Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Sechsundzwanzigstes Stück

Den 28. Julius 1767

Den einunddreißigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, »Die Hausfranzösin, oder die Mamsell« aufgeführet.

Dieses Stück ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fünften Bande der »Schaubühne« beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen. »Das Testament«, von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber »Die Hausfranzösin« ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch obendarein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben können. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird. – –

Den zweiunddreißigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die »Semiramis« des Herrn von Voltaire wiederholt.

Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt, so haben Kenner schon längst gewünscht, daß die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stücke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr übereinstimmen möchte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld für die Kunst bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Rührung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwächt und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem »Polyeukt« und »Mithridat« den Versuch, besondere diesen Stücken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwärts aufgeführet wurden; sondern ließ sich auch in einem besondern Blatte seines »Kritischen Musikus«Stück 67. umständlich darüber aus, was überhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.

»Alle Symphonien,« sagt er, »die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehören also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragödien und Komödien unter sich selbst sind, so verschieden muß auch die dazugehörige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehört, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stückes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzügen vorkommen, müssen teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges übereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemäß sein muß.«

»Alle Symphonien zu Trauerspielen müssen prächtig, feurig und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragödien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den ›Polyeukt‹ gegen den ›Brutus‹, oder auch die ›Alzire‹ gegen den ›Mithridat‹: so wird man gleich sehen, daß sich keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufällen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das Prächtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmut, die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Unglücksfällen im Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele ›Cato‹, ›Brutus‹, ›Mithridat‹. ›Alzire‹ aber und ›Zaïre‹ erfordern hingegen schon eine etwas veränderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stücken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veränderung der Affekten zeigen.«

»Ebenso müssen die Komödiensymphonien überhaupt frei, fließend und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentümlichen Inhalte einer jeden Komödie richten. So wie die Komödie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komödien ›Der Falke‹ und ›Die beiderseitige Unbeständigkeit‹ würden ganz andere Symphonien erfordern als ›Der verlorne Sohn‹. So würden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum ›Geizigen‹ oder zum ›Kranken in der Einbildung‹ sehr wohl schicken möchten, zum ›Unentschlüssigen‹ oder zum ›Zerstreuten‹ schicken. Jene müssen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdrießlicher und ernsthafter.«

»Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stück beziehen; zugleich aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem ersten Auftritte übereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Sätzen bestehen, so wie es der Komponist für gut findet. – Die Symphonien zwischen den Aufzügen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natürlichsten zwei Sätze haben können. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein nötig, wenn die Affekten einander allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehörige Länge erhält, damit die Bedürfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden können. – Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste übereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdrücklicher zu machen. Was ist lächerlicher, als wenn der Held auf eine unglückliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komödie auf eine fröhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf?« – –

»Da übrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veränderung derselben sehr nötig, damit die Zuhörer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren möchten, wenn sie immer einerlei Instrumente hören sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, daß die Anfangssymphonie sehr stark und vollständig ist, und also desto nachdrücklicher ins Gehör falle. Die Veränderung der Instrumenten muß also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muß aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdrücken kann, was man ausdrücken soll. Es muß also auch hier eine vernünftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veränderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Übelstand vermeidet.«

Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkünstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten imstande sei. Die mehresten müssen es von ihren Kunstverwandten erst hören, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden.

Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankömmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkünstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin glücklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsätze aus ihren Beispielen hergeleitet hätte. Aber je häufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher können wir sie uns versprechen; und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkünstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen könnte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfterer hören, wir werden sie miteinander öfterer vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.

Welchen Zuwachs unser Vergnügen im Theater dadurch erhalten würde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters hat man sich daher nicht nur überhaupt bemüht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch würdige Männer bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die über alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks »Olint und Sophronia« hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Aufführung der »Semiramis« wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgeführt.


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