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VIII

Die Weihnachten kamen mit dichtem Schnee und milde.

Die Leute des Gutes verbrachten sie gewissermaßen in Tavastland.

Sie hielten im Anfang nicht einmal eine tavastländische Zeitung und hatten sie in den ersten Wochen auch nicht vermißt. Auf die Dauer jedoch kam ihnen das Gehöft ohne ein Blatt leer vor.

Es traf gerade zu Weihnachten in einem mehrwöchigen Packen ein. Und es riß sie mit unwiderstehlicher Kraft nach Tavastland. Alles war bekannt, vom Landeshauptmann an. Man las die Neuigkeiten und Anzeigen, die Todesfälle, Geburten, Güterverkäufe und Versteigerungen, ja die Mitteilung über den Verkauf einer zu Weihnachten kalbenden Kuh dort in der Heimat löste eine Regung aus. So saß man da, las und unterhielt sich mit zärtlicher, stiller Stimme.

Das waren glückliche Stunden.

Aber im Anschluß an diese heimatlichen Gedanken schlich sich in ihre Seele ein stilles: Warum? Warum waren sie hier, von ihren Wurzeln losgelöst?

Und da griff die geheimnisvolle Hand des Schicksals, die sie mit Gewalt eine Weile beiseite gedrückt hatten, wieder schwer wie Eisen in ihr Leben.

Das zerstörte ihnen die Weihnachtsfreude und von da an fast jeden Tag. Es schlich sich wie ein stilles Gift in ihr Blut. Sie sahen gegenseitig aus ihren Blicken, daß jeden von ihnen derselbe Gedanke bewegte. Aber sie vermochten nicht, miteinander davon zu sprechen, sondern lebten von einem Tag zum anderen, wie auf ein rettendes Wunder wartend.

Jeder war bemüht, seinen Kummer in der Arbeit zu ersticken.

Keskitalos Brust war immer schwächer geworden, aber er versuchte, sich und den anderen vorzuspiegeln, er sei noch kräftig. Er hatte seit seinen jungen Jahren nicht so mächtig geschafft wie jetzt – als ob er eine große Schuld abzutragen und gewußt hätte, daß seine Tage gezählt seien.

Noch leidenschaftlicher hieben die Burschen ein. Weinend und die Zähne zusammenbeißend, hatten sie sich damals in Tavastland unter ihr Schicksal gebeugt, jetzt versuchten sie mit der Wut der Verzweiflung, sich eine Brustwehr der Arbeit gegen den Schneesturm zu schaffen, der hereinbrechen mußte. Und mit der Kraft ihrer jungen Lebenslust gelang es ihnen auch in manchen Stunden, zu vergessen und wie Uutela zu denken, daß sie nur zeigen wollten, was ein Tavaste zustande brachte.

Ihre Schwester, die Ursache des Unglücks, haßten sie. Sie hatten beschlossen, ihr erbitterte, grobe Worte über alles zu sagen. Sie blieben in Tavastland ungesagt – und blieben es immer noch. Denn die Schwester war wie das geheimnisvolle Schicksal der Familie: freudlos und tränenlos, bleigrau und verschlossen. Ihre Gedanken konnte niemand auch nur aus ihren Blicken lesen und ihr auch nicht beleidigend begegnen.

Am schwersten lastete der gegenwärtige Zustand auf der zarten Hanna. In ihren Gedanken erschien ihr das eigene Unglück gleichsam gering neben dem Unrecht, das Uutela widerfahren Das Leben war wie ein Rätsel. Wie kam es, daß die Schwester, die Schuldige, nicht wenigstens liebevoller und demütiger gegen Uutela war? Uutela war so gut. Wenn sie ihm manchmal nachsah, wie er eifrig und lächelnd herumarbeitete, war sie nahe daran, in Tränen auszubrechen.

Auch Helka, die von dem Familiengeheimnis gar nichts wußte, war es, als sei das Leben kummervoller geworden. Sie stand mitunter lange Zeit neben ihrer Mutter, das Herz voll allerlei Fragen. Aber sie wagte sie nicht auszusprechen. Das lag wohl daran, weil sie sich so nach Tavastland sehnte, und die anderen sich nicht sehnten – schloß sie.

Unter ihnen allen ging die alte Frau umher wie ein milder Herbsttag, der doch wie eine Sonne durch die immer dichter werdende Wolkenwand zu lächeln versucht.

So verstrichen die Tage schwer und grau in gemeinsamem Schweigen, das niemand zu brechen wagte.

·

Mit der Zeit kam ein anderer Unruhe erweckender Faktor hinzu – die Umgebung. Es schien, als ob sich diese einmischen und dem Schweigen ein Ende machen wollte.

Ihrerseits gingen sie allen näheren Beziehungen zu den Savolaxern aus dem Weg. Die Umgebung war jedoch nicht so kalt. Sie betrachtete ihr Leben und Treiben von Tag zu Tag. Zu arbeiten verstehen diese Tavasten, das gaben sie zu, aber in allem anderen war etwas, worüber die savolaxische Fixigkeit ihre gewandten Witze machte.

Diese kamen mit der Zeit auch ihnen zu Ohren. Die Frauen der Kätner und Tagelöhner brachten sie leise flüsternd – wie sie den Stoff dazu zuerst selber aus dem Haus getragen hatten. Das begann sie zu beunruhigen, denn es schnitt in ihr tavastländisches Wesen und sagte auch für das Familiengeheimnis Schlimmes voraus.

Keskitalo versuchte zwar, die Segel geschwellt zu halten, aber es gelang ihm nicht recht; sowohl er als die anderen fühlten, daß er versuchte. Der einzige, der lächelnden Mundes auf seinem tavastländischen Boden feststand, war Uutela. Jeder fühlte, daß er wirklich in seinen eigenen Stiefeln einherging und nicht nur versuchte.

Gleich nach Weihnachten geschah etwas, das sie sehr empfindlich berührte, denn es traf einen wunden Punkt.

Sie hatten doch so weit die Hütten ihrer Kätner und Tagelöhner besucht, daß sie bemerkt hatten, wie die Sauberkeit in dieser Gegend von Savolax von ganz besonderer Art war. Jetzt ging im Dorfe der Witz um, die Ankömmlinge stammten aus einem Lande, wo Dielen und Fenster zweimal im Jahre, zu Weihnachten und zu Johannis, gewaschen würden. Da aber die früheren Besitzer des Gutshofs gerade vor ihrem Auszug gewaschen hätten, hätten es die neuen Bewohner so glücklich getroffen, daß sie ganz um die zweite Halbjahres wasche herumgekommen wären!

Das ärgerte sie, namentlich die Frauen. Uutela allein lachte.

»Ja gewiß, man sieht ja, daß ihr die Dielen und die Fensterpfosten wascht, ja, das sieht man an den Aeckern«, lächelte er einmal der savolaxischen Gutsmagd Riitta und einer zufällig anwesenden Tagelöhnersfrau zu. »Und dann habt ihr auch soviel mit dem Waschen der russischen Mehlsäcke zu tun! Dort bei uns werden die Aecker gewaschen, und Kornsäcke hat man bei uns unterm Hintern, wenn man in die Stadt fährt, und nicht, wenn man aus der Stadt kommt, wie hier!«

»So zahlt der Tavaste heim!« freuten sich die anderen. Uutela war gleichsam ihr Schutz. Aber wie lange? Dieser Gedanke ließ sie auch in solchen Augenblicken innerlich erbeben.

Zu einer noch ärgerlicheren Geschichte gab Uutela selbst den Anlaß. Im Dorfe machte der Witz die Runde, die Tavasten seien so gründliche Leute, daß sie sogar die Kartoffeln mit der Schale äßen.

Das erbitterte sie lange Zeit, aber niemand wagte, sich gegen Uutela darüber zu äußern.

Schließlich konnte sich die junge Frau, als sie einmal am Frühstückstisch saßen, nicht mehr halten, sondern sagte scheu, in bebendem Tone:

»Du könntest doch auch die Kartoffeln schälen, Uutela – sie spotten nämlich im ganzen Dorfe, wir äßen Kartoffelschalen«.

Uutela hielt im Kauen inne und sah groß auf.

»So, verspotten sie die Tavasten wegen der Kartoffeln?« sagte er – aus dem Tonfall war herauszuhören, daß es diesmal auch ihn berührte: »Nun«, fuhr er fort, »ich habe sie mein lebelang ungeschält gegessen, aber wegen der Sünde habe ich noch keine langen Papiere zu unterschreiben gebraucht.«

Die Worte trafen – jeder begriff, daß sie die Neigung der Savolaxer zu Wechselgeschäften trafen.

Keskitalo zwinkerte beistimmend, auch die anderen fühlten eine Erleichterung.

»Und ich glaube«, setzte Uutela mit stillem Lächeln hinzu, indem er absichtlich auffallend eine ganze ungeschälte Kartoffel in den Mund steckte, »ich glaube: wenn wir hier nur erst bis zur Heuzeit kommen, dann möchten diesen savolaxischen Herrschaften die Schalen auch ohne Inhalt gut genug sein – wenn dann nur die da sind.«

Die anderen lächelten, in Riittas Augen aber blitzte es auf. Sie hob den Kopf und gedachte für alle Savolaxer zu antworten. Doch erinnerte sie sich zugleich, daß sie ein Dienstbote war, und hielt es für klüger, diesmal zu schweigen.

·

Derartige kleine Szenen führten immer einige Tage vorwärts. Uutelas inneres Gleichgewicht, seine ruhige Schlagfertigkeit und sein jugendlicher Arbeitseifer hielten gewissermaßen auch sie in diesem seltsamen Flüchtlingsdasein aufrecht, das wie an der Grenze von Traum und Wirklichkeit hinundherschwankte.

»Ein wunderbarer Mensch!« dachten sie und empfanden nebeneinander Hochachtung und Furcht vor ihm. Bisher war Manta ihr unheimliches Schicksal gewesen, jetzt erhob sich Uutela neben sie. Auf diese beiden konzentrierte sich alles, die anderen waren nur Augenzeugen dessen, was schließlich kommen sollte.

Uutela selbst hatte die kleinen Keime eines Verdachts, die beim Auszug aus Tavastland in ihm hatten emporsprießen wollen, ganz vergessen. Er hatte von Tag zu Tag immer mehr die Ueberzeugung gewonnen, daß sie mit dem Gut einen schönen Kauf getan hatten. Und wenn er auch schlecht gewesen wäre, hätte er ihn nicht bereut, denn er hatte ihn in ein neues, reiches, verjüngendes Leben geführt, das sein Denken im Wachen und im Schlafe beschäftigte.

Der Gutshof und seine Zukunft waren für ihn jetzt alles. Er erinnerte sich kaum, daß er verheiratet war, und gegen Manta hatte er keinen Grund zur Klage – alles ging still und glatt.

Ein einziges Mal hatte jener alte Argwohn das Haupt erhoben.

Er war zufällig in die Küche gekommen, wo Riitta und eine Savolaxerin zu zweien herumarbeiteten, und hatte da das Bruchstück eines Satzes gehört: gerade, als hätten diese Tavastländer etwas – –

»Also haben auch die Fremden etwas gemerkt?« blitzte es in ihm auf. Und er begann wieder in seinen Gedanken nach dem alten Verdacht und im Anschluß daran nach allerhand weiteren, während der Wochen gemachten Beobachtungen zu wühlen.

Etwas Geheimnisvolles schien auch darin zu stecken, wenn man sie sich so als zusammenhängende Kette dachte. Das bestimmte ihn, sie gewissermaßen insgeheim im Auge zu behalten.

Und nicht ohne Ergebnis! Wich ihm nicht Keskitalo mit den Augen aus? Und die Burschen – die hatten ebenfalls etwas, ganz gewiß!

Am folgenden Tage jedoch bemerkte er wieder nichts.

Es begann ihn zu beschämen, daß er, ein alter Mann, so gegen seine eigenen Leute und Verwandten Verdacht geschöpft hatte, obwohl man sich für eine gemeinschaftliche Sache anstrengte. Jeder lebte natürlich nach seiner eigenen Art. Und daß das Leben in fremdartigen Verhältnissen für sie, die immer auf derselben Scholle gesessen hatten, weniger bequem war als für ihn – das mußte er doch begreifen.

So verzog sich diese flüchtige Wolkenflocke. Ihm war wieder leicht und frisch wie die dem Sommer entgegengehenden Tage des Spätwinters, die man eben lebte.


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