Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Stück

Den 7. Julius 1767

Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward »Cenie« aufgeführet.

Dieses vortreffliche Stück der Graffigny mußte der Gottschedin zum Übersetzen in die Hände fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von sich selbst ablegt, »daß sie die Ehre, welche man durch Übersetzung oder auch Verfertigung theatralischer Stücke erwerben könne, allezeit nur für sehr mittelmäßig gehalten habe«, läßt sich leicht vermuten, daß sie, diese mittelmäßige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmäßige Mühe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einige lustige Stücke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine Empfindung! Das Lächerliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt und sie dafür den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle die kalte Vollständigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. Z. E. Dorimond hat dem Méricourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermögens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Méricourt geht; er verweigert sich dem großmütigen Anerbieten und will sich ihm aus Uneigennützigkeit verweigert zu haben scheinen. »Wozu das?« sagt er. »Warum wollen Sie sich Ihres Vermögens berauben? Genießen Sie Ihrer Güter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet.« J'en jouirai, je vous rendrai tous heureux: läßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. »Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich machen.« Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlässige Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Glückes genießen, andere glücklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloß eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das nämliche zweimal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze, vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst fühlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottschedin jene acht Worte übersetzt hat? »Alsdenn werde ich meiner Güter erst recht genießen, wenn ich euch beide dadurch werde glücklich gemacht haben.« Unerträglich! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Überlegung geben und eine warme Empfindung in eine frostige Schlußrede verwandeln.

Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, daß ungefähr auf diesen Schlag das ganze Stück übersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgelöset worden. Hierzu kömmt in vielen Stellen der häßliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der gerührten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: »Frau Mutter! o welch ein süßer Name!« Der Name Mutter ist süß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem »Gnädiger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!« ihm in die Arme. Mon père! auf deutsch: Gnädiger Herr Vater. Was für ein respektuöses Kind! Wenn ich Dorsainville wäre, ich hätte es ebenso gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede.

Madame Löwen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Würde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewußtsein ihres verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudrücken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort fällt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es kömmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wüßte nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswürdiger Fehler. Die Aktrice ist für die Rolle zu groß. Mich dünkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich möchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen könnte.

Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stücks vom Méricourt sagt: »Ich will ihm so viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!« wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das für ein Land ist, dieses Vaterland des Méricourt? Ein gefährliches, ein böses Land!

Tot linguae, quot membra viro!

Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die »Amalia« des Herrn Weiße aufgeführet.

»Amalia« wird von Kennern für das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgeführtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine übrige komische Stücke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden würden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen überhaupt geben einem dramatischen Stücke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafür kann es aber auch nicht fehlen, daß sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fünfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kühn kroquierte Pinselstriche zu lindern und mit dem übrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl raten möchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen könne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brüskieren. Ich will die Vermutung ungeäußert lassen, daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl hätte feiner anfangen können; daß man über einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen müsse; daß – Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeäußert lassen; denn es könnte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nämlich die Gegenstände sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, daß diejenige Frau, bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen übrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloß bekennen, daß ich für mein Teil nicht Herz genug gehabt hätte, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich würde mich, vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefürchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crébillonschen Fähigkeit bewußt gewesen wäre, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiß ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen wäre. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst öffnet. Manley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmäßig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gänzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um flüchtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen würden dadurch, ich will nicht sagen unsträflich, aber doch unsträflicher geworden sein; er würde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen können; die Probe wäre ungleich verführerischer und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender für ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man würde zugleich einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt daß man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun können, wenn sie unglücklicherweise in ihrer Verführung glücklich gewesen wäre.

Nach der »Amalia« folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, »Der Finanzpachter«. Es besteht ungefähr aus ein Dutzend Szenen von der äußersten Lebhaftigkeit. Es dürfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswürdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewußt, als er.

Den fünfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die »Zelmire« des Du Belloy wiederholt.


 << zurück weiter >>