Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Individualität, erzeugt am laufenden Band

Klar, daß Mr. Sears seine gedruckte Biographie besitzt, denn er hat ein großes Geschäft gemacht und ist daher ein Herrlicher, ein Nachahmenswerter.

Hören wir, wie das Genie in Mr. Sears erwachte: »Er war 1886 Bahnhofsbediensteter in North Redwood, Minnesota, wo zwei Züge täglich durchkommen. Eines Tages hatte er ein Paket Uhren zu expedieren, dessen Annahme vom Adressaten, dem Geschäftsmann des Ortes, abgelehnt worden war. Sears verkaufte die Uhren an seine Bekannten, und da diese mehr verlangten, als im Paket waren, kam er auf die kühne Idee, bei Bezahlung der ersten Sendung gleich eine zweite zu bestellen . . .«

Nun, er übersiedelte nach Chicago, nahm einen Uhrmacher für Reparaturen als Sozius auf, Mr. Roebuck (der Herrliche Nr. 2), und vollzog nach kurzem Zwischenspiel in Minneapolis, 1895 n. Chr., die Rückkehr nach Chicago. »Sears, Roebuck & Co.« versandten nun nicht bloß Uhren, sondern alles.

Heute hat die Firma acht Millionen Kundschaften, viele Filialen, 32 000 Angestellte und begnügt sich keineswegs damit, die Fabrikanten nach dem Warenpreis zu fragen und zu dem einzelnen Stück das Porto zu addieren, sondern unterhält eigene Werkstätten, eigenen Bahnhof, eigenes Postamt, eigene Bank und ist natürlich Aktiengesellschaft mit einem General als Präsidenten.

Das Geheimnis des Erfolges ist – außer der Gottverlassenheit der amerikanischen Provinz und des hundertprozentigen Herdeninstinkts von Onkel Sams sämtlichen Neffen – der Katalog. In den muß man hineingetreten sein.

Es ist wohl das verbreitetste Buch aller Jahrhunderte. Alljährlich erscheint es zweimal in einer Auflage von je zehn Millionen Exemplaren. Obwohl der Satz und die Klischees nur wenig geändert werden, die Massenauflage das Papier verbilligt, die Heftmaschine 1500 Exemplare per Stunde bindet, die Versendung als Drucksache erfolgt, kostet das Warenverzeichnis die Firma einen Dollar pro Stück.

Ein dickes Buch, dieses Wunschbuch des Kleinbürgers. Man erzählt von einem Mann, der bei Sears, Roebuck zwölf Rollen Toilettepapier bestellte und rückgefragt wurde, ob er Sorte Nr. 1160 oder 1161 laut Katalog wünsche. »Hätte ich Ihren Katalog«, antwortete er, »brauchte ich doch die Bestellung nicht zu machen!«

Die tausend Seiten Katalogpapier werden gratis und franko verschickt. Das »franko« versteht sich übrigens von selbst, bei Sears, Roebuck ist alles franko, in die Warenpreise immer das Porto einbegriffen. Der Kunde hat auf der dem Katalog beigelegten Bestellkarte nur die Nummer der gewünschten Ware auszufüllen und in den gleichfalls beigelegten Briefumschlag einen Scheck zu stecken. (Manche senden Dollarscheine oder Briefmarken.) Binnen vierundzwanzig Stunden rollt ihm die Ware zu.

Station 1 ist das Postamt der einlaufenden Briefe. Sie werden gewogen, damit man die Mindestzahl der Pakete abschätze, die heute zu expedieren sein werden. Vierzig Bestellungskarten gehen auf ein Pfund.

Freilich weiß man noch nicht, ob es ein Siebenzimmerhaus im Kolonialstil (Nr. C3255) oder ein Fläschchen Tinte (3R3452) ist, was in einem der Briefe verlangt wird, ob der jeweils beigelegte Scheck auf 6000 Dollar oder ob er auf 27 Cent lautet.

Nun, das stellt sich schnell heraus. Neben der Waage arbeitet der Brieföffner, der mit elektrischen Armen 4600 Kuverts allminutlich aufschneidet. Am Brieföffner sitzen Mädchen mit mehr als elektrischen Armen. Innerhalb einer Minute weiden sie je 400 Umschläge aus, werfen mit der linken Hand Geld oder Geldanweisung aufs linke laufende Band, notieren mit der rechten Hand den beigelegten Betrag auf dem Bestellschein und schnellen ihn aufs rechte laufende Band. In siebzehn Minuten sind zwanzig Postkörbe mit Orders als Einlauf erledigt.

Das Geld jagt mit begreiflicher Hast in den vergitterten Teil des Saales, der Auftrag in die Manipulationsräume, wo er numeriert und kopiert wird. Von dort verständigt man per Rohrpost die betroffenen der 45 Warendepots, welchen Beitrag sie für das Schlußpaket dieses Adressaten zu leisten haben. Eine Zwanzig-Kilo-Hantel kommt mit einem Damenhut ins gleiche Paket, ein Bruchband zu einem Paar Eheringen.

Inzwischen sind die Karten nach den Bestimmungspostämtern geordnet und auf Grund der Fahrpläne die Anweisung gegeben, was zuerst versandt werden muß und bis zu welcher Minute. Achtundfünfzig Güterwagen warten im Bahnhof des Hauses, hundertsechzig Lastautos in der Kellergarage.

Eine dritte Amtshandlung erfahren die Aufträge, während man sie in anderen Gegenden des Hauses effektuiert. In der Kartothek wird nachgesehen, ob Name und Adresse des Bestellers schon eingetragen sind. Wenn nicht, muß das rasch erfolgen, denn von morgen an hat er auf lebenslängliche Zustellung des Katalogs Anrecht.

USA hat keine Einwohnermeldeämter, wo man die Adresse eines Übersiedelten, eines Verschollenen erheben könnte. Aber Sears, Roebuck & Co. besitzen den Namenskataster der Nation.

Wie, auch hier finden wir nicht den, den wir suchen? Sollte er bettelarm geworden sein oder gestorben? Sonst wär's doch unmöglich, daß er niemals die Bücher bestellte: »Rote Asche« (Katalog Nr. 3R526) oder »Rebecca of Sunnybroke Farm« (3R742), ja, nicht einmal »Die Frau, die er sich wünschte« (3R947)!

Wäre er nicht gestorben oder verdorben, hätte er sich unbedingt einen Öldruck angeschafft, »Alt-Venedig« (8R5714) oder »Das Gartentor« (8R5716) oder gar »Einsamer Wolf im Schnee« (8R5712) (»this popular picture is still the best seller; noted for simplicity and depth of coloring«).

Wenn er noch am Leben wäre – nimmer könnte er so verhärtet sein, in einem Zimmer zu wohnen, das nicht eines der gedruckten und gerahmten Gedichte (Nr. 8R5761 bis 5772) schmückt und die der Preiscourant mit Fug und Recht also empfiehlt: »Jedes Heim hat einen Winkel oder eine Wand für eines dieser wohlbekannten Mottos. Verse über die Mutter, die Geliebte oder den Geliebten« (wer möchte nicht ein sweetheart sein? Anm. d. Übers.) »oder über die Freundschaft sind sorgfältig ausgewählt und für das gewünschte Gefühl ausgezeichnet geeignet. Zierliche Umrahmungen schmücken jedes Bild.«

Auch das hat er nicht bezogen. Also ist er tot? Nein, auch tot ist er nicht. Sonst müßte doch hier sein Grabstein bestellt worden sein.

Uns bleibt noch eine Hoffnung: er kann bei Montgomery, Ward & Co., dem anderen Postversandhaus, einkaufen. Und wenn man uns auch dort mitteilen sollte, daß er nicht zu den Beziehern des Katalogs gehört, dann, dann ist er unweigerlich verloren.

Dann läßt er sein Haus vom Baumeister bauen und nicht vom Postversandhaus, dann kauft er seine Bücher beim Buchhändler und seine Bilder beim Bilderhändler . . . dann ist er also ein Bolschewik geworden, einer von jenen öden Gleichmachern, dann hat er aufgehört, ein freier Amerikaner, ein Individualist zu sein, wie es alle anderen mit derselben Individualität sind.

Wir wollen nichts mehr von ihm wissen, und wenn er stirbt, werden wir nicht einmal einen Immortellenkranz (3C127) für sein Gittergrab (9J2928) bestellen.

 


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