.