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Viertes Buch.
Ausdehnung bis Akaba


Neununddreißigstes Kapitel

Am 9. Mai 1917 waren alle Vorbereitungen beendet, und im Glanz der Nachmittagssonne verließen wir das Zelt Faisals. Er rief uns von der Höhe herab gute Wünsche nach, während wir davonritten. Scherif Nasir hatte die Leitung, ein Führer, wie man ihn sich nicht besser denken kann, und in seiner strahlenden Heiterkeit ein wahrer Segen für uns bei so gewagter Unternehmung. Als wir mit unseren Wünschen zu ihm kamen, hatte er erst etwas geseufzt, denn er war müde am Körper nach dem monatelangen Dienst in vorderster Front, und auch müde an Geist, weil die sorglosen Jahre seiner Jugend dahinschwanden. Er scheute das über ihn kommende Alter mit seiner Gedankenreife, seiner abgeklärten Weisheit und seiner gesicherten Erfahrung, dem aber der Glanz der Jugend fehlte, der das Leben voll ausschöpfen kann. Körperlich war er noch jung: doch seine wandelbare und rastlose Seele alterte schneller als sein Leib – sie starb vor diesem dahin, so wie es den meisten von uns ergeht.

Unser erster kurzer Tagemarsch endete beim Fort Sebeil, landeinwärts von Wedsch, wo die ägyptischen Pilger sich mit Wasser versorgen. Wir lagerten bei dem großen backsteinernen Wasserbehälter im Schatten der Palmen oder der Fortumwallung und behoben die Mängel, die sich beim ersten Marsch herausgestellt hatten. Auda und seine Sippe waren mit uns, ebenso Nesib el Bekri, der weltkluge Damaszener, der bei den Dorfsassen Syriens in Faisals Sinne wirken sollte. Er besaß Verstand und Haltung und zudem die Erfahrung einer früheren erfolgreichen Wüstenreise; seine heitere Ausdauer bei allen Zufällen und Schwierigkeiten – höchst selten bei Syriern – machte ihn zu einem Gefährten so recht nach unserm Sinn, ebenso wie seine politischen Fähigkeiten, seine Gewandtheit, seine gutmütig überzeugende Beredsamkeit und sein Patriotismus, der immer wieder die Oberhand gewann über die eingeborene Neigung zu Winkelzügen. Zum Begleiter hatte er sich Seki, einen syrischen Offizier, gewählt. Als Bedeckung hatten wir fünfunddreißig Ageyl, unter Ibn Dgheithir, einem Mann, gleichsam eingemauert in seine Wesensart, ablehnend, unzugänglich, selbstherrlich. Faisal hatte uns einen Beutel von zwanzigtausend Pfund in Gold mitgegeben – alles, was er aufbringen konnte, und mehr als wir erbeten hatten – um damit die Neuangeworbenen zu besolden und dem Eifer der Howeitat den nötigen Nachdruck zu geben.

Diese unbequeme Last von vier Zentnern Gold verteilten wir unter uns, um gegen Zufälle unterwegs gesichert zu sein. Scheik Jussuf, der die Vorräte unter sich hatte, gab jedem von uns einen halben Sack Mehl, der fünfundvierzig Pfund enthielt, was die knappe Ration für einen Mann auf sechs Wochen ausmachte. Diesen Vorrat führte jeder an seinem Sattel mit; und außerdem nahm Nasir noch auf den Lastkamelen eine genügende Menge mit, um weitere vierzehn Pfund pro Mann verteilen zu können, wenn nach vierzehn Tagen des Marsches durch Verbrauch Raum in unseren Sattelsäcken geschaffen worden war.

Wir führten ein paar Gewehre und etwas Munition für Geschenkzwecke mit; sechs Kamele waren mit kleinen Ballen Sprengstoff beladen, da wir im Norden Gleise, Züge oder Brücken sprengen wollten. Nasir, ein großer Emir bei sich zu Hause, führte außerdem ein gutes Zelt mit, in dem er Besucher empfangen konnte, dazu eine Kamelladung Reis, um sie zu bewirten; aber den Reis aßen wir selber mit großem Appetit auf, als uns die wochenlang unveränderte Diät, bestehend aus wässerigem Brot und Wasser, doch etwas zu spartanisch wurde. Als Anfänger in dieser Art des Reisens wußten wir noch nicht, daß trockenes Mehl die leichteste und deshalb die beste Nahrung auf langen Märschen war. Ein halbes Jahr später vergeudeten weder Nasir noch ich Transportmittel oder Mühen an so überflüssigen Luxus wie Reis.

Zu den drei Ageyl meiner persönlichen Begleitung – Mukheymer, Merjan, Ali – war jetzt noch Mohammed gekommen, ein pausbäckiger, williger Bauernbursche aus einem Dorf im Hauran, und ferner der gelbwangige Gasim, ein aufgegriffener Flüchtling aus Maan, der zu den Howeitat in die Wüste entwichen war, nachdem er in einem Streit um Viehsteuer einen türkischen Beamten niedergeschlagen hatte. Vergehen gegen Steuereintreiber erschienen uns sehr sympathisch, und Gasim erhielt dadurch einen Nimbus von Verwegenheit, die er aber in Wirklichkeit gar nicht besaß.

Unsere Reisegesellschaft erschien einigermaßen klein, um eine neue Provinz zu erobern; das dachten offenbar auch die anderen, denn nun kam Lamotte, Bremonds Vertreter bei Faisal, angeritten, um zum Abschied eine Gruppenaufnahme von uns zu machen. Etwas später erschien Jussuf mit dem guten Doktor, mit Schefik und Nesibs Brüdern, um uns für die Reise guten Erfolg zu wünschen. Wir verzehrten zusammen ein reichhaltiges Abendessen, dessen Bestandteile Jussuf vorsorglicherweise gleich mitgebracht hatte. Vielleicht ahnte sein nicht gerade schlanker Leib, daß es bei uns nur Brot geben würde; oder war es der erfreuliche Wunsch, uns einen letzten Festschmaus zu geben, bevor uns die Wildnis mit ihrer Pein und Kargheit aufnahm?

Nachdem sie fort waren, wurde aufgeladen, und wir brachen vor Mitternacht zu unserem zweiten Tagesmarsch nach der Oase Kurr auf. Nasir, unser Führer, kannte dieses Land fast so gut wie sein eigenes.

Während wir durch die sternklare Mondnacht ritten, verweilten seine Gedanken sehnsüchtig bei seiner Heimat. Er erzählte mir von seinem steingepflasterten Haus mit den tiefgelegenen Hallen und dem gewölbten Dach, das die Sommerhitze fernhielt; von seinen Gärten mit allen Sorten von Obstbäumen und schattigen Pfaden, auf denen man, geschützt vor der Sonne, wandeln konnte. Er erzählte mir von dem Wasserrad über dem Brunnen mit den daraufgeknüpften ledernen Schöpfeimern, von Ochsen gezogen, die im Kreise auf einem Pfad hartgetretener Erde gingen; und wie dann das Wasser vom Behälter in die steinernen Rinnen längs der Wege floß oder den Springbrunnen speiste bei dem großen, weinumrankten Wasserbecken in blanken Zement gefaßt, in dessen grüne Tiefe er und seines Bruders Familie um die Mittagszeit zu tauchen pflegten.

siehe Bildunterschrift

Mukheymer.
Pastellzeichnung von Kennington

Bei all seiner gewöhnlichen Heiterkeit war Nasir doch nicht frei von gelegentlicher Schwermut; und in dieser Nacht machte er sich Gedanken darüber, warum er, ein Emir von Medina, reich, mächtig und wohlbehalten in seinem Gartenpalast, alles das aufgegeben hatte, um der schwache Führer verzweifelter Abenteurer in der Wüste zu werden. Seit zwei Jahren war er ohne Behausung, sich stets herumschlagend hinter der Front von Faisals Heer, auserwählt für jedes tolle Wagnis, Wegbahner für jeden Schritt vorwärts. Indessen hausten die Türken in seinem Palast, verwüsteten seine Obstbäume, fällten seine Palmen. Selbst der Brunnen, so sagte er, der seit sechshundert Jahren erklungen war vom Knarren der Ochsenräder, war verstummt; der Garten, von der Hitze ausgedörrt, war wüst und öde geworden wie die kahlen Hügel, über die wir ritten.

Nach vierstündigem Marsch ruhten wir zwei Stunden und erhoben uns mit der Sonne. Die Lastkamele, von der verwünschten Räude in Wedsch geschwächt, kamen nur langsam weiter und hielten sich ständig mit Grasen auf. Wir Reiter hätten auf unseren flinken Tieren leicht vorauseilen können, aber Auda, der den Marsch regelte, untersagte es im Hinblick auf die noch bevorstehenden Schwierigkeiten, für die unsere Tiere alle jetzt klug gesparte Kraft brauchen würden. So trotteten wir denn gelassen sechs Stunden lang dahin in sengender Hitze. Die Sommersonne in diesem Lande des weißen Sandes jenseits Wedsch blendete die Augen grausam, und der nackte Fels zu beiden Seiten des Weges strahlte Glutwellen aus, die uns Schwindel und Kopfschmerzen verursachten. Gegen elf Uhr vormittags waren wir daher erschöpft und weigerten uns, nach Audas Wunsch noch weiter zu marschieren. So machten wir halt und ruhten unter wenigen Bäumen bis gegen halb drei. Mittels doppeltgelegter Decken, die wir an überhängenden Zweigen der Dornbüsche befestigten, suchte sich jeder einen einigermaßen dichten, wenn auch immer wieder entweichenden Schatten zu verschaffen.

Nach der Rast ritten wir drei weitere, etwas angenehmere Stunden über flachen Boden, der sich allmählich zum Hang eines breiten Tales senkte; und dann erblickten wir gerade vor uns den grünen Garten von El Kurr. Weiße Zelte leuchteten zwischen den Palmen. Als wir absaßen, kamen Rasim und Abdulla, Mahmud, der Doktor, und selbst Maulud, der alte Kavallerist, heraus, um uns zu begrüßen. Sie teilten uns mit, daß Scherif Scharraf, den wir in Abu Raga, unserer nächsten Station, treffen wollten, für wenige Tage auf einer Streife unterwegs sei. Also hatten wir keine Eile und machten Feiertag für zwei Nächte in El Kurr.

Mir war das lieb, denn ich litt wieder, wie in Wadi Ajis, unter Ausschlag und Fieber, sogar noch heftiger als damals; jeder Reisetag war eine Qual für mich und jede Rast eine beglückende Erholung nach der Willensanspannung, mich weiterzuschleppen – und eine Gelegenheit, meinen knappen Vorrat an Geduld aufzufüllen. So lag ich still und genoß den Frieden, das schöne Grün und die Kühle des Wassers, die diesen Garten inmitten der Wüste zu einem wunderbaren, wie verzauberten Ort machten, so als ob man schon früher einmal hier geweilt hätte. Oder kam es daher, weil wir so lange schon kein junges Frühlingsgras mehr gesehen hatten?

Der Bewohner von Kurr, der einzige seßhafte Belluwi, der eisgraue Dhaif-Allah, arbeitete Tag und Nacht mit seinen Töchtern in dem kleinen, terrassenförmigen Gemüsegarten, den er von seinen Vorfahren ererbt hatte. Er war in einer Ausbuchtung am Südhang des Flußtales angelegt und vor der Winterflut durch eine breite Mauer aus Rohsteinen geschützt. In der Mitte lag ein Brunnen mit klarem, kaltem Wasser, und über ihm ragte ein Ziehbalken aus verwittertem Holz. Hier schöpfte Dhaif-Allah morgens und abends, wenn die Sonne tief stand, große Kübel mit Wasser und goß sie in Tonrinnen, die, den Garten durchziehend, bis zu den Wurzeln der Bäume führten. Er zog niedrige Palmen, um mit ihren breiten Blättern die Pflanzen gegen die Sonne zu schützen, die sonst in dem weitoffenen Tal alles Grün ausgedörrt hätte; hauptsächlich pflanzte er Tabak (seine ergiebigste Ernte) und in kleineren Mengen Bohnen und Gurken, Melonen und Auberginen, je nach der Jahreszeit.

Der alte Mann lebte mit seinen Frauen in einer Reisighütte unter den Bäumen. Unsere Politik schätzte er wenig – ob man denn, so fragte er, nach all den Plagen und blutigen Opfern etwa mehr zu essen und zu trinken haben würde? Wir suchten ihm sänftiglich beizukommen mit Begriffen wie Unabhängigkeit und mit der Freiheitsidee: Arabien den Arabern. »Ist nicht auch dieser Garten, Dhaif-Allah, ganz dein eigen?« Gleichwohl konnte er nicht begreifen, sondern richtete sich auf, schlug stolz an seine Brust und rief: »Ich – ich bin El Kurr.«

Er war ein freier Mann, brauchte nichts für andere und für sich nur seinen Garten. Ihm leuchtete nicht ein, warum nicht auch andere in solcher Kargheit sich reich fühlen sollten. Von seinem durchschwitzten Filzkäppchen, das im Lauf der Zeiten die Farbe und Zähigkeit von Leder angenommen hatte, rühmte er, daß es schon seinem Großvater gehört habe, der es vor hundert Jahren, als Ibrahim-Pascha in Wedsch weilte, gekauft hatte. An sonstigen Kleidungsstücken brauchte er nur ein Hemd; alljährlich kaufte er, zusammen mit seinem Tabak, das Hemd für das kommende Jahr, dazu je eins für seine Töchter und eins für das alte Weib – seine Frau.

Aber wir waren ihm dankbar, denn abgesehen davon, daß er uns Sklaven des Magens ein rühmliches Beispiel von Genügsamkeit gab, verkaufte er uns auch Gemüse; und mitsamt den erbeuteten Konserven Rasims, Abdullas und Mahmuds hatten wir somit reichlich zu leben. Jeden Abend bei den Feuern hatten wir Musik, nicht das monotone, krächzige Rohren der Stämme oder die aufreizenden Gesänge der Ageyl, sondern die Falsett-Vierteltöne und Triller der städtischen Syrier. Maulud hatte Musiker in seiner Abteilung, und jeden Abend wurden ein paar verschämte Krieger herangeholt, die Gitarre spielten und Kaffeehausschlager aus Damaskus oder Liebeslieder aus ihren Heimatdörfern vortrugen. In Abdullas Zelt, wo ich wohnte, klang die Musik, gedämpft durch die Entfernung, das leichte Rauschen des ausströmenden Wassers und das Laub der Bäume, angenehm einlullend ins Ohr.

Oftmals auch holte Nesib el Bekri seine Niederschriften der Lieder Selims el Dschesairi hervor, jenes wilden, bedenkenlosen Revolutionärs, der in seinen Mußestunden zwischen den Feldzügen und den blutigen Aufträgen, die er für seine Herren, die Jungtürken, ausführte, Verse in der Sprache des Volkes gedichtet hatte: über die Freiheit, die seiner erblühen werde. Nesib und seine Freunde sangen diese Lieder in einem schwingenden Rhythmus, all ihre Hoffnung und ihre Leidenschaft in die Worte legend, und die fahlen, vom Schweiß feuchten Gesichter dieser Damaszener schimmerten groß wie Monde in dem Schein des Feuers. Im ganzen Lager blieb es totenstill, bis die letzte Strophe verklang, und ein sehnsüchtig seufzendes Echo folgte jedesmal der letzten Note. Nur der alte Dhaif-Allah stand unentwegt Wasser schöpfend am Brunnen, überzeugt, daß noch jemand kommen und von seinem Grünzeug kaufen werde, sobald wir mit unseren Torheiten zu Ende waren.


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