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Ein Auto hat ein anderes leicht angefahren, Kotflügel und Nummerntafel eingedrückt. So etwas geschieht fast täglich und überall. Trotzdem sammeln sich, da es hier – zwischen Union Station und North Western Station – geschah, im Nu einige hundert Personen, um den Schaden zu besehen und in dem Streit der beiden Chauffeure Partei zu ergreifen. Herangeritten kommt ein Schutzmann und überblickt, der Schweif seines Pferdes ist kunstvoll geknotet, die Gesamtsituation.
Die Leute, die sich um den Schauplatz des kleinen Autounfalls scharen, empfinden ihn als willkommenes Zwischenspiel ihrer Tätigkeit. Ihre Tätigkeit besteht darin: sich anzustellen, weil sie es nicht sind und es gern sein möchten. Schließlich werden sie abgespeist, aber auch das nicht im Ursinne des Wortes.
Sie hocken auf den Trittbrettern parkender Autos, sie stehen auf dem Trottoir und drängen sich in den Hausfluren, sie überlegen vor dem Schaufenster der Souvenir-Geschäfte, ob sie für ihre letzten zwanzig Cent eine Perlmutterplatte mit der bunten Ansicht eines Chicagoer Wolkenkratzers kaufen und in das europäische Heimatdorf schicken sollen, solcherart die dortige Meinung stärkend, daß sie in Amerika Millionäre geworden seien.
Wartend verbringen sie ihre Tage in Regen und Frost. Zwar sind Sitzgelegenheiten genug da, fast jedes der Geschäftslokale ist als Wartezimmer eingerichtet und mit Bänken versehen, jedoch darf man nicht so ohne weiteres hinein, es sind Arbeitsvermittlungen, Labor offices, Employment agencies. Nur wenn gerade eine Anforderung kommt, werden die Leute von der Straße hereingelassen, die Jüngsten und Stärksten ausgesucht, und die dürfen sich nun auf die Bänke setzen, bis ihre Papiere in Ordnung gebracht bzw. befunden worden sind.
Die anderen schlürfen wieder hinaus in den großen Freilichtwartesaal am Chicago River, und einzige Abwechslung in ihrer Lebensweise ist eben ein Auto, das in ein anderes stößt.
Jede Straßenecke schützen Schutzleute, und außerdem sind die Häuserblocks dieses Distrikts, der selbst offiziös »Slave market« heißt, der Obhut von Polizeikavalleristen mit kunstvoll verknoteten Roßschweifen anvertraut.
Der angrenzende Straßenzug besteht aus Elendenquartieren. Abgebröckeltes oder verfallenes Gemäuer, morsches oder verfaultes Bretterwerk sind die Fronten, doch verschwinden sie hinter den eisernen, aus den Fenstern auf die Straße führenden Feuertreppen. Winzige Zimmer dienen als Massenquartiere; man kann sich zum Schlaf »hinschmeißen«, »flop«.
Auch hier in Floptown sind die Bürgersteige von umherstehenden Männern bevölkert. Von solchen, die nicht mehr nach Canal Street, auf den Sklavenmarkt gehen, bereits die Hoffnung begraben haben, Arbeit zu finden.
Anderseits kommt von Canal Street nach Floptown nur, wer noch ein Hemd hat und fünf Cent und die Eitelkeit, es waschen zu lassen. Man sieht ihn in der »cut rate laundry« sitzen und mit nacktem Oberkörper warten, bis der Chinese das Hemd eingeweicht, eingeseift, ausgewrungen, getrocknet, gerollt und geplättet hat.
Die Autochthonen lassen auf der Straße ihre Zähne klappern. Wohl dem, der wenigstens einen Mantel hat, wenn auch nur einen, dem man's ansieht, daß er so oft den Beruf gewechselt hat wie sein Insasse: der Mantel hat schon als Leintuch gedient, als Kopfpolster, als Decke, als Sack und als Packpapier.
Kirchenmissionen, Heilsarmee und Hobo College, die Landstreicheruniversität Dr. Benno Reitmanns, amtieren hier inmitten des Wohnbezirks ihrer Kunden.
Das Haus 558 De Koven Street steht auf lokalgeschichtlichem Boden. Am 18. Oktober 1871, eines Sonntags, um neun Uhr abends, ging die damalige Besitzerin dieses Hauses, Mrs. O'Leary, in den Stall, da eine bei ihren Untermietern versammelte Geburtstagsgesellschaft Milch brauchte. Die Kuh, wohl wütend darüber, noch zu nachtschlafender Zeit ausgenützt zu werden, versetzte der neben sie hingestellten Petroleumlampe einen Fußtritt, und im Nu brannte der Stall lichterloh.
Schreiend rannte Mrs. O'Leary auf die Straße; bevor jedoch Hilfe kam, hatte der Wind die Flammen auf die Dachstühle der Nachbarhäuser getrieben und von dort auf deren Nachbarhäuser und so fort und so fort, bis ganz Chicago in hellem Feuer stand. Erst am Dienstag hielt der umhertollende Wind erhitzt inne. Siebzehntausend Häuser, hölzerne und backsteinerne, waren niedergebrannt oder eingestürzt; hundertneunzig Millionen Dollar meldete man als Schadenersatz bei den Versicherungsgesellschaften an, die sich daraufhin eilends in Konkurs begaben; 98 000 Personen waren obdachlos, über zweihundert in den Flammen umgekommen, etwa tausend verwundet. Die große behördliche Untersuchung stellte die Schuld der der Frau O'Leary gehörigen Kuh zweifelsfrei fest. Daraufhin wurde das Halten von Vieh innerhalb des Weichbildes von Chicago verboten.
Zur Polizeistation Desplaines Street, einem alten massiven Gebäude, das die hohe Obrigkeit in dem Bezirk der Obrigkeit repräsentiert, führt eine Freitreppe empor. Zu den Zellen und zu dem Saal des Polizeigerichts. Darin wird mit beachtenswerter Strenge und ohne Ansehen der Person jeder Untertan des Reviers verurteilt, der sich des Diebstahls von fünfzig Cent oder des Verbrechens der Trunkenheit schuldig macht.
In der Wachstube hängt ein Tableau mit vergilbten Photos; sie stellen die beim Anarchistenmeeting auf Haymarket am 4. Mai 1886 durch eine Explosion getöteten oder verwundeten Polizisten der von hier aus kommandierten Company A dar. Daß das Dynamit von einem der Lockspitzel geschleudert worden war, die auch nachher mit erstaunlicher Promptheit in den Wohnungen aller mißliebigen Arbeiterführer Sprengstoff und Höllenmaschinen auffanden, vor allem in der Redaktion der deutschen »Arbeiter-Zeitung«, geht aus der ganzen Situation hervor.
Einige Tage vorher hatte die Polizei acht Arbeiter erschossen, weil sie in der Fabrik von Cyrus McCormick, heute International Harvester Comp. Inc., für den Achtstundentag zu agitieren versuchten. Da die Forderung nicht verstummte, entschloß sich Cyrus McCormick, der damals der reichste Mann von Chicago war und den Unterhalt der Bezirkspolizei und des Gerichts offiziell aus seiner Tasche bezahlte, die ganze Arbeiterbewegung für immer zu beseitigen. Dazu bedurfte es aber eines Kapitalverbrechens, und für dieses war das Protestmeeting gegen den Massenmord der richtige Platz. Sollte ein Cyrus nicht imstande sein, etwas Dynamit zu kaufen und es in die Menge werfen zu lassen . . .?
Die des Zusammenhangs mit dem Bombenwurf beschuldigten deutschen Arbeiterführer wurden am 11. November 1887 gehängt, einige endeten im Kerker (Lingg am Tage vor der Hinrichtung) durch Selbstmord oder infolge der Untersuchungsmethode.
Haymarket, nunmehr Commission Row, ist Gemüsemarkt, und die Markthelfer benützten – weniger aus politischen Gründen als aus einem natürlichen Bedürfnis – das Denkmal des mit ausgestrecktem Arm stürmenden Polizisten als Pissoir, so daß es nach Union Square verlegt werden mußte, auf einen Platz, mit dem es nichts zu tun hat und der ziemlich versteckt ist.
Ein zweites Monument in der Nähe ist dem Chicagoer Bürgermeister und Politiker jener Zeit, Carter H. Harrison, errichtet, der 1893 während der Weltausstellung eines für Chicago natürlichen Todes starb: er wurde erschossen.
Ein zweites Arrangement der gleichen vergilbten Photos schmückt in City Hall das Vorzimmer des Polizeipräsidenten neben etwa fünfzig silbernen Pokalen, die seine Mannschaften bei Baseball- und Fußballwettkämpfen gewannen, Siegestrophäen der Chicagoer Polizei. (Vor etwa Monatsfrist wurden sieben Bootleggers in einer Garage von einer anderen Platte überfallen, auf der Straße an die Wand gestellt und mit einem Maschinengewehr buchstäblich in Fetzen geschossen. Von den Tätern, unter denen sich Polizisten in Uniform befanden, fehlt jede Spur, ihr Bild hängt nicht in der Antichambre von City Hall.)
Wo sich Tailor Street und Halstead kreuzen, ist die Todesecke. Die Vendetta lauert im Immigrantenviertel, wie sie in der Urheimat der Bewohner gelauert hat. Doch wird nicht Blut hier mit Blut vergolten, sondern Alkohol mit Blut. Wer sich durch »high jacking«, durch Abfangen von Schnapstransporten, vergangen hat, muß ausgerottet werden mitsamt seinem ganzen Geschlecht, Kindern und Kindeskindern. Die italienische Familienehre deckt sich auf amerikanischem Boden mit Geschäftsinteresse, der Konkurrenzkampf ist's, der mit Kugel und Blei ritterlich ausgefochten wird.
Schärfer als einst und drüben die Capuletti und die Montecchi scheiden sich die Parteien durch ihre Zugehörigkeit zu den mächtigen Bootlegger-Konzernen, hie Capone, hie Moran.
Dieser Alkoholschmugglerbezirk heißt noch heute Gennaland, obwohl die drei Brüder Genna selig im Herrn entschlafen sind, jeder durch eine andere Revolverkugel; ihre Generäle Enrico Spinola und Oratio Tropea fielen an der Todesecke.
Noch ragt die Residenz der Brüder Genna, der Whisky-Mussolinis, an der Miller Street als zweistöckiges Ziegelhaus titanisch über die Nachbarschaft empor. (Amerika besteht mitnichten bloß aus Wolkenkratzern!) Eine ebensolche Rolle wie das Kommissariat Desplaines Street spielt in der Polizeigeschichte Chicagos der Palazzo Genna, der fünf Straßenausgänge hat.
In dem Prozeß gegen die Bootlegger Scalisi und Anselmi wegen Erschießung von unbo(o)t(legger)mäßigen Detektiven trat zutage, daß das Gennasche Haus das Kommando über die Polizeibesatzung des Bezirks innehatte und daß mehrere hundert Beamte der Maxwell Street-Wachstube allwöchentlich hierherkamen, um ihre Löhnung für Mitarbeit zu beheben. Scalisi und Anselmi wurden, da die Italiener Chicagos eine einflußreiche Wählermasse darstellen, freigesprochen.
Aber gegen die der Korruption öffentlich überführten Beamten ging die Behörde mit der drakonischen Strenge vor, die sie immer und überall gegen bekannt werdende Ungesetzlichkeiten des Polizeipersonals aufbringt: die Schuldigen wurden samt und sonders in ein anderes Revier versetzt.
Von wem das Polizeirevier Maxwell Street jetzt bezahlt wird, weiß die Öffentlichkeit nicht. Jedenfalls brandet um seine Schwelle der Elendenmarkt Chicagos allvormittäglich, am heftigsten sonntags.
Die Käuferschaft besteht aus Polen und Mexikanern, denen zuliebe sehr viel katholische Devotionalien – Heiligenbilder, Gebetbücher, Kruzifixe, Rosenkränze und Medaillen – in den Buden der ausnahmslos jüdischen Verkäufer liegen.
Deren einzige Konkurrenz, die Indianer, schlagen an der Kreuzung der Seitenstraßen die Kriegstrommel. Dazu tanzen sie, die rotbraunen Ureinwohner des Landes, im Federschmuck die heiligen Tänze des Stammes, um Käufer anzulocken für ihre Medizinen.
Maxwell Street, die Straße, deren Verkehr jeden Verkehr verhindert, ist ungepflastert. Das konstatiert man sofort. Und erst an irgendeiner Stelle, wo ein Riß im Erdboden klafft, merkt man, daß darunter Asphalt liegt. Nur ist er durch eine zollhohe Schicht jahrzehntelang festgestampften Straßenkots verdeckt. Die aufgefahrenen Schiebekarren teilen die ohnehin schmale Straße längsseits in drei Straßen, die vierte und fünfte Zeile bilden die Läden in den Häusern, vor denen handgreifliche Anpreiser und Kundenfänger arbeiten.
Die größten und auffallendsten Stände sind die, die das vollständige Inventar von Spiritusbrennereien feilbieten, blitzblanke Kupferkessel, Destillationsapparate, Retorten, Thermometer, Röhren und all das, was zur Fabrikation von Whisky in jeden amerikanischen Haushalt gehört. Hopfen in Säckchen für die heimische Brauerei und Edelhefe zur Herstellung von Bier kriegt man an benachbarten Ständen.
Gebrauchte Stehkragen kosten fünf Cent das Stück, für alte Hemden werden dreißig Cent verlangt, aber der Trödler läßt mit sich reden.
Ungeheure Mengen von Grammophonplatten liegen für fünf Cent per Stück, für fünfzig Cent per Dutzend zum Verkaufe auf. Man ist mißtrauisch – für diesen Spottpreis kann man doch unmöglich eine richtige Platte kaufen? Bereitwillig setzt der Verkäufer jede, die man aussucht, auf sein Grammophon, und siehe da, sie klingt tadellos. Zu Dutzenden kauft man ein und wird erst zu Hause merken, daß die Platten nicht funktionieren: die Edison-Phonographen, zu denen sie passen, werden seit zwanzig Jahren nicht mehr erzeugt.
Der Bücherkarren hat Einheitspreise von fünf und zehn Cent, alte Kalender und alte Magazine, spanische Schundromane und polnische Bibeln und einige zerlesene Schulklassiker, zum Beispiel in jiddischer Sprache einen Goetheschen Roman »Die Zores fün jüngen Werther«.
Je weiter westlich, desto armseliger wird die Gegend, desto zerfallener die Häuser, bis im Verbrecherdorf Cicero der Anblick der Hütten und des Schmutzes geradezu physisch ergreift. Der Westen Chicagos entspricht dem Osten aller anderen Großstädte, er ist das Elendenquartier; Ostgrenze der Stadt ist der Michigansee, an dessen Ufern der Luxus herrscht.
In geschlossenen Bezirken wohnen Polen, 320 000 an der Zahl, 130 000 Italiener, 116 000 Tschechoslowaken, 110 000 Neger, 61 000 Ungarn, 27 000 Griechen, die im »Delta« an der Blue Island Avenue davon leben, daß sie teils Besitzer, teils Stammgäste von Kaffeehäusern sind. Die Kopfzahl der Chinesen beträgt kaum 3000, aber trotzdem befehden sich Stämme und Bünde. Der heftigste dieser Tong-Kriege war der zwischen den Hip Sings und den On Leongs, der unter den Chinesen ganz Amerikas tobte und besonders in Chicago viele Todesopfer forderte.
Man kann es verstehen, daß einem jungen norwegischen Schaffner der Halstead-Straßenbahn nicht behaglich zumute war, als in seinem Waggon eine Gruppe von Irländern, geladen mit Whisky, das Fahrgeld nicht zahlen wollte. Man kann es verstehen, daß der junge norwegische Schaffner unter solchen Umständen diesen Beruf und diese Stadt aufgab, in die Heimat zurückkehrte, sich als Schriftsteller versuchte und Knut Hamsun wurde.
Die Deutschen bilden weder sozial noch geographisch eine geschlossene Masse, es gibt unter ihnen Fabrikanten mit Luxuswohnungen an der Goldküste, Mittelklasse am Lincoln-Park von 1600 bis 2000 North und unterstandslose Aushilfskellner im Hull House. So kommt es, daß zum Beispiel die Italiener politisch weitaus energischer in Erscheinung treten als die zahlenmäßig mehr als doppelt so starken Deutschen. Sie und die Skandinavier stellen übrigens den geringsten Prozentsatz unter den wegen Prohibitionsvergehens verurteilten Ausländern, was beachtlich ist, denn die erste Erhebung gegen die Einschränkung des Alkoholverkaufes war von den Deutschen ausgegangen.
Lang, lang ist's her, aber die Erinnerung an »the Lager Beer Riot« von 1855 lebt heute noch fort. Von der Nordseite der Stadt, aus der deutschen Kolonie, wälzte sich eine Menschenmenge unter der Parole, die Bastille zu stürmen, gegen das Court House, in dem einige Gastwirte gefangen saßen, weil sie am Sonntag Bier ausgeschenkt hatten. In North Clark Street wollte ein Polizeikordon den Demonstrationszug aufhalten, aber die sonst so friedfertigen Deutschen waren diesmal nicht wiederzuerkennen; auf den Kampfruf hin: »Das sind die Kerle, die die Bierhäuser am Sonntag schließen«, stürzten sie sich gegen die Wache, es wurde geschossen, Menschen getötet und verwundet.
Wie groß die Zahl der Opfer war, ist nicht festzustellen, denn von diesem Vorfall ist im Zimmer des Polizeipräsidenten keine Trophäe aufbewahrt, und mitnichten erinnert ein Denkmal an den Zusammenstoß. Er endete übrigens mit einem Sieg des Lagerbiers. Durch den revolutionären Kampfwillen der Deutschen und durch das zwischen ihnen und den Iren geschlossene Lagerbier- und Whisky-Bündnis wurden die Behörden derart eingeschüchtert, daß sie das Verbot des Sonntagsausschankes aufhoben. Goldene Zeiten!