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IX

Keskitalo schlief in einer Nacht unruhig in seinem Bette und hatte einen Traum.

Ihm war, als sitze er in der guten Stube vor dem Spiegel und stutze sich mit der Schere den Bart zurecht.

Da bemerkte er mit Schaudern, daß sein Bart und sein Haupthaar schon ganz grau waren. Und noch mehr: sein Gesicht war so mager, daß es nur noch aus Haut und Knochen bestand.

Er erschrak und fühlte sich in demselben Augenblick so schwach, daß die Schere in seiner Hand zitterte.

Er hatte nicht gewahrt, daß Helka hereingekommen war.

»Ich weiß, weshalb du so abgemagert bist, Vater …«, flüsterte das Mädchen geheimnisvoll, dicht an seinem Ohr.

Er wandte sich zusammenfahrend um.

»Fasle nicht!« rief er aufgebracht. »Du weißt nichts!«

Das Mädchen war unterdessen an die Tür gelaufen und rief von dort, boshaft lachend:

»Doch, ich weiß, gewiß, das weiß ich schon!« Dann lief sie davon.

»Jetzt kommt es heraus, jetzt kommt es heraus, wo es auch das Mädchen schon weiß!« hastete Keskitalo. Er fühlte, wie er am ganzen Körper schwitzte.

»Wenn der Mensch anfängt zu schwitzen, siehts mit der Brust schlimm aus!« fuhr es ihm durch den Sinn wie ein Todesurteil. Er fühlte, wie er vor Kälte bebte.

Doch zugleich bemerkte er, daß auf dem Hof die Sommersonne schien.

»Ich werde mich draußen etwas wärmen und darüber nachdenken, was zu tun ist«, überlegte er.

Er war so schwach, daß er nur mit Mühe auf den Hof gelangte. Dort warf er sich rücklings auf den weichen Rasen.

Aber er vermochte nichts auszudenken, denn er bemerkte im selben Augenblick, daß seine Söhne beim Pferdestall standen. Vihtori sah gräßlich im Gesicht aus und peitschte mit dem Brustriemen wie wild auf Liina ein.

»Bist du denn toll geworden?« rief Hanna, barköpfig zu den Burschen laufend.

»Weshalb sagt der Vater nicht, wo er das gestohlene Geld versteckt hat, damit mans zurückbringen und sich mit den Leuten auseinandersetzen kann!« rief Vihtori.

»Schrei nicht so laut!« bat Hanna.

»Ich schreie, jetzt soll es die ganze Welt hören!«

»Das ist recht!« rief auch Kalle, mit den Zähnen knirschend und die Arbeitsgeräte über den Hof werfend.

Keskitalo fühlte, wie ihm der Angstschweiß am Körper herunterrann. Im selben Augenblick sah er bei dem Speicher eine Schar alter Bekannter aus Tavastland laufend in den Hof kommen.

»Dort ist der savolaxische Ausreißer!« rief einer, auf Keskitalo zeigend.

Keskitalo wollte davonlaufen, fühlte sich aber so schwach, daß er sich nicht einmal aufsetzen konnte.

Die Schar befand sich jetzt dicht vor ihm.

»Du bist doch ein arger Schelm, Keskitalo«, sagte der ganz vorn stehende Mann verächtlich, »Gib das Geld heraus!«

Keskitalo schämte sich so, daß er nichts zu sagen vermochte.

»Weiß die Frau nicht, wo es ist?« fragte der Mann wieder. – »Ein Mann redet doch mit seiner Frau?«

»Nein, ich weiß nicht«, versicherte die Frau mit Tränen in den Augen. »Ich habe von Woche zu Woche gewartet, aber er spricht auch mit mir nicht davon.«

»Ich weiß es!« rief Manta auf der Treppe des Speichers, den Speicherschlüssel drohend in der Hand schwingend.

Keskitalo kam die Angst: »Will die Verrückte denn verraten, daß es im Kornkasten ist?«

»Ich weiß es, denn wir haben es zusammen gestohlen!« rief die Tochter immer lauter. »Aber mag er es selbst sagen.«

»Es ist nicht wahr!« wollte Keskitalo schreien. »Manta hat es gestohlen, und ich habs nur versteckt, damit das Gehöft nicht in Schande käme.« Aber er brachte keinen Laut hervor, so sehr er auch versuchte.

Da gewahrte er Uutela vor sich. Ihm schwindelte – das Geld gehörte ja Uutela, die anderen halfen ihm nur.

»Ich habe doch die ganze Zeit gewußt, daß du etwas hattest«, erklärte Uutela leise. »Sags jetzt, armer Kerl, sags endlich – vielleicht können wir uns verständigen.«

Keskitalo hätte jetzt mit Uutela unter vier Augen sprechen wollen, aber er brachte wieder keinen Laut über die Lippen.

»So ein Schuft!« riefen die Tavasten aufgebracht. Und die Savolaxer, die sich nun, den Hof zur Hälfte füllend, angesammelt hatten, Rimpiläinen an der Spitze, lachten so spöttisch, daß er die Augen schließen mußte.

»Langsam voran, Männer«, rief Uutela. »Kommt mal etwas hierher!«

Keskitalo sah jetzt an Uutelas mehlbestäubter Mütze, daß er in Wirklichkeit ein Müller war und daß seine Windmühle unmittelbar neben dem Pferdestall stand. Alle gingen hinter Uutela zu der Mühle.

»Blast fest in die Flügel, damit sie sich besser drehen!« forderte Uutela sie auf.

Alle bliesen aus Leibeskräften, die Tavasten und die Savolaxer, ja auch die Magd Riitta und die Frauen seiner eigenen Tagelöhner unter ihnen. Die Flügel schnurrten von Sekunden zu Sekunde immer wilder herum.

Da flog der Oberstein der Mühle sausend durch die Wand und kam durch die Luft auf Keskitalo zu, indem er sich immerfort wild drehte.

»Willst dus endlich sagen?« fragte Uutela, unter dem Stein hergehend.

Der Stein näherte und näherte sich, jetzt war er gerade über Keskitalo und drehte sich, dass die Funken sprühten.

»Willst dus endlich sagen?« fragte Uutela wieder, mit der Hand deutend, wobei sich der Stein bis an Keskitalos Brust herabsenkte.

Der Schweiß lief in Strömen an Keskitalo nieder, während er dem entsetzlichen Drehen zusah. »Ja, ja!« rief er mit aller Kraft.

Aber es war wohl nicht zu hören gewesen, denn Uutela sagte voll Aerger: »Sags nur ja!« und deutete mit der Hand – der Stein senkte sich mit einem Krach auf seine Brust.

»Ja, ja!« brüllte Keskitalo mit letzter Kraft.

»Kustaa, Kustaa – drückt dich denn wieder der Alp?« rief die Frau geängstigt, indem sie sich im Bett aufsetzte.

Keskitalo schnürte es so die Brust zu, daß er kaum Atem holen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er darüber ins klare kam, daß er nur träumte.

»Laß mich ein wenig ausruhen, dann wollen wir reden«, sagte er, den Kopf müde an die Schulter seiner Frau lehnend.

Sie erwiderte nichts, sondern legte nur ihre Hand auf seine naßkalte Stirn, wonach ihm allmählich wohler wurde.

»Gerade wie im Traum«, dachte Keskitalo. »Schwach und grau bin ich geworden und schwitze in der Nacht. Alle erwarten, daß ich es endlich tue.«

Jetzt begriff er, woraus sein furchtbarer Traum entsprungen war: er hatte gesehen, wie seine Söhne am Abend Hanna heimlich etwas eröffnet hatten. Er konnte erraten, was es gewesen war – bald würden sie es auch ihm selbst eröffnen.

Merkwürdig! Damals in Tavastland war es ihm im Vergleich zu den vielen Schwierigkeiten des Uebersiedelungsplans als eine Kleinigkeit erschienen, sich Uutela mitzuteilen. Jetzt aber, da die Zeit gekommen war, erkannte er, daß darin schließlich alles beruhte. Und so hatte er die letzten Wochen in einer ständigen Bedrängnis gelebt, die noch dadurch erhöht wurde, daß er nicht einmal mit seiner Frau sprechen konnte, weil er sie schonen und diese furchtbare Last allein tragen wollte. Außerdem hatte er bis zu allerletzt auf einen wunderbaren Zufall der Vorsehung gewartet, auf einen Unfall oder etwas anderes, das sie mit einem Schlag retten würde.

Jetzt sah er ein, daß es so nicht weitergehen konnte. Sie mußten sprechen und dann tun, was zu tun war.

Die Frau war erfreut, daß Keskitalo endlich die Sache zur Sprache brachte.

Aber sie waren beide gleich ratlos. Klar war nur, daß der Qual ein Ende gemacht werden mußte.

»Soviel ich verstehe, müssen wir Uutela alles sagen, wie es ist«, seufzte die Frau. »Man muß sich auf seine Güte und auf die göttliche Gnade verlassen, hier helfen die eigenen Kräfte doch nichts. Und ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn man es ihm schon damals in Tavastland ohne Hinterhalt mitgeteilt hätte.«

Das konnte Keskitalo sogar in seiner gegenwärtigen Bedrängnis nicht einräumen; etwas war durch diese Uebersiedlung gewonnen worden. Und er konnte immer noch nicht auf die Hoffnung verzichten, daß sich doch alles gut auflösen werde, wenn man nur nichts übereilte. Es war da allerdings ein erschreckend dunkler Punkt, den er erst in letzter Zeit angefangen hatte genauer in Betracht zu ziehen. Ein Argwohn erwachte natürlich auf alle Fälle in Uutela. Aber war er wohl ganz sicher, daß das Kind nicht das seine sein konnte?

Weiter kamen sie in dieser Nacht nicht, obgleich sie stundenlang wachten.

·

Der Damm war jedoch gebrochen, sie beratschlagten nun in der Stille jeden Tag.

Oder richtiger: sie quälten einander. Denn Erleichterung brachten diese Beratungen nicht, im Gegenteil versenkten sie sie in immer tiefere Hoffnungslosigkeit. Wenn Uutela nur argwöhnte, konnte sich alles nach und nach ausgleichen, aber wenn er ganz sicher war – was dann?

Keskitalo begann in seiner Bedrängnis seine Zuflucht wieder immer mehr zur Bibel zu nehmen. Sie tröstete und stärkte ihn doch stets, weil auch darin von Leiden und schweren Tagen erzählt wurde. Namentlich die Schande Davids während seiner letzten Lebensjahre und seine grausamen Leiden um seiner Kinder willen gemahnten so wunderbar an sein eigenes Schicksal.

Sein Leseeifer entging Uutela nicht.

»Du hast dich ja sehr fleißig auf das Lesen geworfen«, sagte er einmal gutherzig.

Keskitalo erschrak und blickte Uutela forschend an, bemerkte aber nichts Verdächtiges.

»Ich habe immer gern gelesen«, sagte er müde. »Und wenn man krank ist und an einem fremden Ort lebt, fühlt man deutlicher, dass man hienieden wirklich ein Wandersmann ist.«

»Das ist ja wohl so – und jenachdem einer veranlagt ist«, entgegnete Uutela. »Ich gebe nicht viel auf das Lesen, weil ich nicht daran gewöhnt bin. Und wenn man sich bemüht, immer allen Menschen recht zu tun, dann mag man wohl auch an einen guten Ort gelangen – das ist doch gewiß.«

Keskitalo blickte wieder forschend auf, doch sah er an Uutela nichts als das unerschütterliche Vertrauen darein, was er sagte. Er seufzte tief. Aber zugleich blitzte es in ihm auf, daß jetzt eine günstige Gelegenheit sei, Uutela darauf vorzubereiten, was eintreten mußte.

»Ja, dahin hoffen wir ja alle zu kommen«, sagte er. »Aber der Weg ist schmal und die Pforte ist eng – ich meine, wir müssen durch viele Leiden und Prüfungen hindurchgehen, ehe wir tauglich sind.«

Uutela hörte andächtig zu, denn das war seiner Meinung nach schön gesagt. In seinem eigenen Glauben aber war er unerschütterlich.

»Ja, ja, es ist ja natürlich alles zum Besten«, schloß er aufstehend. »Aber am stärksten verlasse ich mich dennoch darauf, daß es doch wohl gut auslaufen muß, wenn man nie unrecht tut.«

Keskitalo blickte ihm lange nach.

Das Gespräch mag zu nichts geführt haben, dachte er – ja, er fühlte geradezu einen Stich in der Brust, wenn er sich überlegte, was der andere gesagt hatte.

Von dem Augenblick an wurde sein Verhältnis zu Uutela noch quälender. Er begann fast Gewissenbisse zu spüren, wenn er sah, in welchem guten Glauben sich jener mühte. Und weshalb sollte sich Uutela nicht mühen? Er hatte doch – niemandem unrecht getan. Keskitalo peinigte es geradezu, daß Uutela ein solcher Mustermensch war. Wäre er faul, boshaft oder sonst mit Fehlern behaftet gewesen, denn wäre ihm viel leichter gewesen – er hätte dann sein Schicksal gleichsam verdient gehabt.

So verging ein Tag nach dem andern, ohne daß sich Keskitalo je entschließen konnte: heute soll es geschehen!

·

Da ereignete sich ein ganz unbedeutender Zwischenfall, der alle Ueberlegungen abschnitt.

Sie saßen zusammen am Mittagstisch und aßen einen aus der Milch einer eben niedergekommenen Kuh gebackenen Biestkuchen. Das war für sie etwas besonders Tavastländisches, weil es außergewöhnlich war – deswegen herrschte am Tisch während der ganzen Mahlzeit eine warme, gemütliche Stimmung.

Sie wollten eben aufhören, als Uutela im Anschluß an ein Gespräch, gleichsam um Riitta aufzuziehen, lachte:

»Man scheint ja auch hier in Savolax gut mit diesem tavastländischen Essen auszukommen. Die Jungens leuchten rosig wie eine Kirchenwand« – er blinzelte schmunzelnd nach Manta – »und auch die junge Frau ist immer runder geworden.«

Der Ausspruch schlug so ein, daß sich die Zuhörer in demselben Augenblick wie versteinert fühlten. Keskitalo glaubte ersticken zu müssen, die anderen sahen sich verblüfft an, in Riittas Augen leuchtete es geheimnisvoll auf, und die junge Frau war blutrot übergossen.

»Was wirst du denn da rot?«, schmunzelte er immer zufriedener. »Eine stattliche Hausfrau ist doch wohl eine Ehre für das Gehöft.« Er blickte lachend nach Riitta. »Auch für eine Savolaxerin – oder wie?«

»Ja, ja«, machte Riitta kurz, und ihre Augen blitzten wieder. Uutela faßte das Blitzen in seiner Weise auf und zwinkerte zurück – die anderen entsetzte es.

Keskitalo hatte unterdessen einen Hustenanfall bekommen und stand vom Tische auf. Zugleich erhoben sich auch die anderen und gingen eilig ihrer Wege. Keskitalo aber legte sich auf die Bank und hustete, während seine Frau mit Tränen in den Augen neben ihm stand und ihm leise auf die Schultern klopfte.

Uutela erhob sich zuletzt, immer noch still lächelnd. Er blieb vor dem keuchenden Keskitalo stehen:

»Dein Husten ist aber schlimm geworden, du solltest doch wiedermal den Doktor aufsuchen«, sagte er teilnahmsvoll.

Dann schritt er langsam über den Hof nach dem Gesindehaus.

·

Die Hand des Schicksals hatte also ihr Urteil geschrieben. Jeder fühlte seine zerschmetternde Allmacht.

Keskitalo war wie gelähmt. Er zog sich mit der alten Frau in die Kammer zurück und war am Nachmittag nicht mehr zu einer Arbeit fähig.

Ueber die Sache selbst hatten sie nicht viel zu reden, es handelte sich nur um den Augenblick. Und den schob Keskitalo für morgen auf, denn heute hätte er nicht damit vor Uutela hintreten können.

Er las in der Bibel, während seine Frau neben ihm saß und zuhörte. Sie wechselten kaum ein Wort miteinander, fühlten aber, wie sie sich enger aneinander schlossen und sich am besten so stützten und schützten – zwischen sich das vollkommene gegenseitige Verstehen, das keiner Worte mehr bedarf.

Als die Frau während des Abendessens drüben in der Küche war, ergriffen Keskitalo, alleingeblieben, wieder die finsteren Gedanken. Es schlug ihn noch einmal die Frage in ihren Bann, ob es eine sehr große Sünde sei, einen Menschenkeim zu vernichten, der selbst nicht dadurch leiden würde, und ein halbes Dutzend in Qualen sich windende Menschen zu netten – vielleicht Ereignisse zu verhindern, deren Art keiner in diesem Augenblick voraussehen konnte.

Er überlegte es diesmal kalt, denn die Qual hatte ihn erstarren gemacht. Doch als seine Frau kam und sie wieder zu zweien dasaßen, wichen diese Gedanken weit von ihm – sie waren der Stimmung fremd, die sie jetzt umgab.

Nach dem Abendessen kam Vihtori in die Kammer. Er sagte gleich, als er durch die Tür hereintrat – wie wenn er gefürchtet hätte, es werde sonst ungesagt bleiben – in einem tränengemischten Aufwallen, jetzt müsse Klarheit geschaffen werden, – sie könnten es nicht mehr aushalten. Und er wandte sich auf der Stelle um und ging.

»Morgen«, erklärte sein Vater kurz. »Aber laßt mich selber den Augenblick wählen.«

Dann lasen sie wieder.

»Morgen um diese Zeit ist alles klar – wie es dann auch sein mag«, sagte Keskitalo schwer, als sie sich zur Ruhe niederlegten.

In der Nacht schlief er nicht.

Er dachte über die Handlungen des Menschen und ihre Folgen nach. Erst jetzt begriff er, daß das Furchtbarste, was einen Menschen treffen kann, das Hüten eines verbrecherischen Geheimnisses ist. Denn er vermochte doch nicht vor ihm zu entfliehen, sondern es folgte ihm auf Schritt und Tritt.


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