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Den 29. Januar 1768
2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was für Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natürlich, daß sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten. Aristoteles verspricht am Ende seiner »Politik«, wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst weitläuftiger zu handeln. »Weil man aber«, sagt Corneille, »ganz und gar nichts von dieser Materie darin findet, so ist der größte Teil seiner Ausleger auf die Gedanken geraten, daß sie nicht ganz auf uns gekommen sei.« Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch übrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, über diese Sache zu sagen für nötig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragödie geschehe: nämlich die, wo Aristoteles sagt, »das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsersgleichen«. Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur daß Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. »Das Mitleid mit dem Unglücke«, sagt er, »von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr Unglück vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu bessern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, daß man die Ursache abschneiden müsse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle.« Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloß zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch und kann unmöglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die Tragödie gerade alle Leidenschaften reinigen könnte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdrücklich durch sie gereiniget wissen will. Sie könnte unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Haß und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglück zugezogen. Nur unser Mitleid und unsere Furcht müßte sie ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben, in welchem sie beides sind: das weiß ich wohl. Aber noch kenne ich kein solches Stück: ein Stück nämlich, in welchem sich die bemitleidete Person durch ein übelverstandenes Mitleid oder durch eine übelverstandene Furcht ins Unglück stürze. Gleichwohl würde dieses Stück das einzige sein, in welchem, so wie es Corneille versteht, das geschähe, was Aristoteles will, daß es in allen Tragödien geschehen soll: und auch in diesem einzigen würde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt. Dieses einzige Stück würde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen. – So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, daß unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie sehr gering sein würde, wenn er bloß hierauf eingeschränkt wäre: so ließ er sich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenschaften beizulegen. Wie nun Corneille diese für sein Teil leugnete und in Beispielen zeigte, daß sie mehr ein schöner Gedanke, als eine Sache sei, die gewöhnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so mußte er sich mit ihm in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, daß er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen mußte, um seinen Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leidenschaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaften viel oder wenig beiträgt. An jene Reinigung hätte sich Dacier allein halten sollen: aber freilich hätte er sodann auch einen vollständigem Begriff damit verbinden müssen. »Wie die Tragödie«, sagt er, »Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklären. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglück vor Augen stellet, in das unsersgleichen durch nicht vorsätzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem nämlichen Unglücke bekannt macht und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, noch allzusehr davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte. – Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle mutig zu ertragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem sie ihre Unglücksfälle mit weit größern vergleichen, die ihnen die Tragödie vorstellet. Denn in welchen Umständen kann sich wohl ein Mensch finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests nicht erkennen müßte, daß alle Übel, die er zu erdulden, gegen die, welche diese Männer erdulden müssen, gar nicht in Vergleichung gekommen?« Nun das ist wahr; diese Erklärung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand sie fast mit den nämlichen Worten bei einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes einzuwenden, daß das Gefühl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid neben sich duldet; daß folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betrübnis durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt, gelten lassen. Nur fragen muß ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten mehr damit gesagt, als, daß das Mitleid unsere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, daß dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn, nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stückweise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Hälfte erläutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schließet. Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugroße Furcht mäßige: und noch nicht einmal, wie es dem gänzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade erhöhe; geschweige, daß er auch das übrige sollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergänzet; aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragödie völlig außer Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber keinesweges der Tragödie, als Tragödie, insbesondere zukommen; z. E. daß sie die Triebe der Menschlichkeit nähren und stärken; daß sie Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laster wirken solle usw.Hr. Curtius in seiner »Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels«, hinter der Aristotelischen Dichtkunst«. Lieber! welches Gedicht sollte das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende Kennzeichen der Tragödie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten.