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XI

Es war Nacht geworden.

Der Mond zog scharfgespitzt seine Straße. Die Sterne flimmerten stechend. Der Himmel war kalt und hoch.

Unten lagen die öden Schneeflächen.

Hier und dort inmitten des weißen Feldes schlief ein einsames Gehöft. Neben den Gehöften hielten dunkle, gespenstische Schatten Wacht.

Ueber das Feld hin aber ging ein böser Wind, nächtig rauh und einsam.

Er kam aus der engen Pforte der Anhöhen still wie ein Seufzer, verbreitete sich aber auf dem Feld zu einem kaltkräftigen Blasen. Er fegte weite Strecken bloß, bis er irgendwo auf einem durch Gestöber angeschwellten Weg oder an der Wand eines Hügels einen Armvoll losen Schnee fand – auf der grauschimmernden Decke lief eine weißschimmernde Welle.

Von den Rändern des ebenen Landes und von den Hängen der Anhöhen blickte der kalternste, leise seufzende Wald herüber.

·

Inmitten dieser Oede, auf dem weiten Eis eines schmalen Sees schritt ein einsamer Mann dahin – vornübergebeugt, die Hände in die Taschen eines kurzen Rockes geschoben.

Der wenig befahrene Weg war nach einem Schneetreiben uneben und holperig. Der Wanderer starrte auf seinen kurzen Schatten, der, seinen schwankenden Schritten, folgend, hinundher flackerte.

»So bin ich jetzt auch«, dachte der Mann, »ebenso losgerissen und schwankend.«

Der Wind schnitt ihm heftiger ins Gesicht, aber er fühlte es nicht.

»Warum mußte dies geschehen?« dachte er wieder. »Mein Leben ist makellos und ehrbar gewesen. Selten mag es sich so fügen. Weshalb mußte gerade mich dieser Stoß treffen?«

Er bemerkte plötzlich die mondbeschienenen Uferabsätze unmittelbar vor sich und machte Halt – er war an das Ende des Sees gekommen.

»Hier müßte ich umkehren«, seufzte er schwer. »Aber was habe ich denn dort noch zu tun!«

Er fühlte eine solche Einsamkeit und Oede in der Seele, daß er, wenn ein Eisloch vor ihm gewesen wäre, ebenso gut vorwärts und in dieses hinein hätte treten können wie umkehren.

»Ich habe mich immer gewundert, wie die Menschen so etwas tun können. Jetzt wundre ich mich nicht mehr. Wenn man in der Welt nichts mehr hat, dann … Und ich habe nichts – habe niemanden, der mich vermißte – Karoliina ausgenommen …«

Der Wind ging ihm wie kalte Nadeln durch den Körper – nun, wo er stehen geblieben war, spürte er ihn.

Er wandte sich langsam um. »Es ist ja einerlei, wohin ich gehe«, dachte er.

Aber seine Gedanken waren bei der Erinnerung an seine Schwester in neue Spuren eingebogen.

»Nun haben sie mir noch einmal den Balg ins Gesicht geworfen!« schäumte er bitter auf »Und vielleicht auch den Knecht. Vielleicht den Balg des Knechtes zu dem früheren Knecht und Balg! Das wäre erst etwas!«

Er war so erregt, daß er kaum Atem zu holen vermochte – jetzt, wo ihm nach der Wendung der Wind ins Gesicht peitschte.

Und so zog ihm sein ganzes früheres Leben bis zu dieser Nacht durch das Gehirn. Die freudlosen Kinderjahre des vaterlosen Knaben, der Kampf, das Mißgeschick und die Erfolge der Jahrzehnte, die Arbeitsfreude, das verjüngende Alter, das gewissermaßen gegen das Ende zu wärmer und tiefer wurde – wie sich die Furchen eines guten Pflügers von Jahr zu Jahr vertiefen. – Nun dies!«

»Wir glauben Herrscher und Herren über unser Leben zu sein«, fuhr er in seinem Sinnen fort. »Da kommt eine kleine Biegung auf dem Weg der Vorsehung, und alles zerschellt – ein anderer Mann ergreift die Zügel und sagt: ich bin hier Herr!«

Er fühlte in diesem Augenblick die Hand der Vorsehung, groß und mehrere Klafter breit, wie sie sich ungesehen dem Menschen von hinten auf die Schulter legt, so schwer und erdrückend, daß er sich nicht von der Stelle rühren kann und nichts mehr begreift, nur ihr Gewicht fühlt.

»Und geschieht dies nun mit Gottes Willen?« dachte er wieder. »Was will er von mir? Ich dächte, es wären andere vor mir zu ermahnen gewesen – so hat es mir geschienen. Was bezweckt er hiermit?«

So sehr er auch grübelte, diesen Zweck konnte er nicht begreifen. Ruchlose Menschen – so schloss er – haben sich hier in Sünden herumgewälzt und dann ihr Elend einem Unschuldigen auf den Nacken geladen.

»Das ist doch ein merkwürdiges Sichten!« rief er in Gedanken aus. »Man sucht und versucht sein Bestes – und dann ein solches Ende. Hat man dafür gelebt? Was ist dann das Leben?

Er war in seinen Gedanken stehen geblieben. Er hob den Kopf und blickte sich, wie nach einer Antwort suchend, um.

Aber niemand antwortete. Alles war so kalt, öde und stumm wie seine eigene Seele.

»Das Leben«, schloß er, »was ist es weiter als der Weg dort. Es schlängelt sich und windet sich vorwärts, und dort sieht man schon nichts mehr von ihm. Und der Mensch ist wie die Schneekörner dort, die der Wind vor sich hertreibt. Jetzt dorthin – nach einer Weile hierher – jenachdem wie sie der Wind herumwirft.«

Er ging wieder vorwärts.

»Soll ich mit dem Pfarrer sprechen?« dachte er nach einiger Zeit. »Wenn der sagen könnte, was hier zu tun ist?«

Er schritt eine weite Strecke vorwärts, während er dies hinundher überlegte.

»Das läßt man wohl besser sein«, schloß er zuletzt. »Sie sind zu jung, sowohl der Kaplan als der Stellvertreter des Propstes. Was verstehen sie von solchen Sachen! Das muß man wohl allein ausmachen – wie man es auch allein tragen muß …«

Er dachte jedoch weiter, daß es gleichwohl die Last erleichtern würde, wenn er mit jemandem sprechen könnte.

»Immerhin besser mit den Jungen«, meinte er. »Sie sind gute Burschen – und jetzt verstehe ich ihre Blicke: sie haben schon vor mir gelitten. Aber ein Blinder kann ja einen Blinden nicht führen.«

Er bemerkte, daß vor ihm ein Weg abzweigte, und machte zusammenfahrend Halt. Da stieg ein kleiner Seitenweg die Böschung hinan.

Dort stand der Gutshof tot und gespenstisch. Er sah die Schatten der hohen Birken geheimnisvoll auf der Schneedecke schwanken und hörte das stille Knirschen und Knacken ihrer vereisten Zweige in dem kalten Wind.

Und da war der Hügel mit der Korndarre! Die alte, baufällige Scheune schien sich kaum noch aufrechtzuhalten – auch die neuen Balkenhaufen sahen in dem fahlen Licht des Mondes in erschreckender Weise aus, als wollten sie zusammensinken.

Alles das, was ihm noch vor einigen Stunden traut und lieb vorgekommen war, wirkte jetzt tot und abstoßend.

Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Nein, vorwärts muß ich, seis bis ans Ende der Welt!« Er machte sich wieder auf.

Aber der Wind drang so heftig durch seine dünnen Kleider, daß er zitterte. Da hielt er inne und begann zu überlegen.

»Ich kann ja doch diese Nacht in der Gesindestube schlafen – dann gehe ich morgen früh irgendwohin.«

Als er die Böschung hinanschritt, überkam ihn ein unheimliches Gefühl – er fühlte sich plötzlich alt.

Seine Beine kamen ihm unbiegsam steif vor. Wie wenn er ein alter krummer Wacholderstecken gewesen wäre, der sich nur noch infolge der Steifheit seiner eigenen Krümmung vorwärtsarbeitete.

»Was ist denn das Alter?« fragte er sich entsetzt. »Es ist nicht immer Krankheit oder auch nur Schwäche – es ist etwas anderes.«

Vor das Gesindehaus gelangt, hielt er an und betrachtete es wie ein fremdes Gehöft,

Da bemerkte er zu seiner Ueberraschung, daß der Kater Mikko auf dem Dache am Rand des Schornsteins saß.

Das machte einen eigentümlichen Eindruck auf ihn. Wie wenn es eine neue Erscheinung in dem großen, unbegreiflichen Lebensrätsel gewesen wäre, das sich in dieser Nacht vor ihm aufgetan hatte.

»Hast du auch Gedanken, mit denen du geflohen bist?« wunderte er sich.

Er sah lange hin und fühlte sich bewegt. Es war ihm seltsam, aber zugleich tröstlich, daß dort über ihm noch ein anderes lebendes Wesen war, das über einsame Gedanken brütete, wie er selbst es tat.


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