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Den 12. Februar 1768
4. Aristoteles sagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragödie unglücklich werden lassen; denn so was sei gräßlich. – »Ganz recht«, sagt Corneille; »ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Haß gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid für den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tragödie sein soll, würde, wenn sie nicht sehr fein behandelt wäre, diese ersticken, die doch eigentlich hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer würde mißvergnügt weggehen, weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm gefallen hätte, wenn er es allein mit wegnehmen können. Aber«, kömmt Corneille hintennach; denn mit einem Aber muß er nachkommen – »aber, wenn diese Ursache wegfällt, wenn es der Dichter so eingerichtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid für sich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? – Oh, alsdenn«, sagt Corneille, »halte ich dafür, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Unglücke zu zeigen.«J'estime qu'il ne faut point faire de difficulté d'exposer sur la scène des hommes très vertueux. – Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich, und eben daher untragisch. Corneille aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristoteles in dieser Art des Unglückes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche ganz etwas anders ist als dieser Unwille; daß, wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes doch noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stücken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt, um seine Lehre darnach näher einzuschränken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglück des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden könne. En voici, sagt er, deux ou trois manières que peut-être Aristote n'a su prévoir, parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les théâtres de son temps. Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst? Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind sehen. – »Die erste«, sagt er, »ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkömmt, und so, daß der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der ›Rodogune‹ und im ›Heraklius‹ geschiehet, wo es ganz unerträglich würde gewesen sein, wenn in dem ersten Stücke Antiochus und Rodogune, und in dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen wären, Kleopatra und Phokas aber triumphieret hätten. Das Unglück der erstern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil man beständig hofft, daß sich irgendein glücklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse.« Das mag Corneille sonst jemanden weismachen, daß Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, daß er sie, wo nicht gänzlich verworfen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehört diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht unglücklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitleidige Besorgnisse für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu sein. – Nun, die zweite Manier! »Auch kann es sich zutragen«, sagt Corneille, »daß ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix seinen Eidam Polyeukt umkommen läßt, so ist es nicht aus wütendem Eifer gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswürdig machen würde, sondern bloß aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und mißbilliget sein Verfahren; doch überwiegt dieser Unwille nicht das Mitleid, welches wir für den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, daß ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zuhörern aussöhnen sollte.« Tragische Stümper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also dem Aristoteles an einem Stücke von ähnlicher Einrichtung gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille? Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie Felix, sind in dergleichen Stücken ein Fehler mehr und machen sie noch obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im geringsten weniger gräßlich zu machen. Denn, wie gesagt, das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Unglücke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger mögen böse oder schwach sein, mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Helden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist? – Das nämliche würde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst näher anzugeben vergessen hätte.
5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Corneille seine Läuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben fähig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: so könne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern ähnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den zwar proportionierten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gründet sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften hatte, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und daß der Bösewicht, wenn es möglich wäre, daß er unsere Furcht erregen könne, auch notwendig unser Mitleid erregen müßte. Da er aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und bleibt gänzlich ungeschickt, die Absicht der Tragödie erreichen zu helfen. Ja, Aristoteles hält ihn hierzu noch für ungeschickter als den ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, falls man den Held aus der mittlere Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher besser als schlimmer wählen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist. – Was DubosRéflexions cr. T. I. Sect. XV. von dem Gebrauche der lasterhaften Personen in der Tragödie sagt, ist das nicht, was Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloß zu Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloß zur Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen lassen, so wie in der »Rodogune«: und das ist eigentlich, was mit der Absicht der Tragödie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch sehr richtig an, daß das Unglück dieser subalternen Bösewichter keinen Eindruck auf uns mache. »Kaum«, sagt er, »daß man den Tod des Narciß im Britannicus bemerkt.« Aber also sollte sich der Dichter auch schon deswegen ihrer so viel als möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die Absicht der Tragödie nicht unmittelbar befördert, wenn sie bloße Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, daß das Stück noch besser sein würde, wenn es die nämliche Wirkung ohne sie hätte. Je simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Räder und Gewichte sie hat, desto vollkommener ist sie.