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Den 23. Februar 1768
»Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, daß es ein Wunder sein würde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen wären. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt es auf eine Verschwörung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Maßregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit nächstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer förmlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut geführt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen geht.«
»Es ist wahr, Madame«, antwortete Selim, »unsere Stücke sind ein wenig überladen; aber das ist ein notwendiges Übel; ohne Hilfe der Episoden würden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen.«
»Das ist. um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muß man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas Lächerlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es wäre denn etwa dieses, daß man die Geigen ein lebhaftes Stück, eine muntere Sonate spielen läßt, während daß die Zuhörer um den Prinzen bekümmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren.
»Madame«, sagte Mongogul, »Sie haben vollkommen recht; traurige Arien müßte man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen.« Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.
»Wenigstens, Madame«, erwiderte Selim, »werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Episoden uns aus der Täuschung herausbringen, der Dialog uns wieder hereinsetzt. Ich wüßte nicht, wer das besser verstünde, als unsere tragische Dichter.«
»Nun so versteht es durchaus niemand«, antwortete Mirzoza. »Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhörlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus übersetzen; und Sie werden die bloße Natur hören, die sich durch den Mund derselben ausdrückt. Ich möchte gar zu gern zu den Neuern sagen: ›Meine Herren, anstatt daß ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Umstände zu setzen, die ihnen welchen geben.‹«
»Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl nicht«, sagte Selim, »daß Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen.«
»Nein, gewiß nicht«, versetzte die Favoritin, »es gibt hundert schlechte für eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich durch ein Wunder. Weiß der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fünf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstoße ab; die ganze Welt fängt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll wäre. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgängig an, daß wir die Tragödie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast für erwiesen, daß von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist.«
Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder hereinkam. »Madame«, sagte er, »Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukürzen, wenn ich sie zu lang finde.«
»Lassen Sie uns«, fuhr die Favoritin fort, »einmal annehmen, es käme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehört hätte; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefähr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlägen der Höflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt wäre, und zu dem ich im Vertrauen sagte: ›Mein Freund, es äußern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fürst, der mit seinem Sohne mißvergnügt ist, weil er ihn im Verdacht hat, daß er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich für fähig halte, an beiden die grausamste Rache zu üben. Diese Sache muß, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, daß Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein können.‹ Er nimmt mein Anerbieten an, und ich führe ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er für den Palast des Sultans hält. Glauben Sie wohl, daß trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemühte, die Täuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern könnte? Müssen Sie nicht vielmehr gestehen, daß er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebärden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen würden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen würde, daß ich ihn entweder zum Besten haben wollte, oder daß der Fürst mitsamt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein müßten.«
»Ich bekenne«, sagte Selim, »daß mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber könnte man Ihnen nicht zu bedenken geben, daß wir in das Schauspiel gehen, mit der Überzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen.«
»Und sollte denn diese Überzeugung verwehren«, erwiderte Mirzoza, »die Handlung auf die allernatürlichste Art vorzustellen?« –
Hier kömmt das Gespräch nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem französischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der gerügten Mängel zu entfernen und den Weg der Natur und Täuschung besser einzuschlagen bemüht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstücken desselben fand: bloß und allein, um seinen Stücken Platz zu schaffen. Er mußte die Methode seiner Vorgänger verschrien haben, weil er empfand, daß in Befolgung der nämlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben würde. Er mußte ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots über seine Stücke her.
Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem »Natürlichen Sohne«, manche Blöße gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der »Hausvater« ist. Zu viel Einförmigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heißt), die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, daß die Einkleidung, welche Diderot den beigefügten Unterredungen gab, daß der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompös war; daß verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; daß andere Anmerkungen die Gründlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen.