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Den 15. Januar 1768
Zur Sache. – Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünschte.
Aristoteles würde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.
Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein müsse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Unglücke lasse sich jener Zweck erreichen.
Räume ich dieses ein: so ist »Richard der Dritte« eine Tragödie, die ihres Zweckes verfehlt. Räume ich es nicht ein: so weiß ich gar nicht mehr, was eine Tragödie ist.
Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiße geschildert hat, ist unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.
Was für Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenständen unsers Mitleids gemacht hat.
Aber Schrecken? – Sollte dieser Bösewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt hätten sein müssen; sollte dieser blutdürstige, seines Blutdurstes sich rühmende, über seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Maße erwecken?
Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen über unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen über Bosheiten, die unsern Begriff übersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsätzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, überfällt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen.
Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgendein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der gräßlichen Idee wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis fähig sei.
Bei den Franzosen führt Crébillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragödie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragödie rechnet.
Und dieses – hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende, welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes »Schrecken«, anstatt des Wortes »Furcht« herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine. – Ich möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.
»Das Mitleid«, sagt Aristoteles, »verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsersgleichen. Der Bösewicht ist weder dieses noch jenes: folglich kann auch sein Unglück weder das erste noch das andere erregen.«Im 13. Kapitel der »Dichtkunst«.
Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Übersetzer Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen.
»Man hat sich«, sagt einer aus der Menge,Hr. S. in der Vorrede zu s. »Komischen Theater«, S. 35. »über die Erklärung des Schreckens nicht vereinigen können; und in der Tat enthält sie in jeder Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert und sie allzusehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz ›unsersgleichen‹ nur bloß die Ähnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil nämlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, daß sich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befände: so war dieser Zusatz überflüssig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, daß nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich hätten, Schrecken erregen könnten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüttert sich, vermöge dieses Gefühls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses würde allemal eine Verleugnung seiner natürlichen Empfindungen, und also eine bloße Prahlerei aus verderbten Grundsätzen, und kein Einwurf sein. – Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustößt, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen bloß den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes überhaupt macht uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken.«
Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglück unsersgleichen setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles würde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modifikation des Mitleids verstünde.
»Das Mitleid«, sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen,»Philosophische Schriften« des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter Teil, S. 4. »ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man ändre nur in dem bedauerten Unglück die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichen Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können? – Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden.« –