Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein blinder Neger stand im Schnee vor dem Bahnhof; seine Drehorgel war auf einen Kinderwagen montiert, und ihr Klang begrüßte den Doktor Becker, der gekommen war, um die einheitlichst spezialisierte Stadt Amerikas kennenzulernen.
Noch an zwei anderen blinden Bettlern, sie saßen im Schnee, und ein feuchter Novemberwind pfiff, kam der Doktor Becker vorüber, und er dachte vielleicht, daß die Angabe, die ganze Bevölkerung sei in ein und demselben Gewerbe tätig, nicht ganz richtig sein könne. Denn was haben zwei blinde Bettler und ein blinder Drehorgelspieler mit der Hutindustrie zu tun?
Nichts als Hüte, Strohhüte und Filzhüte, Damenhüte und Herrenhüte, weiche Hüte und harte macht diese Stadt. Millionen im Jahr, 75 Prozent des amerikanischen Bedarfs.
Diese Stadt heißt Danbury, liegt auf der Südwestspitze des Staates Connecticut und ist nicht berühmt geworden durch ihren einzigen berühmten Sohn, obwohl dieser das Berühmtmachen als Beruf betrieb, also nicht durch den Marktschreier Barnum, sondern durch eine merkwürdige Entscheidung des Obersten Bundesgerichtes in Washington, gefällt im »Danbury Hatter Case«.
Eine Hutfabrik hatte nämlich die Gewerkschaft auf Ersatz des durch eine Streikbewegung erlittenen Schadens verklagt und sogar dessen dreifache Summe, 78 000 Dollar, als Wiedergutmachung verlangt. Dabei stützte sich die Firma auf den Sherman-Act, der ursprünglich gegen die überwuchernden Preisdiktate der Trusts gerichtet war. Bald nach Erlaß dieses Gesetzes holte die Industrie zum Gegenstoß aus, indem sie die Gewerkschaften als Trusts und ihre Lohnforderungen als Preisbestimmungen hinzustellen versuchte. In einem ausdrücklichen Zusatzantrag zur Verfassung erhielten die Trusts zur Antwort, daß der Arbeiter keine Ware und sein Lohn nicht als Preis anzusehen sei. Trotzdem entschied der U. S. Supreme Court, im Fall der Hutfabrik von Danbury, die Gewerkschaften hätten Entschädigung für den Streik zu zahlen.
Die Bewohner der Stadt arbeiten in den Hutfabriken, oder sie sind in den Webereien damit beschäftigt, die Bänder und das Futter für die Hüte zu erzeugen, und mit der Bearbeitung der Hasenfelle, mit der Herstellung von Holzformen für die werdenden und von Kartonagen und Kisten für die fertigen Hüte. Der Rest sind Invaliden der Arbeit, und zu ihnen gehörten wohl die Bettler, die der Doktor Becker getroffen.
Aus dem Hafen von New York kommt das Rohmaterial in Lastautos hierher, blutige Felle von Millionen Hasen, in Australien und Rußland erschossen. Sie müssen zuerst in den Fellfabriken, den fur shops, gewaschen und gereinigt werden, mit Quecksilbernitrat gebeizt und über verschlungenen, rotierenden Dampfröhren getrocknet und geweicht.
Das ist eine giftige Tätigkeit, und wenn man auch die Bürste in der mit dem Gummihandschuh geschützten Hand hält, so bleibt ein täglich achtstündiges Hantieren mit zwölfgradigem Quecksilbernitrat nicht ohne Folgen auf den Organismus. Außer den drei Blinden, die dem Doktor Becker auf dem Weg vom Bahnhof begegnet waren, erblickte er in den Straßen Danburys noch einige »Schüttler«, konvulsivisch zuckende Menschen, wie man sie während des Krieges in Europa sah – hierorts Opfer der Beize.
Seit einigen Jahren werden zu der Arbeit in den Räumen, wo tote Hasen und lebende Menschen gleichermaßen den Stickstoff- und Quecksilberdämpfen ausgesetzt sind, fast ausschließlich Syrer verwendet. Dergleichen vernichtende Dienste leistete einst der Sklave aus Afrika oder aus Australien, dann kam der widerstandslose, rechtlose Einwanderer aus Europa, und jetzt muß der Asiate daran glauben – so gut versteht es Amerika, sich aus allen Weltteilen seine Arbeitskräfte zu holen!
Dem toten Hasen, dem man schon das Fell über die Ohren zog, ehe es nach Amerika verfrachtet wurde, dem kann es gleich sein, was mit ihm geschieht. Er zittert nicht vor der Beize und nicht nach der Beize, seine Löffel und sein Schwanz sind nicht verwendbar, weshalb sie ihm ritsch, ratsch abgeschnitten werden.
Aus dem Balg wird das Haar entfernt, und siehe, da es von der Maschine herausgeschält wird, erweist sich der Haarboden, der alles zusammenhielt, als ein fadenscheiniges, strohdürres Netz, gerade noch gut genug, Tischlerleim daraus zu kochen. Was bleibt, ist Filz, er rollt per Laufband aus der Maschine zu kundigen Frauenhänden, die die letzten Hartbestandteile entfernen. In Fünf-Pfund-Paketen geht es hinüber in die Hutfabriken.
Die Huterzeugung in Connecticut ist erbeingesessen, sie hat schon in der Unabhängigkeitsbewegung Amerikas eine Rolle gespielt: das britische Parlament hatte 1750 zugunsten der englischen Industrie das Verbot erlassen, Hüte oder Wollwaren in einer Kolonie herzustellen oder gar in eine Nachbarkolonie auszuführen. Das war eines der ersten Motive zum Wunsch nach »Unabhängigkeit und Freiheit«, aber erst als England den Teezoll herabsetzte, brach die »Revolution« aus: der Chef der amerikanischen Teeschmuggler und Teeschieber, John Hancock, überfiel mit einer Bande vermummter Männer nächtlicherweile die im Bostoner Hafen ankernden Schiffe Englands und versenkte deren Teeladungen ins Meer, damit er seine eigenen Vorräte verkaufen und sogar zu noch besseren Preisen losschlagen könne. Als der Urheber dieses Konkurrenzmanövers vor Gericht erscheinen sollte, kam es zum ersten bewaffneten Zusammenstoß, die britische Miliz von Lexington wurde vertrieben, John Hancock war frei, und jedes Schulkind kennt ihn heute als Freiheitshelden.
Die Industrien, die die Aufstandsbewegung aus Selbsterhaltungstrieb unterstützen mußten, waren vor allem die durch die Zuckerzölle geschädigten Schnapsbrennereien und die durch die britische Bill gefährdeten Hutmanufakturen. (Aber der große John Jakob Astor, selbst Lieferant der Huterzeuger von Connecticut, verriet die amerikanische Sache, um seine Pelze vor der Beschlagnahme durch die Engländer zu retten.)
So alt ist also das Gewerbe, und schon mehr als hundert Jahre wird es in den gleichen Räumen betrieben – wenigstens sehen die Fabriken von Danbury so aus. Durchweg Holzbauten, die Latten schräg und wirr aneinandergenagelt, das Ganze rostrot angestrichen.
Der Doktor Becker glaubt, in Quetschen geraten zu sein, winzige Kammern oder lichtlose Säle findet er, Staub und Haare überall, schlechte Ventilation, schlechten Abgang der Dämpfe. Die Menschen arbeiten entweder in ärmellosen Leibchen oder – in den nassen Räumen – angetan mit Schaftstiefeln und Gummischürzen; in vielen Betrieben stehen sie mit kurzen Hosen über langen, zerfetzten Unterhosen da, wie Lumpenproletarier.
Nur Mallory, der größte Huterzeuger der Welt, hat ein modernes Fabrikgebäude. Auch ist seine Belegschaft bei einer Altersversicherung eingekauft. Wer austritt, bekommt die Police mit, braucht nichts zu vergüten, ist weiterversichert, wenn er weiter die Prämien einzahlt. Sehr loyal, nicht? Aber da man bei einem Konflikt oder bei einer Arbeitsniederlegung gewöhnlich noch keine neue Stellung in der Tasche hat und man die Prämien von dem neuen, vielleicht schlechteren Lohn selbst zahlen müßte, so ist diese Arbeiterfürsorge nichts anderes denn eine Aufhebung der Freizügigkeit.
Die anderen Unternehmer von Danbury haben nur ihre Fabriken versichert, sie scheinen zu kalkulieren, daß ein Abbrennen der schlecht gebauten und gut versicherten Holzbauten immer noch lukrativer ist, als ein neues steinernes Haus zu errichten.
Wenn man, wie es der Doktor Becker tat, einen ganzen Tag lang durch River Street und Allen Street wandert und in die Werkstätten eintritt . . .
(Man kann in Amerika fast in jeden Betrieb hineingehen, alles ansehen, sich vom Arbeiter die Leistungen erklären lassen, niemand kümmert sich darum. In Deutschland würde der Besuch eines Journalisten in der AEG den Verdacht wachrufen, der junge Mann wolle morgen eine Elektrizitätsgesellschaft mit billigeren Bezugsbedingungen eröffnen. Ein kleiner Erzeuger von Schaufensterpuppen in der Rosenthaler Straße begann einst zu schlottern vor einem Reporter, der durch eine Bemerkung etwas Fachkenntnis verriet: »Um Gottes willen, Sie wollen meine Fabrikgeheimnisse abgucken, um selbst ein solches Unternehmen zu gründen!«)
. . . wenn man also, wie es der Doktor Becker tat, die Betriebe von Danbury besichtigt, so fällt einem vor allem auf, wieviel Import darin steckt. Die Spezialmaschinen sind ausnahmslos aus Deutschland, die Panamahüte und die Leghornstrohhüte kommen aus Mantua und das Reisstroh aus Modena oder aus der Schweiz, die Arbeiter in der Beize sind aus dem Syrerland eingeführt, die übrigen Italiener, Schweizer oder Deutsche.
Schon in der dritten Generation leben die Deutschen hier, sie haben einen Unterstützungsverein »Concordia« mit eigenem Haus und eigener Bierbrauerei, sind sehr schwarzweißrot gesinnt, und in ihrem Vereinslokal hängt stolz eine Ehrentafel, »Honor Roll«, auf der verzeichnet ist, wieviel Mitglieder im Weltkrieg den Heldentod gestorben sind – gegen Deutschland, was wohl nebensächlich ist. Hauptsache: der Heldentod.
Nicht aus dem Ausland, sondern aus Amerika stammen in Danbury nur die Verwaltungsräte der Aktiengesellschaften und die Einzelbesitzer der Fabriken.
Kalt und feucht ist der Novembertag, an dem der Doktor Becker in Danburys Mauern weilt, und da man nach eingenommener Mahlzeit den Platz im Restaurant sofort räumen muß, da man ferner nicht stundenlang an der Bar des Drugstore sitzen kann und Kaffeehaus ein unbekannter Begriff ist, so muß sich der Doktor Becker dadurch erwärmen, daß er von neuem in den Fabriken umhergeht und die Technologie des Hütemachens, die er schon aus Europa kennt und heute vormittags zur Genüge studiert hat, noch genauer erlernt.
Es sind nicht weniger als sechsunddreißig Prozeduren – jede an einer eigenen Maschine und in einer eigenen Werkstatt durchgeführt –, denen sich ein Männerhut zu unterwerfen hat, bevor er fertig ist und genauso aussieht wie alle anderen Millionen Hüte.
So wie die Hasenhaare den im luftleeren Raum rotierenden drahtumflochtenen Holzkegeln angeflogen sind, könnte man den Filz schwerlich auf den Kopf stülpen. Erstens würde diese Clownmütze nur einem Wasserkopf passen, zweitens ist sie dünn, feucht und schütter. Einiges müßte man noch mit ihr machen, sie mit Weinhefe und Weinstein schränken und vielleicht walken und drücken, je nach der Kopfgröße.
Aber sechsunddreißig Prozeduren! An sechsunddreißig komplizierten Apparaten wird vollzogen das Waschen, das Trocknen, das Scheren, das Schleifen, das Plätten, das Glänzen, das Färben, das Bürsten, das Steifen, das Staffieren, das Aufnähen von Schleifen und Bändern (das eine ganze Armee von mindestens siebzigjährigen Frauen besorgt), das Einnähen des Schweißleders, das Stempeln der Firmenmarke.
An einem Tisch sieht der Doktor Becker einen vorne bedruckten und hinten gummierten Bogen in kleine Quadrate zerschneiden und je eines der Zettelchen in je einen fertigen Hut kleben. Das ist das Label, die Vignette, die besagt, daß das Fabrikat von Mitgliedern der »United Hatters of North America«, von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern erzeugt ist; Union made.
Man findet diese Schutzmarke in vielen Warenpackungen, in Schuhen (Boot and Shoe Workers' Union Stamp), in Zigaretten (Union Label of Tobacco Workers), in Bucheinbänden (Bookbinders' Union Label), in Anzügen (Label of the Journeymen Tailors) und so weiter. Sie kennzeichnen die ganze Naivität des amerikanischen Lebens, das immer an eine Panazee glaubt und bald in der Gesundbeterei, bald in der Relativitätstheorie Einsteins, bald in der Prohibition dieses Allheilmittel sucht. Das Label ist auch eines.
Es soll von San Francisco aus seinen Weg in die Waren Amerikas angetreten haben. Dort drückten die in die Gewerkschaft nicht aufgenommenen chinesischen Zigarettenarbeiter die Löhne. Jene Unternehmen, welche sich an Gewerkschaftstarife halten mußten, sprengten das Gerücht aus, die in den Konkurrenzbetrieben tätigen Chinesen seien schmutzig und die von ihnen hergestellten Zigarettensorten unhygienisch. Um ihre Waren von den »unhygienischen« zu unterscheiden, legten sie ihren Schachteln das Label bei. Später nahmen die anderen Gewerkschaften dieses System auf: die Marke möge dem Konsumenten zeigen, daß der Hersteller kein Ausbeuter sei, sondern Gewerkschaftslöhne zahle.
Dieser kindliche Appell an ein soziales Verständnis des Käufers, des amerikanischen Käufers noch dazu! Dem ist es natürlich nur wichtig, seine Ware billig zu bekommen. Fände der Zettel überhaupt Beachtung, so wäre es eine negative, denn der Bürger haßt, wenn er eine Arbeit zu vergeben hat, nichts so sehr wie die Unions, obwohl sie zumeist eher Zünfte als Gewerkschaften sind. Trotzdem bleibt dieses Warenzeichen, an dessen Lieferung der Fachverband allerdings jährlich ein paar Dollars verdient.
Das Einkleben des Labels ist das einzige, was der Doktor Becker nicht aus der europäischen Hutfabrikation kennt, und das Einkleben des Labels ist, nach dem Gesagten, nicht imstande, seine Enttäuschung herabzumindern. Jawohl, der Doktor Becker ist sehr enttäuscht. So gut kann das Europa auch. Er hatte wahrscheinlich gedacht, es gäbe hier eine Maschine, die ohne viel Federlesens und ohne Gefährdung des menschlichen Organismus die Hüte des Standards erzeugt. Eine traditionelle Industrie in einer auf Hüte spezialisierten Stadt Nordamerikas – das hatte sich der Doktor Becker als etwas Wunderbares, ein Paradies der Technik und des Arbeiters vorgestellt und deshalb den Entschluß gefaßt, nach Danbury zu fahren. Jetzt denkt er anders darüber und begibt sich zum Bahnhof, an den beiden, jedenfalls bei der Beize erblindeten Bettlern und an dem schwarzen Drehorgelspieler vorbei. Diesem legt er ein Zehn-Cent-Stück in den Hut, einen Hut, der, das Einkleben der Gewerkschaftsmarke mit eingerechnet, sechsunddreißig Prozeduren durchgemacht hat, wie alle anderen Hüte.