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Den 8. September 1767
Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen DichtkunstHerrn Curtius, S. 214. hat sie ebensowenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. »Ich überlasse«, schließt er, »einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe.«
Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Widerspruch gewissermaßen unvermeidlich machen müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anscheinend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, gewiß am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderiere ein jedes Wort und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's auch.
Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Erklärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. – Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer größern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnügen.
Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πράξεως; und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten, σύνθεσις πραγμάτων. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Güte eines jeden Ganzen auf der Güte seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede für sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung statthaben können, unter drei Hauptstücke: des Glückswechsels, περιπετείας; der Erkennung, αναγνωρισμου̃; und des Leidens, πάθους. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, μυ̃θος πεπλεγμένος, von der einfachen, απλω̃, unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schöner und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, πάθη, muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glückswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstücke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glückswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, daß derjenige Glückswechsel der beste, das ist der fähigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befördern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem nämlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt.
Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten müssen? Ist denn die möglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glückswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmöglich, daß ein Ganzes Teile von entgegengesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, daß die beste Tragödie nichts als die Vorstellung einer Veränderung des Glückes in Unglück sei? Oder, wo sagt er, daß die beste Tragödie auf nichts, als auf die Erkennung dessen hinauslaufen müsse, an dem eine grausam widernatürliche Tat verübet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragödie überhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glückswechsel kann sich mitten in dem Stücke ereignen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z. E. der Glückswechsel im »Oedip«, der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts äußert, zu dem aber noch mancherlei Leiden (πάθη) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stück schließet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem nämlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so daß durch diese Erkennung das Stück nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten »Iphigenia« des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glückswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der »Merope« selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch den ersteren haben könnte, wenn nämlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht ebensowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schließen? Warum sollte es einem Dichter nicht freistellen können, um unser Mitleiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde eine solche Merope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet?
Ich merke wohl, was das Mißverständnis veranlasset haben kann. Man hat sich einen Glückswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glückswechsel denken können. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwähnen, daß auch nicht beides eben die nämliche Person treffen muß, und wenn es die nämliche Person trifft, daß eben nicht beides sich zu der nämlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammenfließen, oder der eine den andern notwendig ausschließt. Daß es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten Allgemeinheit abfaßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Teile alle notwendig haben müsse? Genug für ihn, daß es Fabeln gibt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren würdet, und wählet. Das ist es alles!