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Der Boden war noch nicht gefroren, obwohl man schon November hatte.
Die tavastländischen Espen in den Ecken der Gärten und Hofplätze weinten entlaubt in der nebligen Luft des Spätherbstes. Die tavastländischen Fichten auf den Hügelchen und an den Gatterpfosten seufzten voll Sehnsucht, und kleine glanzlose Tropfen saßen an den Knoten der Aeste und an den verdorrten Stengeln der Gräser, obwohl der Tag schon bis in die Mitte vorgeschritten war. Ueber allem ruhte flach und schwer ein dunkelgrauer Himmel.
Die Leute von Keskitalo traten den Umzug nach Savolax an.
Schon an den zwei vorhergehenden Tagen war allerlei Gerät und Arbeitswerkzeug nach der Station gefahren worden. Viel hatte sich auch angesammelt – altes Trautes und Liebes, von dem man sich nicht trennen mochte, wenn man es auch nicht notwendig brauchte.
Heute war der eigentliche Tag des Aufbruchs.
Zu langem Abschied war keine Zeit gewesen, obwohl man die liebe Heimat verließ. Zum Teil konnten sie kaum mehr als einen Seitenblick hinwerfen, als es durch das Tor ging, denn das Vieh lief und brüllte wirr durcheinander, da es glaubte, es werde auf die Weide gelassen.
Voran wanderten, von Hanna und der dreizehnjährigen Helka behütet, etwa zehn Schafe. Auf dem Gutshof gab es ihrer nur wenige, und überhaupt sollte es in Savolax nicht viele geben.
Dann folgten sieben Kühe und ein breitgestirnter Ochs, den der älteste Sohn Vihtori an einem Strick leitete. Die anderen hätten sich mit einer geringeren Menge Vieh begnügt, doch Uutela war unerschütterlich gewesen, er glaubte von den »Savolaxer Fröschen« nichts Gutes. – Er hatte auf der Reise nach Savolax ein hartnäckiges Mißtrauen gegen alles Savolaxische erhalten.
Zuletzt gingen die beiden Frauen, die alte und die Junge, mit allerlei kleinem Kram auf dem vollbepackten Wagen, während Liina hinten angebunden nachlief.
Noch befand sich auf dem Wagen, in einem mit einem Sack bedeckten Spankorb, der große schwarz- und weißgefleckte Kater Mikko. Uutela wollte auch ihn mithaben – er traute eben nicht einmal den savolaxischen Katzen.
·
Nachdem die Tiere die heimischen Aecker hinter sich hatten, beruhigten sie sich auch schon. Der Weg stieg mit sanfter Böschung eine kleine Hügelkuppe hinan.
»Ach, der Keskitalo-Hof ist doch schön!« seufzte Hanna mit ihrer weichen Stimme, und ihre keuschblauen Augen flimmerten sehnsüchtig.
»Das ist er«, erwiderte Uutela in demselben weichen Ton. – »Aber nun bleibt er dort.«
Keskitalo blickte nach Uutela: es war Zeit, daß er eingriff.
»Er bleibt dort!« sagte er wie von etwas, das vergangen ist. »Aber ich wette, daß wir keine volle drei Stunden zu marschieren brauchen, so blinken uns schon die Dächer des Gutshofs entgegen!«
Er sagte dies mit so ansteckender Laune, daß alle zu lächeln und gleichsam an jene neuen Dächer zu denken begannen. Helka allein schaute verwundert drein, doch als sie begriffen hatte, daß sich in den Worten ihres Vaters ein Witz versteckte, lachte sie laut über diese Erkenntnis.
»Macht nur, daß ihr vorwärtskommt, der Tag vergeht!« sprach Keskitalo heiter. »Hü hü, Heipparinna!« er schmitzte eine Kuh mit seiner Peitsche. »Und was hat denn die Onnike dort drüben zu suchen – lauf mal hin, Kalle!«
Erleichtert gingen sie weiter. Nur die alte Frau wischte sich mit dem Zipfel ihres Kopftuchs heimlich den Augenwinkel aus.
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Der Weg führte dauernd durch angebaute Gegend. Hier und dort war immer ein Gehöft, eine Kätnerei oder eine Hütte.
Es tat so wohl, daß diese alten Bekannten da waren, die gleichsam Lebewohl sagten und Glück wünschten.
Fast in allen, auch den abgelegeneren, bemerkte man ihren Zug. Stets erschien im Fenster ein Kopf, dann mehrere – die blickten dort zwischen den Myrten, Balsaminen, Fuchsien und Pelargonien hindurch und dachten warme Abschiedsgedanken.
An einigen Stellen kamen die Leute bis auf den Hof und schauten von dort nach. Aus einigen näheren wurde gerufen: »Glückliche Reise!«
Dann aber kam eine unbewohnte waldige Strecke, und dort legte sich mit Gewalt ein Druck auf die Gemüter. Jeder versuchte ihn den anderen zu verbergen – man rief dem Vieh zu, lief und schwang die Peitsche, wiewohl es nicht immer nötig war.
Auch Uutelas stilles Lächeln begann zu schwinden. Er war durch die mehrtägige Arbeit etwas ermüdet, und als nun lange Zeit kein anderer Laut als das eintönige Trappen der Viehhufe und das ständige Knirschen der Wagenräder zu hören gewesen war, peinigte es ihn allmählich.
Sie wanderten über eine kleine, aus Stein gebaute Landstraßenbrücke.
»Sieh, da haben sie ordentlich Steine als Geländer angefahren – das habe ich früher nicht bemerkt!« äußerte Uutela, froh, daß sich ein Gesprächsstoff bot.
»Die sind den ganzen Sommer da gewesen«, beeilte sich Keskitalo fortzufahren, »Sind auch tüchtige Kerle!«
Uutela lief von dem Weg hinunter, um die Brücke auch von der Seite zu betrachten.
»Das ist gewölbt wie eine Kellerdecke«, sprach er, »Solche werden auch nirgends als in Tavastland gemacht!«
»Ja gewiß!« stand es auch in den Augen der anderen.
Keskitalo merkte, daß die Dinge eine schlimme Wendung zu nehmen drohten.
»Jetzt werden schon überall steinerne Brücken gebaut«, sagte er schnell. Dann fing er an, von Oskari Hemilä, dem Brückenbauer, von seinen Kuhställen, Brunnen und Brücken zu reden.
Er war heute federnd wie ein Bogen und bemühte sich, aller Enden die gute Laune lebendig zu erhalten.
Uutela aber blickte ihn von Zeit zu Zeit von der Seite an und hatte seine eigenen Gedanken.
·
Auf dem Wege wurde das Knarren eines Wagens hörbar – dort kam ein Bekannter aus dem Nachbardorf angefahren.
Da ergriff helle Freude die Gemüter.
»Ihr seid also nun auf der weiten Reise«, sagte der Mann, sein Pferd anhaltend.
»Was heißt da lang, ein paar Stunden bis zur Bahn!« warf Keskitalo hin.
»Na na«, lachte der andere. »Mich wundert doch, weshalb ihr dort hinter die Welt ziehen mögt.«
»Weshalb?« lachte Keskitalo. Er zeigte lebhaft mit der Hand: »Zwei solche alten Knaben hier und zwei solche Schollentrampler dort – uns wird dies Tavastland zu eng!«
»Na na«, machte der andere. »Man hat auch früher hier gelebt.«
»Freilich hat man gelebt, aber wir wollen ja reich werden!« fiel Keskitalo ein.
Alle fingen an zu lachen.
»Und was redest du denn: der Uutela da hat schon drei Gehöfte zustandegebracht – er muß doch wohl noch ein viertes zustandebringen dürfen, und in Tavastland sind die Gehöfte beinah schon alle in Ordnung.«
Das hob die Freude noch mehr.
»Ja ja«, lachte der Mann. – »Na, Glück zu, und laßts euch gut gehen!« Er fuhr davon.
Keskitalo aber rief ihm noch nach:
»Schick mir nur einen Brief, wenn dich auch nach Reichtum gelüstet – du kommst doch noch mal hinterdrein!«
»So muß mans machen!« dachte Uutela. Seine Seele begann sich wieder gegen Keskitalo zu empören. Obwohl er andrerseits den Mann bewundern mußte, der so anführte, beherrschte und die in Niedergeschlagenheit versinkenden Gemüter im Zaume hielt.
»Was ist denn dabei? es ist ja recht so – aber weshalb sagt er mir nichts, weshalb hält er auch mich im Zaum?«
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Es war auf der letzten Strecke fortwährend langsam hügelan gegangen. Jetzt hörte der Wald auf, der Weg machte eine Biegung, und vor ihnen breitete sich plötzlich eine kleine tavastländische Dorflandschaft aus.
Sie machten alle Halt – nur das Vieh setzte aus eigenem Antrieb seinen langsamen Trott fort.
Das Dorf war altbekannt, aber es hatte nie so schön und ernst feierlich ausgesehen wie jetzt.
In der Mitte schlängelte sich der gelbbraune Weg zwischen Feldern und Hügelchen hin, wie wenn er nach einer erlaubten Bahn für sich suchte. Zu beiden Seiten wimmelte es von grauen Stangenzäunen. In ihrem Bereich liefen die lockeren, dick mit Humus überzogenen Ackerbeete, die einen in langen Streifen bis an den Waldrand, die anderen von kleinen Erhebungen nach allen Himmelsrichtungen auseinandergestreut, manche üppig und grün von der jungen Saat, manche graublasse Stoppelfelder, die dritten massig fett, vom Pfluge aufgerissen und mit tiefen, steilen Gräben, die noch von den Spatenstichen glänzten. Sie alle wurden beherrscht von roten oder grauen Gehöften – am Waldrand, an der Landstraße, auf Hügeln inmitten der Felder. Hier und da auf den Ackerbuckeln eine einsame Kiefer oder ein großer Steinblock, von Wacholderbüschen umgeben, noch öfter eine graue Scheune oder ein rotes Göpelwerk.
Niemand sprach, sogar Keskitalo schien bewegt. Wortlos schritten sie langsam auf die Ebene hinab.
Uutela konnte sich nicht ableugnen, daß ihm weh zu Mute ward. Er wußte selber nicht, was er eigentlich wünschte – es war nur während des langen schweigenden Hinschauens entstanden, das die Zäune, die Beete und Gräben, die Bäume, Steine und Scheunen, die Gehöfte mit den rauchenden Schornsteinen oder den leise qualmenden Korndarren, das Leben des ganzen Dorfes umfaßt hatte. Und als er nun, ganz hinten geblieben, die in einem ziemlich langen Zug den Hügel hin abziehenden Schafe und Kühe mit ihren Treibern, den Wagen mit seinen Insassen und dem nachlaufenden Pferde sah, da konnte er nicht mehr gegen das Gefühl des Augenblicks ankämpfen.
»Dies ist doch merkwürdig«, sagte er, zu den anderen kommend, mit bebender Stimme. »Wie wenn man Abraham und Lot wäre und ins Land Kanaan wanderte.«
Keskitalos Mundwinkel verzogen sich zu einem vergnügten Lächeln, weil auch Uutela einmal einen biblischen Vergleich gebrauchte. Er wandte sich zu ihm:
»Und beiden ging es wohl und ihrem Volke – wie sie auch Männer und Gebrüder waren untereinander!«
Uutela schwebte ein beißendes Wort auf der Zunge wegen dieses Abschlusses und des fromm süßlichen Tones, in dem er ausgesprochen wurde. Aber sein eigenes Gefühl war so wahr und feierlich, daß er seinen Aerger hinunterschluckte und nichts erwiderte.
Keskitalo dagegen redete umso mehr. Er begann breit davon zu erzählen, von welcher Art Savolax war und wie es dort aussah.
»Du flunkerst!« dachte Uutela ärgerlich. »Ich habe nichts dergleichen gesehen. – Obwohl: ich weiß, worauf du hinauswillst!«
Auch die anderen hörten kaum noch mit halbem Ohre zu – es hatte sie dasselbe Gefühl erfaßt wie Uutela.
»Seht mal, was für eine prächtige Saat!« – »In Arvola ist eine neue Glaslaube gebaut worden! Haben sie dort im Sommer Blumen?« Ausrufe und Gedanken kreuzten einander. Alles war so schön und lieb, daß es nirgends seinesgleichen gab.
Am Tore eines nach links abbiegenden Zaunwegs wuchs eine große Fichte, die als Gatterpfosten diente.
»Halt mal einen Augenblick!« rief der älteste Sohn, das Leitseil des Ochsen Hanna zuwerfend. Er selbst eilte zu der Fichte und schlang jungenhaft ausgelassen seine beiden Arme darum. – Die Hände erreichten sich nicht.
»Komm mal, Kalle!« rief er seinem Bruder zu. »Ob wirs wenigstens zu zweien fertigbringen?«
Der jüngere Bruder kam erfreut herbeigelaufen.
Es brauchte jedoch nicht soviel, um den Baum zu umspannen. Aber sie maßen immer weiter, wie wenn sie die alte schrundige Fichte heimlich umarmten – während die anderen lächelnd zusahen.
»Solche Kerle wachsen nicht überall!« rühmte Vihtori.
»Nein, so eine Fichte am Gatter ist doch was Prächtiges!
»Hinter dem Pferdestall von Arvola steht genau so eine!« rief Hanna, mit der Hand dorthin deutend.
»Und dort – seht ihr? Es gibt doch prächtige Fichten in Tavastland!«
Die mußte man jetzt alle verlassen.
Und dahinten dämmerte, durch Uutelas Vergleich emporgehoben, der geheimnisvoll lastende, schicksalsschwangere Hintergrund der Reise. Nur von den Männern Gottes, von Königen und Helden hatten sie gelesen, daß sie solche Pfade wanderten, nie von bäuerlichen Menschen und nicht wegen solcher Dinge.
Sie wanderten sie jetzt …
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Uutela blieb stehen, hob die Hand über die Augen und blickte darunter hervor, wie wenn er nicht geglaubt hätte, was er sah. – An dem auf die Landstraße mündenden Seitenweg stand eine ältere Frau.
»Sieh mal an, Karoliina!« rief Keskitalo aus. »Und so weit her!«
»Man muß doch wenigstens Lebewohl sagen«, entgegnete Karoliina in ihrer gutmütigen Art, die Vorbeiwandernden mit der Hand begrüßend.
Die Geschwister blieben hinter den anderen zurück.
»Es ist soviel zu tun gewesen«, sagte Uutela, wie um Verzeihung bittend, daß er nicht zum Abschiednehmen gekommen war, sondern daß sich die Schwester hatte aufmachen müssen.
Darauf folgte ein langes Schweigen.
»Ich hätte nicht geglaubt, daß es eine so weite Reise für dich werden würde«, sagte schließlich die Schwester.
»Ich auch nicht.«
Dann gingen sie wieder in eigenen Gedanken vorwärts.
Das Dorfgelände war zu Ende, sie waren einen kleinen bewaldeten Hügel hinangestiegen. »Jetzt kehre ich um«, sagte die Schwester.
Sie hielt die Hand des Bruders in der ihren, beider Augen waren feucht.
»Nun Gott befohlen!«
»Desgleichen!«
Die Schwester hätte noch sagen wollen: ist dies das letzte Mal, daß wir uns gesehen haben? Aber sie wagte es nicht, sowohl ihret- als seinetwegen. – So trennten sie sich.
»Ich habs ja ganz vergessen!« rief die Schwester zurückkehrend und ihrem Bruder fast heimlich ein kleines Bündel in die Hand gebend.
Uutela fühlte, daß es dicke Wollstrümpfe waren. Er warf seiner Schwester einen dankbaren Blick zu und wandte sich eilig ab.
Allein geblieben, wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen.
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Die anderen hatten schon einen großen Vorsprung gewonnen.
Die Straße ging schnurgerade, auf beiden Seiten die weittragende Linie der Telephonstangen mit den wunderbaren Drähten. Das gab Uutela die Vorstellung einer so unermeßlich weiten Reise, wie wenn er in die ferne Ewigkeit gewandert wäre.
Er holte die anderen auf angebautem ebenen Gelände ein. Der Weg war schmutzig geworden, die Radspuren hatten sich vertieft, die Tiere wateten bis zur Mitte der Beine im Schlamm.
»Karoliina läßt euch grüßen – ich bin weit zurückgeblieben«, sagte Uutela, um etwas zu sprechen.
»Danke schön.«
Die Kühe hatten Halt gemacht, um einen Augenblick zu verschnaufen.
»Das platscht ja bis hierher!« klagte Helka weinerlich, während sie vom Schenkel einer Kuh einen Schmutzfleck mit der Schürze abwischte.
»Dummes Mädchen!« hätten die andern rufen mögen, aber keiner brachte es übers Herz.
Da ertönte vom Wagen ein klägliches Miauen.
»Dir ist auch leid – Mikko, Mikko!« tröstete Helka.
Keskitalo versuchte noch einmal zu scherzen.
»Was miaust du denn? Wart, du kriegst dort bald andere Liebste, wenn du auch die tavastländischen Mädchen verlassen mußt!« witzelte er absichtlich etwas grobkörnig.
Aber auch das reizte nicht mehr zum Lachen. Alle hatte die Niedergeschlagenheit ergriffen. Jeder empfand, daß er jetzt für immer viel Liebes und Heiliges hinter sich ließ, was sich ihm tief ins Herz gegraben hatte – so fühlten sie.
Der Himmel hatte sich umdüstert. Das tränenschwere Wetter des Tages löste sich in einen Staubregen auf, der nach und nach alles in seinen grauen Mantel hüllte. Deutlicher hob sich nur noch der schmutzbedeckte Weg ab.
Aber auch dieser verschwamm weiter vorn in dem Nebeligen, Unbekannten und Verhängnisvollen, dem sie mit schweren Schritten entgegenwanderten.
Ende des ersten Teils