Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Technische Wunderwerke der Wunderstadt Chicago

Der Doktor Becker gerät zum Beispiel in die Unfallstation der Western Electric, einer Fabrik zur Herstellung von Telefonapparaten.

Auf zwanzig Stühlen sitzen blutende Arbeiter, dem einen wird der Kopf rasiert, dem andern eine Kniewunde gewaschen, viele haben die Finger verletzt, auf einem der Operationstische liegt ein Mann mit gebrochenem Arm.

»Some hundred«, antwortet eine der Pflegeschwestern auf die Frage des Doktor Becker, wieviel Hilfeleistungen täglich notwendig sind.

Sie erschrecken? Oh, wenn es in dieser Fabrik 340 Unfälle täglich gäbe, so wäre das erst ein Prozent, denn die Western Electric beschäftigt hier 34 000 Arbeiter, und die Belegschaft wechselt so oft, daß die Wahrscheinlichkeit gering ist, jemand könne nach und nach alle zehn Finger verlieren oder sich alle vier Gliedmaßen brechen.

 

Die Stockyards, die weltberühmten Schlachthäuser, dürfen besichtigt werden; überzeugen Sie sich, meine Herrschaften, daß unser Unternehmen die in dem Roman »Jungle« geschilderten Unappetitlichkeiten beseitigt hat.

Nicht beseitigt wurden die Arbeitsverhältnisse . . . Upton Sinclair hatte auf das Herz Amerikas gezielt und den Magen getroffen.

Zum Gebrauch des Fremdenführers hat die Firma ein geheimes Buch herausgegeben, darin im Wortlaut verzeichnet steht, was auf unbequeme Fragen zu erwidern ist. Diese Fragen und Antworten muß er auswendig lernen und darf das Buch niemandem zeigen. Der Doktor Becker notiert daraus:

FRAGE: Wie können die Mädchen in den Verpackungsräumen auf die Dauer die Schnelligkeit ihrer Hantierung aushalten?

ANTWORT: Die Mädchen lieben es, vor den Besuchern ihre Schnelligkeit zur Schau zu stellen. Wir raten ihnen ab (discourage) von jeder übermäßigen Hast.

Also, da haben wir's, ruft der Doktor Becker aus, nachdem er diese Stelle des Geheimbüchleins gelesen hat. Eitle Geschöpfe alle miteinander, diese Chicagoer Arbeitermädchen! Den ganzen Tag tun sie ihre Arbeit lässig, aber wenn ein Besucher kommt, da jagen ihre Beine das Trittbrett der Maschine wie Sechstagefahrer, ihre rechte Hand macht einen Griff, die linke einen anderen, in einem Tempo, daß den Besucher Schwindel befällt. Ja, Schwindel! Ich, der Doktor Becker, habe es schwarz auf weiß gesehen, gelesen, die Firma verrät den Bluff, sie selbst beschuldigt ihre Arbeiterinnen der Vorspiegelung falscher Tatsachen! Haha, mich kann man nicht foppen! Die Verpackerinnen Chicagos nehmen mich so wichtig, daß sie alle, in den Zeitungsfalzereien, in den Postversandhäusern, in der Elgin-Uhrenfabrik, in der Harvester Comp, zur Herstellung landwirtschaftlicher Maschinen, mit wahnsinniger, tödlicher Eile arbeiten, wenn ich mich nähere – nur um mir zu imponieren.

Aber eine kleine Frage möchte der Doktor Becker stellen. Wie ist es mit dem laufenden Band, Mr. Fremdenführer? Wieso weiß das Laufband, wann und wo Fremde vorüberkommen? Wieso verfällt das Laufband eben dann in einen solchen Amoklauf, daß die Arbeiterin mit ihrer – gewiß, gewiß! – vorgespiegelten Hast gerade noch zurechtkommt, ihre Handleistungen zu machen, an die ihre Nachbarin anknüpfen muß?

FRAGE: Wie können es die Arbeiter in dieser Atmosphäre von Blutgeruch, Exkrementen und Hitze beziehungsweise in der Temperatur der Kühlräume aushalten?

ANTWORT: Sie haben eine eigene Kleidung, welche die Poren schützt.

Nichts von dieser Kleidung merkt der Doktor Becker. Er sieht, daß sie angezogen sind wie Metzger überall, auch dort, wo die Arbeit nicht auf die Schlachtung von 750 Schweinen oder 250 Rindern per Stunde oder auf deren Entleerung und Zerteilung im Tempo des Rollbandes eingerichtet ist.

42½ Cent per Stunde beträgt der Normallohn bei vierzigstündiger Arbeitszeit in der Woche; Überstunden werden im Stücklohn bezahlt. Siebzehn Dollar die Woche, achtundsechzig Dollar im Monat, ein mehr als magerer Lohn im fettesten Bezirk Amerikas!

Die Arbeiter sind zumeist Polen und Neger. Seitdem man aber mit den Negern, die immerhin die Sprache des Landes sprechen und gewisse Möglichkeiten des organisatorischen Zusammenschlusses haben, in Chicago nicht mehr so umspringen kann wie auf den Baumwollplantagen des Südens (siebenundzwanzig Cent Tageslohn!), ersetzt man sie durch Waggonladungen von Mexikanern. Agenten durchfahren Mexiko, um Arbeiter anzuheuern und mitsamt ihren Familien nach Nordamerika zu verfrachten, wohin Angehörige anderer Völkerstämme natürlich nicht so leicht einzuwandern vermögen. Je mehrköpfiger die Familien der Mexikaner, desto besser, denn ihre Freizügigkeit ist dadurch vollständig beschränkt, sie sind willenlos ausgeliefert. Der Mexikaner ist es heute, der dazu verurteilt ist, am ärgsten ausgebeutet zu werden und die Löhne am tiefsten zu drücken.

 

Außer den Fordschen Werkstätten in Detroit und dem Beleuchtungswerk der General Electric Co. in Schenectady, N. Y., gibt es wohl auf dem Erdball keine titanischeren Industrieanlagen als in Chicago. Diese blutjunge Stadt, immerfort wächst sie, immerfort wächst sie. Um siebzigtausend Menschen nimmt jährlich die Bevölkerung zu. Der Michigansee ist auf ungeheuren Strecken zugeschüttet worden, damit man neuen Boden gewinne für Autostraßen, für die Weltausstellung von 1933, für ein Stadion, für ein Aquarium. Früher gingen die Bewohner der Ostseite zur Sommerzeit im Badeanzug aus ihren Häusern zum See hinunter; jetzt müssen sie sich – zu Zehntausenden – in Badeanzügen in die Straßenbahn oder in den Autobus setzen, um zum Ufer zu kommen.

Eine prachtvolle, leuchtende Straße entlang des Sees ist der Michigan Boulevard, von Parisfahrern auch »Boul Mich« genannt. Hier und auf dem untertunnelierten Wacker Drive schießen die Wolkenkratzer nur so in die Höhe! Und dennoch ist Chicago, wo die größten Industrien, wo der ganze Getreidehandel, der Fleischexport, alle Postversandhäuser und vor allem der weltumspannende Alkoholschmuggel ihre Zentren haben, eine arme Stadt.

Die Milliardäre residieren während der Herbstsaison in New York, im Sommer an der Küste von Florida und im Winter in Beverly Hills, California. Manchmal sind sie in Nizza.

In Chicago leben wenige Großkapitalisten, denn trotz Michigansee, trotz Badestrand und trotz Boul Mich ist das eine wüste Siedlung voller Rauch, voller Kot, voller Pfützen, voller naßkalter Winde, voller Verbrecher, voller Armut.

 

Wolkenkratzer lassen sich photographieren und schildern. Die Holzhäuser Chicagos lassen sich nicht photographieren und nicht schildern. Sie spotten jedes Bildes. In Europa gibt es kaum etwas, was ihnen an Verfallenheit, Morschheit, Jämmerlichkeit ähnelt, die Erdhöhlen Armeniens und die Lehmhütten Bessarabiens sind besser, denn sie bieten wenigstens Schutz gegen Frost und Regen.

Es genügt, zwei oder drei dieser Wohnbuden einer Weltstadt von innen anzusehen – eine gleicht der andern. So winzig sie ist, enthält sie doch vier oder fünf »Wohnungen«; für jede verlangt der Hausherr fünfundzwanzig bis dreißig Dollar Monatsmiete. Das ist ein enormer Preis, und er wird dadurch herausgeholt, daß in jedem Zimmer vier Schlafstellen von acht Personen benutzt werden, in zwei Schichten. Kinder schlafen in Obstversandkörben oder flachen Kisten, überall sah der Doktor Becker drei oder vier Matratzen oder Schlafkisten nebeneinander. Alle Mieter und Aftermieter benutzen ein gemeinsames Klosett, gewöhnlich im Keller. Manchmal gibt es keine Keller, denn unter dem Haus ist eine der ewigen Pfützen Chicagos; in sie sind Pfähle gerammt, und auf ihnen, zwei Meter hoch, schwebt das Haus in der sumpfigen Luft.

Zwei, drei Minuten, nachdem die Hochbahn den Loup, den Geschäftsbezirk, verlassen hat, saust man schon an diesen primitiv gezimmerten Unterständen vorbei. Je weiter man nach Süden und Westen kommt, desto beklemmender wird es, »back o' the yards«, hinter den Schlachthöfen, in Cicero, in Chicago Heights, in Valley, in den Bezirken, wo alltäglich ein Staatsanwalt oder ein anderer reicher Bootlegger ein paar Revolverschüsse in den Körper kriegt.

Da unten ist auch noch keine Kanalisation. Und wie die menschlichen Hundehütten durch den Hintergrund der strotzenden Paläste und fünfzigstöckigen Handelstürme erst recht zum himmelschreienden Skandal werden, so wird die sanitäre Vernachlässigung dieser Gebiete in ihrer Ungeheuerlichkeit besonders klar, wenn man die grandiosen Wasserversorgungs- und Bewässerungsanlagen Chicagos kennenlernt.

 

Der Chicago River, der seit Erschaffung der Welt in den Michigansee mündete, wurde plötzlich umgedreht! Denn aus dem See holt Chicago Nutzwasser und Trinkwasser, und das würde verunreinigt durch den Schmutz eines die Stadt durchfließenden Stromes. Früher störte das wenig, man benutzte den See als Trinkeier und Klosettbecken und Badewanne zugleich. Bis die Zahl der Sterbefälle an Typhus allzu hoch stieg. Viele Sterbefälle! Wißt ihr, was das bedeutet? Damit verminderte sich doch die Chance für das von ganz Chicago fieberhaft erstrebte Ziel: New Yorks Bevölkerungsziffer einzuholen.

Damals ward der Fluß auf seine alten Tage zum Wechsel seiner Richtung gezwungen, seither läuft er von hinten nach vorn.

Auch jetzt kann man nicht einfach die Uferwellen des Sees trinken, nicht vom Rand einer schmutzig-rauchig-sumpfigen Großstadt das Trinkwasser beziehen. Im See, kilometerweit vom Strand entfernt, mußte man Wassereinlauftürme bauen: unter dem felsigen Grund des Wassers wurden Tunnels gehackt – eine Million Dollar pro Meile erforderte die Herstellung –, und sie leiten neue Ströme, mächtigere als der Chicago River, unterirdische, in die zwölf Pumpstationen der Stadt.

Diese Wasserwerke. Die Wm. Haie Thompson Pumping Station, 50. Straße und Western Avenue, hat nahezu vier Millionen Dollar gekostet. Die Anlage besichtigend, bereut der Doktor Becker, zum erstenmal seit zwanzig Jahren, dem Ingenieurberuf entlaufen zu sein. Vier Milliarden Liter werden täglich in alle Teile der Stadt gepumpt, auf jeden Kopf der Bevölkerung kommen sage und schreibe 1100 Liter täglich, doppelt soviel als in New York, fast neunmal soviel als in Berlin, wo der einzelne 133 Liter konsumieren kann. Desinfiziert wird das Seewasser durch Chlorgas und solcherart allerdings getrübt: ein Projekt sieht Filteranlagen vor. Bis jetzt ist das Wasser Chicagos mit sechseinhalb Cent per tausend Gallonen (1 Kubikmeter ist 264 Gallonen, 1 Gallone = 3,8 Liter = 0,0038 Kubikmeter) das billigste der Welt, in manchen Großstädten stellt es sich fünfmal so teuer.

 

Industrieunternehmungen, wie etwa die Schlachthöfe, haben Abwässer, die denen von mehr als einer Million Menschen entsprechen, und die Imhoffbecken auf den Rieselfeldern sehen wie Öltanks aus, soviel Rückstände der Automobile ergossen sich in sie. Alles wird in den umgedrehten Fluß geleitet und durch Kanäle in den Mississippi.

Wunder der Wunder, solche Bauten erstanden, obwohl ein unberechenbarer Großteil der Steuergelder in die Hände der Korruption fließt und im letzten Jahr von einer Millionenbewilligung für die Sanitätsanlagen genau hundert Prozent unterschlagen und unter den Maßgebenden aufgeteilt wurden.

Als Goethe starb, als Bismarck geboren wurde, wehte hier feuchter Wind über Präriegras, keine Hütte stand. Vor neunzig Jahren war hier ein stilles Uferdörfchen, vor sechzig eine Fleischbank und ein Umschlagplatz für Getreide. Heute jagt Chicago, getreu seinem Wahlspruch: »I act, I move, I push«, dem Weltrekord zu. Das heißt: drei Millionen Menschen, weitaus in der Mehrheit unter grauenhaften Arbeits-, Ernährungs-, Wohn-, Geistes- und Moralverhältnissen lebend, handeln, bewegen sich, treiben einander an, damit ein paar Milliardäre von New York, Miami Beach und Florida eine Milliarde mehr einstecken und schließlich eine Stiftung von einer Million machen, für die sie von der ganzen Nation unausgesetzt, unausgesetzt als Genies und Wohltäter gepriesen werden.

 


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