Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Funfzigstes Stück

Den 20. Oktober 1767

Bei dem Maffei hat der Jüngling seine zwei Namen, wie es sich gehört; Aegisth heißt er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingeführt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stücks als kein geringes Verdienst an, daß dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate.Fin ne i nomi de' Personaggi si è levato quell' errore, comunissimo alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto. Das ist, die Italiener sind von den Überraschungen noch größere Liebhaber, als die Franzosen. –

Aber noch immer »Merope«! – Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine lustige oder rührende Romane gebracht; anstatt beiläufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie die doch wohl sein müssen, die sich mit Komödienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken über alte bekannte Stücke; schwerfällige Untersuchungen über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte; mitunter wohl gar Erklärungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angeführt! – Doch im Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich würde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten.

Über die »Merope« indes muß ich freilich einmal wegzukommen suchen. – Ich wollte eigentlich nur erweisen, daß die »Merope« des Voltaire im Grunde nichts als die »Merope« des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwei oder mehrere Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts, als für den Übersetzer und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei hat die »Merope« des Euripides nicht bloß wieder hergestellet; er hat eine eigene »Merope« gemacht: denn er ging völlig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze, ein Stück ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloß aus der mütterlichen Zärtlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut oder übel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Polyphont nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermählung dringen zu müssen glaubet; er entlehnte von ihm, daß der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeintlichen Vater entkömmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Mörder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er für den Mörder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der mütterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Händen sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Auflösung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, daß er, bloß darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um dieses Opfer desto natürlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.

Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umständen, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. Z. E. Anstatt daß, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, läßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten überfallen werden, die es ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des Tempels für die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt daß beim Maffei Aegisth durch einen Ring in Verdacht gerät, läßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Rüstung entstehen usw. Aber alle diese Veränderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle außer dem Stücke sind und auf die Ökonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Äußerungen seines schöpferischen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hätte. Ich will mich an dem mittelsten von den angeführten Beispielen erklären. Maffei läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber und wirft den Körper in den Fluß, aus Furcht, wenn der Körper auf der Straße gefunden würde, daß man den Mörder verfolgen und ihn dafür erkennen dürfte. Ein Räuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist für mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus diesem Räuber einen Mißvergnügten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhänger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto größer, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem ältrern gemacht wird, kann hernach für den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Mißvergnügten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er trägt den toten Körper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die größte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth trägt den Körper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fürchtet; weil er glaubt, wenn der Körper beiseite geschafft sei, daß sodann nichts seine Tat verraten könne; daß diese sodann, mitsamt dem Körper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite hätte nicht entkommen müssen. Wird sich dieser begnügen, sein Leben davongetragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Mörder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Mühe hätte er sparen und dafür eilen sollen, je eher je lieber über die Grenze zu kommen. Freilich mußte der Körper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen ebenso nötig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur daß, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloß dem Dichter zu Gefallen tun muß. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu überlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Bedürfnis abhängt.

Eine einzige Veränderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nämlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres Sohnes zu rächen, unterdrückt und dafür die Erkennung von seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung überhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte geteilet werden können. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegeneinander vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung überhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen müssen, um fünf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal über cette longue carrière de cinq actes qui est prodigieusement difficile à remplir sans épisodes – – Und nun für diesesmal genug von der »Merope«!


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