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Aber auch, der Weg war voller Steine und Baumstümpfe, das sollte Uutela bald erfahren.
Was ihn selbst anbetraf, war er allerdings ruhig, und sein Verhältnis zu den Keskitalos war klar. Ebenso war es ihm ganz gleichgültig, was Riitta und die Tagelöhnerfrauen tuscheln mochten.
Da er jedoch mitunter diesem oder jenem Dorfbewohner begegnete, begann seine Gelassenheit unhaltbar ins Schwanken zu geraten. Er las aus den Blicken heraus, daß die Sache in ihrer ganzen Nacktheit im Dorfe bekannt war. Er sah im Augenblinken der anderen ein ironisches Lächeln: daß der Mann in dem Alter noch ein Kind bekam! Das ließ ihn aufschäumen. Und als er im Blicke anderer etwas wie Mitleid zu gewahren meinte, schäumte es noch mehr in ihm auf.
Uutela erkannte jetzt zu seinem Kummer, daß sein neuer Glaube nicht so leicht war, wie er einfach war. Er mußte wie mit beiden Händen an dem gefundenen Boden festhalten, um nicht in die frühere Hilflosigkeit zu gleiten.
Je näher aber die Zeit der Entbindung kam, desto schwieriger wurde seine Lage. Es trat eine ganz neue Seite hervor – was sich bisher nur in den Gedanken bewegt hatte, das sollte sich alles in eine sichtbare, körperliche Gestalt kleiden. Es drohte vor ihn hinzutreten und zu einer ganz neuen Prüfung herauszufordern.
»Wo soll ich hingehen, wenn es geschieht?« fragte er sich in seiner Angst. »Hier kann ich in der Stunde nicht sein, um keinen Preis!«
Dieser Gedanke quälte ihn lange Zeit, so sehr er auch versuchte, sich zu beruhigen und sich zu überzeugen, daß es ihn gar nichts anging.
Da befreite ihn Keskitalo eines Tages von diesem Alp,
Uutela sah sofort, daß der andere etwas im Sinn hatte, daß es ihm aber schwer wurde, es zu sagen.
»Sollte er jetzt davon …?« dachte Uutela, sich unruhig bewegt fühlend.
»Wir haben gedacht … vielleicht könnte Manta in die Stadt … in die Entbindungsanstalt gehen … brachte Keskitalo schließlich heraus.
Uutela fühlte, wie ihm die Schläfen zu brennen begannen.
»Was geht das mich an, sorgt selbst dafür!« drängte es ihn zu rufen, so daß es zugleich eine Antwort auf alles war.
Doch er wurde über die glückliche Wendung so froh, daß er wie ein Beteiligter erwiderte:
»Ja …? Das ist gewiß das allerbeste.«
Er fühlte, daß er wieder auf den Füßen stand. Keskitalo erledigte die Sache, wie es ihm zukam.
·
Es war ein lenzfrischer Morgen im Mai, als die junge Frau nach der Bahnstation gefahren wurde.
Keskitalo kutschierte, und die alte Frau begleitete sie in die Stadt.
Die anderen schienen mit der Reise zu tun zu haben, Uutela aber arbeitete auf dem Acker wie gewöhnlich.
Er eggte die letzten Hafersaaten auf der Böschung des zum See hinabführenden Hofackers. Die Pferde zogen flink das leichtbewegliche Gerät, die lockere Erde sott und brodelte zwischen seinen Zinken. Das Sieden tat den Augen des Arbeitenden wohl, und aus dem Boden stieg der angenehme Duft der frischen Frühlingserde.
Uutela hielt die Pferde oben auf der Böschung an, gerade dort, wo sie sich nach dem See hinabsenkte. Er konnte der Lockung nicht widerstehen, denn auch ihn selbst hatte der Frühling umstrickt.
Wie wenn die Böschung vor Freude gezittert hätte, während die Sonne auf ihrem grauen Scheitel spielte! Der Blick streifte nach unten, auf den silberhellen Spiegel des Sees. Der länglichschmale See war wirklich schön, wie man ihn jetzt so offen daliegen sah! Das Auge schweifte immer weiter, nach dem zu einer Anhöhe emporsteigenden Hang des gegenüberliegenden Ufers, wo die Birken mit ihren zartgrünen Laubknospen hervorlugten – dahinter, weiter oben, der ernste dunkelgrüne Nadelwald.
»Es ist eine schöne Gegend«, gestand Uutela. »Ich habe drüben in Tavastland nichts dergleichen gesehen.«
Dann sprang der Blick quer über das linke Ende des Sees wieder herüber und richtete sich auf die nördliche Lichtung des weiten Hofackers. Er liebkoste zuerst das Gut mit den grünenden Birken, dann den Hügel mit der Korndarre und den weißen neuen Balkenwänden, darauf den Acker, schließlich das an seinem Rande stehende Erlenwäldchen, dessen lang herabhängende gelbliche Kätzchen bis hierher leuchteten.
»Es ist doch ein hübsches Gut!« entfuhr es Uutela. »Hier lohnt es sich schon – –«
Damit zerschellte es jedoch, wie von einer unsichtbaren Hand berührt. Uutela fühlte, wie es ihm vor den Augen dunkelte, und ihm wurde unsagbar schwer zu Mute.
Zugleich hörte er das Knarren von Wagenrädern und wandte sich, ohne etwas Besonderes zu denken, danach um.
Dort fuhren Keskitalo, die alte Frau und Manta langsam, im Fußgängerschritt, zur Bahn.
Uutela kehrte sich plötzlich ab – er konnte den Anblick nicht ertragen. Er riß heftig an den Zügeln und zwang die Pferde fast zum Laufen.
Er fuhr hinab, dann hinauf – hinab und wieder hinauf – ging auf das nächste Beet über – hinab, hinauf – die Pferde immer antreibend, so daß sie zu dampfen und zu schnauben begannen. Wie wenn alles davon abgehangen hätte, daß er in die feuchte, empfängliche Erde das grenzenlose Weh mischte, das ihn so unerwartet ergriffen hatte.
Aber dann mußte er anhalten – er hätte keinen Schritt mehr weiterfahren können. Er zitterte beinahe bei dem Gedanken, der ihm jetzt durch den Sinn flog:
»Wieviele Sorgen sind wohl in diesen Aeckern Finnlands begraben …?«
Er hatte früher mitunter gefühlt, daß der Boden gleichsam etwas Heiliges, mit großer Mühe und vielem Schweiß Erkauftes war. Jetzt aber wurde ihm etwas ganz Neues klar. Die Arbeit war nur das eine. Wieviele Männer mochten wohl auch in diesem Acker ihre großen, schweigenden Sorgen begraben haben – wie er sie jetzt begrub – wie es Keskitalo – wie es seine Söhne taten. Niemand dachte daran. Das Getreide wogte, die Menschen schritten sorglos über die Beete, verkauften und tauschten sie wie Marktgäule, obwohl der Boden von den vielen Schmerzen der Vorväter zitterte, wenn er jetzt für die Kinder Brotkorn hervorbrachte.
Er stand lange in tiefe, feierliche Gedanken versunken Und als er schließlich weiterging, hielt er die Pferde, zurück und schritt fast auf den Zehen über die jahrhundertealte, von Mühen feuchte, durch Schmerzen geheiligte Erde.
·
Nach einer Woche kam ein Brief – die Nachricht, daß die junge Frau einen Knaben geboren hatte.
Wunderbar! Er wußte ja, daß eine solche Nachricht kommen musste, doch als sie jetzt eintraf, war sie dennoch wie eine Ueberraschung für ihn.
Er konnte sich nicht richtig erklären, wie er zu der Vorstellung gelangt war, als ob Manta bei dieser Gelegenheit ganz aus dem Haus verschwinden werde, mit der Sünde und der Frucht der Sünde. Er hatte es nicht gedacht, er hatte es nur gefühlt – und auch nicht, ob Mutter und Kind sterben würden oder wie das Verschwinden vor sich gehen werde – sie würden nur ausgelöscht werden und weg sein.
Doch jetzt lebte Manta, lebte der Knabe – das Verbrechen lebte vervielfältigt. Und es lebte nicht nur für Keskitalos Leute, sondern auch für ihn – den »Vater«.
Es bemächtigte sich Uutelas eine solche Aufregung, daß er nicht zuhause zu bleiben vermochte, sondern das Beil unter den Arm nahm und in den Wald ging. »Ich werde die Gatter ausbessern«, dachte er.
Er bewegte sich mit schweren, schleppenden Schritten vorwärts, ohne die Augen vom Weg zu erheben.
»Dahin ist es also gekommen?« dachte er. »Ist sie wieder da, die Qual?«
Er ging den Zaunweg, dann die Landstraße mitten durch die Aecker, dann durch bewaldetes Gelände und vergaß die Gatter ganz.
Nachdem er einen langen, flachen Abhang hinangestiegen war, fühlte er sich vollständig ermüdet und setzte sich neben den Weg an den Grabenrand.
»Es ist nun ein Jahr her«, dachte er, und mit Gewalt schössen ihm die Tränen in die Augen. »In einem Jahr kann man viel erleben, ein ganzes Leben.« Er fühlte, daß sich sein Leben schließlich auf ein Jahr beschränkte.
»Ebenso mag es mit den Keskitalos sein. Auch die haben in diesem Jahre viel durchgemacht. So ist das Menschenleben!«
Er hörte das Geräusch von Schritten auf dem Wege. – Dort kam Rimpiläinen, rotbäckig und gutgelaunt, lebhaft seinen weißen Stock schwingend.
In Uutelas Brust begann es zu kochen.
»Weiß der es auch schon …?« kam es über ihn.
Rimpiläinen näherte sich.
»Der hat etwas Böses im Sinn«, schloß Uutela, »da er den Mund so zusammenzieht!«
Rimpiläinen grüßte und sprach:
»Na, das is ein scheener Frihling – da kann der Landmann zufrieden sein!«
»Jawohl – jawohl.«
»Und Sie sollen ja noch andern Anlaß zur Fraide haben – ich winsche Ihnen viel Glick dazu!«
Er entsann sich jedoch, daß er ein Tavaste war, und hielt an sich.
»Jawohl … Man braucht auch Arbeitskräfte – hier gibt es viel zu tun …«, versuchte er zu antworten, so gut er konnte.
»Nu freilich, und umso angenähmer, wo's noch in den Jahren passiert. – Wie alt sinn Sie denn schonst?«
Uutela mußte fast lachen:
»Ich? – erst in den mittleren Jahren – noch nicht mal volle siebzig!«
»Da gedenken Sie noch wohl lange zu läben«, lachte Rimpiläinen. Er machte eine kleine Pause. – »Sie haben wohl friher keine Kinder gehabt – weil man keine sieht?«
Uutelas Blut begann wieder aufzuwallen, aber er beherrschte sich.
»O, eine ganze Menge!« erwiderte er, Rimpiläinen gerade in die Augen sehend. »Wenn sie noch am Leben wären, hätte es hier keine Not.« Ihn schauderte – doch man durfte einen Savolaxer nicht über einen Tavasten lachen lassen. »Damals in dem Hungerjahr – das Nervenfieber – das hat viele Familien kleingemacht. – Es ist wohl hier nicht so schlimm gewesen?«
»Ne, ne«, erwiderte Rimpiläinen, lachte auf und zwinkerte mit den Augen: das hatte ein Savolaxer immer gern, wenn einer nicht um Worte verlegen war! Er lüftete den Hut und ging wohlgelaunt weiter.
Uutela aber versank in noch schwerere Gedanken.