Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Zehntes Stück

Den 2. Juni 1767

Das Stück des fünften Abends (dienstags, den 28. April) war »Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis« vom Destouches.

Wenn wir die Annales des französischen Theaters nachschlagen, so finden wir, daß die lustigsten Stücke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwärtige, noch »Der verborgne Schatz«, noch »Das Gespenst mit der Trommel«, noch »Der poetische Dorfjunker« haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgeführet worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankündiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, dünket man sich berechtiget, darüber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das nämliche findet. Destouches hatte in seinem »Verheirateten Philosophen«, in seinem »Ruhmredigen«, in seinem »Verschwender« Muster eines feinern, höhern Komischen gegeben, als man vom Molière, selbst in seinen ernsthaftesten Stücken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentümlichen Sphäre; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufällige Wahl war, erklärten sie für vorzüglichen Hang und herrschende Fähigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu können: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern ähnlicher, als daß sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren ließen, ehe sie ihr voreiliges Urteil änderten? Ich will damit nicht sagen, daß das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molièrischen von einerlei Güte sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spüren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Händen der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hölzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie überladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als lächerlich. Aber demohngeachtet, – und nur dieses wollte ich sagen, – sind seine lustigen Stücke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzärtelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern könnten.

Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt »Die neue Agnese«.

Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Spröde; aber insgeheim war sie die gefällige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. »Wie glücklich, o wie glücklich machst du mich, Bernard!« rief sie einst in der Entzückung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragte das liebe einfältige Mädchen: »Aber Mama, wer ist denn der Bernard, der die Leute glücklich macht?« Die Mutter merkte sich verraten, faßte sich aber geschwind. »Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kürzlich gewählt habe; einer von den größten im Paradiese.« Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnügen; Mama bekömmt Verdacht; Mama beschleicht das glückliche Paar; und da bekömmt Mama von dem Töchterchen ebenso schöne Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst von Mama gehört hatte. Die Mutter ergrimmt, überfällt sie, tobt. »Nun, was denn, liebe Mama?« sagt endlich das ruhige Mädchen. »Sie haben sich den h. Bernard gewählt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum nicht?« – Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen, mit welchen das weise Alter des göttlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muß. Er sahe nichts Anstößiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhängerin der Lehre des Gabalis; und der h. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette »Isabelle und Getrude, oder die vermeinten Sylphen«, welche die Grundlage zur »Neuen Agnese« ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen näherzubringen gesucht; man hat sich aller Anständigkeit beflissen; das liebe Mädchen ist von der reizendsten, verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veränderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht näher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wünschten, daß er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten hätte. – Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles kömmt ihr hier zustatten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.

Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die »Semiramis« des Hrn. von Voltaire aufgeführet.

Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die französische Bühne gebracht, erhielt großen Beifall und macht in der Geschichte dieser Bühne gewissermaßen Epoche. – Nachdem der Hr. von Voltaire seine »Zaire« und »Alzire«, seinen »Brutus« und »Cäsar« geliefert hatte, ward er in der Meinung bestärkt, daß die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stücken weit überträfen. »Von uns Franzosen«, sagt er, »hätten die Griechen eine geschicktere Exposition und die große Kunst, die Auftritte untereinander so zu verbinden, daß die Szene niemals leer bleibt und keine Person weder ohne Ursache kömmt noch abgehet, lernen können. Von uns«, sagt er, »hätten sie lernen können, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der Dichter mit einer Menge erhabner, glänzender Gedanken blenden und in Erstaunen setzen müsse. Von uns hätten sie lernen können« – O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da möchte zwar ein Ausländer, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demütig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu dürfen. Er möchte vielleicht einwenden, daß alle diese Vorzüge der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen großen Einfluß hätten; daß es Schönheiten wären, welche die einfältige Größe der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermißte er bei seiner Bühne; daß die großen Meisterstücke derselben nicht mit der Pracht aufgeführet würden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewürdiget hätten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war überzeugt, daß bloß dieser Übelstand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und prächtigern Theater, ohne Zweifel gewagt hätte. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine »Semiramis«. Eine Königin, welche die Stände ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Mörder zu rächen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat für die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Lärmen auf der Bühne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern so wie er sie wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefähr spielen ließ. Bei der ersten Vorstellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich hätte wohl ein altvätrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel mögen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Bühne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so außerordentlichen Stückes, war, ist nach der Zeit die beständige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur für die Bühne in Paris; für die, wie gesagt, »Semiramis« in diesem Stücke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch häufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu können.


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