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Den 23. Junius 1767
Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatürlich; besonders war ihr tragisches Spiel äußerst wild und übertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudrücken hatten, schrien und gebärdeten sie sich als Besessene; und das übrige tönten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den Komödianten verriet. Als er daher seine Übersetzung der »Zaïre« aufführen zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaïre einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragödie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefühl und Stimme und Figur und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar Stunden überreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß nur eine sehr geübte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genüge leisten könne, wurden beschämt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komödianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstück. Es ist merkwürdig, daß auch die französische Schauspielerin, welche die Zaïre zuerst spielte, eine Anfängerin war. Die junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch berühmt, und selbst Voltaire ward so entzückt über sie, daß er sein Alter recht kläglich bedauerte.
Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill übernommen, der kein Komödiant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken, öffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schätzbar als irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnügen einmal mitspielen, nicht selten. »Alles was uns dabei befremden sollte«, sagt der Hr. von Voltaire »ist dieses, daß es uns befremdet. Wir sollten überlegen, daß alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der französische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts Besonders dabei gefunden, als daß diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Künsten für ein Unterschied, als daß die eine über die andere ebensoweit erhaben ist, als es Talente, welche vorzügliche Seelenkräfte erfodern, über bloß körperliche Fertigkeiten sind?«
Ins Italienische hat der Graf Gozzi die »Zaïre« übersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache können zärtliche Klagen rührender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stücks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, läßt ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns über das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Türken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen.
Questo mortale orror che per le vene
Tutte mi scorre, omai non è dolore,
Che basti ad appagarti, anima bella.
Feroce cor, cor dispietato, e misero,
Paga la pena del delitto orrendo.
Mani crudeli – oh Dio – Mani, che siete
Tinte del sangue di si cara donna.
Voi – voi – dov'è quel ferro? Un' altra volta
In mezzo al petto – Oimè, dov'è quel ferro?
L'acuta punta – –
Tenebre, e notte
Si fanno intorno – –
Perchè non posso – –
Non posso spargere
Il sangue tutto?
Sì, sì, lo spargo tutto, anima mia,
Dove sei? – più non posso – oh Dio! non posso –
Vorrei – vederti – io manco, io manco, oh Dio!
Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt »verehret und gerochen«; kaum hat er sich den tödlichen Stoß beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, daß der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkürzung mit mehrern Stücken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, daß sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schließen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher kömmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hören zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur völligen Rundung des Stücks noch so unentbehrliche Worte wären? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir hätten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hören, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir würden recht gern die letzten Befehle des großmütigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiß ich kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es wäre begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muß Künstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.
Bei keiner Nation hat die »Zaïre« einen schärfern Kunstrichter gefunden, als unter den Holländern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des berühmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, daß er es für etwas Kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine – andere»Zaire, bekeerde Turkinne«. Treurspel. Amsterdam 1745., in der die Bekehrung der Zaïre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan über seine Liebe sieget und die christliche Zaïre mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhöhung gemäß ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, daß er uns kalt läßt; er interessiere uns und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime können wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses müssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurück, von der mißlungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik geschlossen wissen möchte. Duims Tadel ist in vielen Stücken ganz gegründet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. »Orosman«, sagt er, »kömmt, Zaïren in die Moschee abzuholen; Zaïre weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Würde gemäß? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zaïren, sich deutlicher zu erklären? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?« – Guter Duim! wenn sich Zaïre deutlicher erkläret hätte: wo hätten denn die andern Akte sollen herkommen? Wäre nicht die ganze Tragödie darüber in die Pilze gegangen? – Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts ist ebenso abgeschmackt: Orosman kömmt wieder zu Zaïren; Zaïre geht abermals, ohne die geringste nähere Erklärung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), tröstet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewißheit mußte doch bis zum fünften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare hängt, so hängen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem stärkern.
Die letzterwähnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner zu empfinden fähig ist. Er muß aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Großmut, willig und geneigt, Zaïren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaïre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung über. Alles was Rémond de Sainte-Albine in seinem »Schauspieler«»Le Comédien«, Partie II, Chap. X. p. 209. hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf eine so vollkommene Art, daß man glauben sollte, er allein könne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.