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Ein Tag verging nach dem anderen, ohne daß Uutela wußte, ob er lebendig oder tot war.
Er lebte das innere Leben des Einsamen. Heute brannte der eine Schmerz, morgen ein anderer, heute glaubte er einen Klarheit versprechenden Faden gefunden zu haben, morgen sank er bereits ins Dunkel zurück.
Nur eins fühlte er deutlich – daß er vorläufig nichts unternehmen und nirgendshin gehen konnte, bis er über sich und sein Leben zur Klarheit gelangt war.
Auch fühlte er bis ins Mark, daß ihn das Alter endgültig überrascht hatte, daß sein Lebensfaden nur noch durch die leicht zerreiß baren obersten Fasern zusammengehalten wurde.
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Als er zum ersten Mal die junge Frau wiedersah, glaubte er ruhig zu sein, wie er beschlossen hatte, seinen Weg ruhig zu gehen, mochte kommen, was da wollte.
Als aber, ohne daß er es wollte, sein Blick ihre gerundete Gestalt traf, da überkam ihn von neuem der unheimliche Wunsch, zu ihr zu gehen und sie ohne ein Wort zu erwürgen. Oder wenigstens vor sie hinzutreten und ihr vor allen ins Gesicht zu speien und zugleich das Unrecht, das ihm angetan worden war, in alle Welt hinauszuschreien.
Er hatte jedoch so viel Besinnung, daß er sich vorstellen konnte, wohin es führen würde. Und als er den lauernden Blick Riittas wahrnahm, versuchte er zu lächeln, obgleich es immer noch in seiner Brust wallte.
Er begriff jetzt, daß die Magd alles erriet, es wohl schon längst erraten hatte. Da erhob sich sein Stolz, sein gemeinsames Familien- und Tavastengefühl zu trotzigem Widerstand.
Als er sich vom Tisch erhob, zwang er sich, der jungen Frau beiläufig ein paar Worte zu sagen – damit sowohl Riitta als bei derselben Gelegenheit die anderen einsahen, daß ein Außenstehender nichts hiermit zu tun hatte.
Innerlich aber fühlte er einen Schauder. Namentlich abends, wenn er der Leute wegen gezwungen war, mit Manta in dieselbe Kammer zu gehen. Er schloß allerdings gleichsam die Augen vor allem, hatte sein Lager für sich und tat sofort, als sei er eingeschlafen. Aber es war ihm, als würde er jeden Abend in eine Folterkammer geführt, und in der ersten Zeit mußte er die Zähne aufeinanderbeißen, um einen Ausbruch zurückzuhalten.
Etwas anderes konnte er jedoch vorläufig nicht tun – nur leiden und schweigen.
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Er hatte mehrfach versucht, in den Kern der Sache einzudringen, ruhig und unparteiisch.
Es war ja wahr, daß er selbst diese Heirat gewünscht hatte. Aber daß sie Manta mehr als irgendeinem analeren von den Leuten Keskitalos zuwider gewesen wäre, davon hatte er früher keine Ahnung gehabt.
Nun hatte jedoch Hanna in jener unglückseligen Stunde etwas dergleichen gesagt.
Allerdings bestand ein Unterschied im Alter, das gab er zu. Aber das war doch nichts Ungewöhnliches, und dies war durchaus nicht der einzige derartige Fall. Und weshalb hatte Manta es damals nicht geradeheraus gesagt? Er hätte doch keine mit Gewalt geheiratet. – Weshalb nicht? Darin lag gerade das Unrecht!
Da dachte er an Keskitalo und daran, wie wichtig diese Heirat für seine schlechten Verhältnisse gewesen war.
Keskitalo ist der Schuldige dabei! schloß er. Hätte er damals wie ein Mann gesagt: ich möchte gern, aber meine Tochter will nicht, dann wäre es klar gewesen. – Dann die Flucht nach Savolax und die sonstigen Laufereien!
Der Haß auf Keskitalo begann in ihm zu kochen. Er. beschloß, den bibellesenden Fuchs für alles zur Rechenschaft zu ziehen.
Aber immer kam dann Hanna mit ihren blauen, verängstigten Augen und ihren krampfhaft gefalteten Händen dazwischen – »seien Sie dem Vater nicht böse, er hat so viel gelitten!«
Freilich, das verstand er ja und hatte es sogar gesehen. Aber der Schurke hatte noch nicht den zehnten Teil von dem gelitten, was er verdient hatte!
So vergingen die Tage, ohne daß Uutela einen entscheidenden Schritt tun konnte.
Sie mieden sich gleichsam und sahen sich nie in die Augen, weder am Eßtisch noch sonst. Und wenn sie sprachen, galt es nur der gerade vorliegenden Angelegenheit oder Arbeit und beschränkte sich auf die notwendigsten Worte. Es war aus zwischen ihnen.
Eins war Uutela klar – daß an Keskitalo und der ganzen Familie Rache genommen werden mußte, so erschreckend und furchtbar, wie ihr Handeln an ihm gewesen war.
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Für Keskitalo waren diese Zeiten ebenso schwer, wie für Uutela. – An die Stelle der früheren Unruhe war eine still nagende Sorge getreten.
Es quälte ihn, daß es noch nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen gekommen war. Denn er hatte aufrichtig eine volle Klarstellung gewünscht, nachdem er gesehen, wie gewaltig die Sache Uutela berührte. Damals war sie unterblieben,' weil er es für besser hielt, daß sich Uutela erst ein wenig beruhigte. Da es jedoch damals nicht geschehen war, war es immer geblieben.
»Vielleicht versteht er ohnedies, wie alles gekommen ist«, dachte er. »Und am Ende ist es auch besser für ihn, daß nicht davon gesprochen wird, weil er es selber nicht zu wünschen scheint.«
Aber es quälte ihn weiter.
»Wenn ich nur wüßte, worüber er eigentlich brütet«, jammerte er manchmal. »Wenn er nur einmal spräche – fluchte, wetterte oder gar dreinschlüge, das wäre immer noch besser!«
Er lebte lange Zeit in der Hoffnung, daß Uutela selbst losbrechen und dadurch eine Auseinandersetzung herbeigeführt werden möchte.
Doch Uutela schwieg still, und seine eigene Last war Tag für Tag dieselbe.
Daran knüpfte sich noch eine andere Sorge: wenn Manta nur vernünftig blieb! Bei dem Zustand, in dem sie sich befand, wußte man nicht: sie konnte wohl gar ins Wasser gehen. »Hier sind so viele zu überwachen!« seufzte er in seinen schwersten Stunden.
Zuletzt legte er, gleichsam abgestumpft, alles, in Gottes Hände – zumal da sich Uutela doch beruhigt zu haben schien.
»Vielleicht ist es am besten, man läßt es gehen, wie es von selbst geht«, dachte er.
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Uutelas Gedanken kehrten immer wieder zu der jungen Frau zurück.
Diese war ihm ein Rätsel. Offenbar war, daß sie auch selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand furchtbar leiden mußte.
Eines hätte Uutela vor allem anderen gern festgestellt. Ob ihr früheres Leben rein gewesen war. War sie erst jetzt gefallen, und welches war der äußerste Grund gewesen, daß sie eine so gräßliche Tat beging, wenn ihre Vergangenheit ehrbar war?
Aber wie hätte er das feststellen können, wenn er die Sache nicht zur Sprache brachte?
»Wenn sie wenigstens bereute und um Verzeihung bäte!«
In der ersten Zeit hoffte und erwartete Uutela dies jeden Tag. Und er glaubte mitunter sogar Anzeichen dafür zu bemerken – wie wenn die Frevlerin demütiger gewesen wäre, in ihren Blicken etwas um Verzeihung Bittendes gelegen hätte – nur das erste Wort fehlte.
Er versuchte, dieses Wort hervorzuzwingen – er hielt gleichsam mit den Blicken an, um es zu erwarten. Da dies aber nichts half, wollte er sie mit seinem Blick durchbohren: begreifst du nicht, was du getan hast?
Doch da erfuhr er eine Ueberraschung – die Demut war wie weggewischt, aus ihren Augen sprühte ihm Trotz und Haß entgegen.
»Was bedeutet dies?« fragte er sich verblüfft. »Das war nicht mehr der Blick einer Schuldigen.«
Und so begann er wieder nachzusinnen.
»Hat sie die Natur eines Mannes, eine solche, die einem anderen nicht erlaubt, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen? Und faßte sie diese Heirat also als Einmischung auf – und wollte es zeigen? Und zeigte es, da sie ein Weib war, auf diese sinnlose und entsetzliche Weise?«
So fragte er sich. Und da begannen sich ihm die Fäden immer mehr zu verwirren. Wußte einer von ihnen, was die anderen gedacht, getan und bezweckt hatten? Oder gingen sie alle wie im Nebel, jeder seine eigenen Wege, wenn auch durch das äußere Leben zusammengehalten? Alle litten, das sah er, und die Uebersiedlung begann sich ihm jetzt als eine ungeheure Verzweiflungstat darzustellen.
Das besänftigte gleichsam seine Erbitterung gegen die Keskitalos – dies, daß sie alle litten. Sie mußten miteinander reden, dachte er, da sie doch an ein gemeinschaftliches Unglück gebunden waren.
Aber wer sollte beginnen? Für ihn war es unmöglich, fühlte er – die anderen, die Schuldigen, mußten den Anfang machen.
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Es gab jedoch einen Menschen, mit dem er sprach.
Er mußte gestehen, daß, wenn Hanna nicht gewesen wäre und wenn sie diese Last nicht zusammen getragen hätten, er es nicht ausgehalten hätte.
Es beschämte ihn zuerst sehr, daß ihn der böse Geist damals so besessen hatte, daß er, der alte Mann, solch Grauenhaftes vor dem unschuldigen Mädchen geredet hatte.
Wie ihm aber Hanna beim ersten Mal, als sie sich danach trafen, ohne Falsch ins Gesicht blickte und gleichsam immerfort wiederholte: dulden Sie, dulden Sie, Gott wird helfen – da dachte er: vielleicht versteht sie es.
Und so entstand ein sicheres Verhältnis zwischen ihnen: Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Oder noch mehr: wie wenn das zarte Mädchen hätte sühnen wollen, was die anderen verbrochen hatten.
Wenn sie einander begegneten, sagten sie sich jedesmal im Vorbeigehen etwas – mit den Blicken. Aus ihren Blicken verstanden sie gegenseitig alles.
Am Morgen kamen sie gewöhnlich zum ersten Mal an der Zentrifuge zusammen – wenn Uutela die Maschine drehte und Hanna die Milch behandelte. Das war ihr stilles Plauderstündchen.
»Wie geht es denn heute?« fragte Hanna mit ihrem blauen Blick, die Milch in die Zentrifuge gießend.
»Besser«, nickte Uutela, sich über die Kurbel der Maschine reckend.
»Ja …?« erwiderte das Mädchen fröhlicher. Dann setzten sie die Unterhaltung während der ganzen Zeit des Zentrifugierens fort.
»Mit ihr könnte ich die Sache ins klare bringen«, dachte Uutela manchmal. »Sie weiß alles und versteht alles.«
Aber er hätte es um keinen Preis getan und das stille Vertrauen zerstört, das zwischen ihnen herrschte.
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Die Sache selbst jedoch blieb beim alten.
Uutela fühlte sich wie ein Knecht, der es unmöglich findet, weiter in seinem Dienst zu bleiben, aber doch nicht frech wird, sondern schweigsam und schwermütig sein Jahr bis zu Ende abarbeitet.
Bis zu Ende? Das war es ja, was ihn in Verzweiflung stürzen wollte. Wann nahm dies ein Ende? Und welches war das Ende? – Er vermochte es nie auszudenken.
Bisweilen überlegte er: wenn ich im guten wegginge, ohne ein Wort zu sagen – ihnen alles überließe und meinen eigenen Weg einschlüge? Dann wäre ich dies los und fände Frieden.
Doch ihn entsetzte auch dieser Gedanke, die Schmach, die er durch solches Handeln dem tavastländischen Namen überhaupt und ihnen allen zufügen würde – da die Angelegenheit ja doch gewissermaßen alle betraf.
So vergingen die Tage. Die Zeit bewegte sich vorwärts, obwohl das Leben zu stocken schien.