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Den 14. Julius 1767
Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der »Advokat Patelin« wiederholt, und mit der »Kranken Frau« des Herrn Gellert beschlossen.
Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, daß es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir über viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzu flache Manier gewöhnet. Sie machen sie ähnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewußt, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Körperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Außenlinien uns gleich an die Täuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die übrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muß sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlässigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfählen herumträumen. Sie müssen nichts von der engen Sphäre kümmerlicher Umstände verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemänteln zu können; er muß ihnen den Ehrgeiz geben, damit glänzen zu wollen.
»Ich weiß gar nicht«, sagte eine von meinen Bekanntinnen, »was das für ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muß seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstände machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar großes Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl.«
»Ganz gewiß!« sagte eine andere. »Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Mütter. Eine Andrienne! Welche Schneidersfrau trägt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse« – (ich habe die andern Namen vergessen, ich würde sie auch nicht zu schreiben wissen) – »dafür sagen! Mich in einer Andrienne zu denken; das allein könnte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muß es auch die neueste Tracht sein. Wie können wir es sonst wahrscheinlich finden, daß sie darüber krank geworden?«
»Und ich«, sagte eine dritte (es war die gelehrteste), »finde es sehr unanständig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser – wie soll ich es nennen? – Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig sein; die Stephan sollte es noch anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt« – Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen.
Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der »Melanide« des de la Chaussée »Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann« gespielet.
Der Verfasser dieses Stücks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfällen; nur schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört, alle diese Einfälle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provinzial. Und dieses könnte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fürchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes halten dürfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort grünen Kohl ißt?
Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, daß jeder etwas anders sagen muß. Hier ist das nicht; »Der Mann nach der Uhr«, oder »Der ordentliche Mann« sagen ziemlich das nämliche; außer daß das erste ohngefähr die Karikatur von dem andern ist.
Den dreißigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der »Graf von Essex«, vom Thomas Corneille, auf geführt. Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der beträchtlichen Anzahl der Stücke des jüngern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Bühnen noch öfterer wiederholt, als auf den französischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereits Calprenède die nämliche Geschichte bearbeitet hatte.
»Es ist gewiß«, schreibt Corneille, »daß der Graf von Essex bei der Königin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verständnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwählet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, daß ich sie in einem wichtigen Stücke verfälscht hätte, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Königin dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muß mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung des Calprenède ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das geringste davon gelesen.«
Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, daß er ihn für eine poetische Erfindung erklärte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedächtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre Werke aufgenommen.
Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: »Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste war diese, daß dieses Übel aus einer betrübten Reue wegen des Grafen von Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz außerordentliche Achtung für das Andenken dieses unglücklichen Herrn; und wiewohl sie oft über seine Hartnäckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Tränen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zärtlichkeit belebte und ihre Betrübnis noch mehr vergällte. Die Gräfin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wünschte die Königin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig würde sterben lassen. Wie die Königin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Gräfin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen worden, gewünscht, die Königin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestät ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr nämlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bei einem etwanigen Unglücke, als ein Zeichen senden würde, er sich ihrer völligen Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person, durch welche er ihn habe übersenden wollen; durch ein Versehen aber sei er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Hände geraten. Sie habe ihrem Gemahl die Sache erzählt (er war einer von den unversöhnlichsten Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Königin zu geben noch dem Grafen zurückzusenden. Wie die Gräfin der Königin ihr Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, daß sie ihn im Verdacht eines unbändigen Eigensinnes gehabt, antwortete: ›Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr!‹ Sie verließ das Zimmer in großer Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gänzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Nächte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkräftet, den Geist aufgab.«