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Orangerot oder golden sind die grauen Wolkenkratzer, wenn in der Glasverkleidung der Fähren die eben aufgegangene Sonne blitzt.
Nicht nur diese schwimmenden Straßenbahnen, auch Fernzüge fahren unausgesetzt auf dem Wasser hinüber und herüber; auf ungedeckter Zille zwei oder drei Geleise mit je achtzehn Waggons; als Lokomotive dient ein Remorqueur. Aber dieser Schleppdampfer schwimmt nicht etwa voran, sondern seitlich des mit Eisenbahnen beladenen Kahnes.
Manchmal sogar zwischen zwei solchen Zillen. Dann sieht er wie ein Schutzmann aus, der mit jedem Arm einen Arrestanten vorwärtsstößt. Die beiden Häftlinge sind mit Seilen gefesselt. Damit sie den Polizisten nicht unversehens in die Presse nehmen und ramponieren, hat er sich geschützt: Holzklötze mit Büffelfell umwickelt, altes Tauwerk und ausgediente Pneumatiks baumeln an seiner Seite, und überdies ist er auswattiert mit Schamfiel und Fender. Das Ziehen am Schlepptau wäre eine zu lange Formation für den dichten Verkehr, die anderen Schiffe würden die Trosse erbarmungslos zerschneiden, statt zu warten. Jetzt kann der Transport selbst ausweichen.
Alle in New York ankommenden und für den amerikanischen Kontinent bestimmten Schiffsladungen müssen auf Waggons über das Wasser fortgesandt werden; und die Eisenbahnladungen, die vom amerikanischen Kontinent für einen anderen oder für New York bestimmt sind, langen gleichfalls auf Waggons über das Wasser ein. Brücken und Unterwassertunnels reichen nicht aus für den Eisenbahnverkehr von New York City, der einzigen Insel-Weltstadt des Erdballs.
Fünfundvierzig Millionen Tonnen werden jährlich in ihrem Hafen auf die Eisenbahn geladen oder von der Eisenbahn gelöscht, fast doppelt soviel wie auf den Schiffen. Die innerhalb eines Jahres einrollenden Lastwaggons würden quer über den Kontinent von New York bis San Francisco acht Eisenbahngeleise füllen. Da wir aber den Schiffsverkehr nicht auf Kosten der Eisenbahnen herabsetzen wollen und ohnedies schon bei der Statistik sind, so bemerken wir, daß durchschnittlich alle zwanzig Minuten ein Ozeandampfer aus- oder einfährt, daß die Wasserfront des Hafens 771 Meilen lang ist, mit den Becken der 700 Anlegeplätze sogar 994, und seine Wasserfläche 175 Quadratmeilen umfaßt. Waren für elf Millionen Dollar werden täglich im Überseeverkehr umgeschlagen.
In Hoboken am Hollandpier harren einige hundert Menschen in drei Gruppen; einen Halbkreis bilden die Deckleute, auf der Rampe sitzen die vom »Hold gang«, der Kolonne, die im Schiffsraum arbeiten wird, hinten an der Böschung die Kaiarbeiter.
Die »Volendam« ist am Abend eingelaufen, und die Arbeiter waren schon gestern da, um anzuheuern. Heute haben sie auf den Beginn ihrer Arbeit zu warten. Es kommt der Schauerboß, pfeift das Signal und ruft die Nummern der Leute auf. Neben ihm der Agent der Gewerkschaft achtet darauf, daß nur Mitglieder, den blauen Knopf der Union auf der Mütze, durch das Tor des Anlegeplatzes zum Dampfer gehen. Einige sind nicht aufgerufen worden. Die drehen sich um, einen stummen Fluch auf den Lippen. Verloren ist für sie der Lohn eines Vormittags. Jetzt gilt's, die anderen Piers abzulaufen, vielleicht ist wenigstens für den Nachmittag eine Arbeit ausfindig zu machen.
Achtzig Cents werden für die Stunde bezahlt, von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, ausschließlich der Mittagspause von zwölf bis eins; für jede Überstunde bekommt man einen Dollar zwanzig.
Dreißigtausend organisierte Schauerleute sind im New Yorker Hafen tätig, dreißigtausend standen 1919 im Streik. Der ging verloren, aber die Organisation ist durch ihn straffer geworden. Bis 1919 betrachtete man all das, was man zum Löschen und Laden brauchte, die Schauerleute und Kaiarbeiter, die Kohlenschipper und Lagerhausarbeiter, die Schiffsreiniger und Kesselputzer, die Speicherarbeiter und Ewerführer als Lumpenpack, das auf den Piers herumlungerte und mit dem man umspringen konnte, wie man wollte.
Noch jetzt arbeiten sie unter ungünstigen Bedingungen. Laut amtlichem Eingeständnis stehen die technischen Einrichtungen zur Abfertigung der Schiffe weit hinter denen der europäischen Häfen zurück. Vorkehrungen gegen Unfallgefahren, regelmäßige Untersuchung des Ladegeschirrs und behördliche Inspektionen für Arbeitsschutz sind in der Neuen Welt unbekannt. Die von den Versicherungsgesellschaften erlassenen Vorschriften gelten nur dem Schutz der Frachtgüter, der Schiffe und Hafenanlagen gegen Beschädigung, Verlust oder Feuersgefahr, beziehen sich aber nicht auf Menschen.
Die Schiffe haben Eile: außerordentlich hoch sind die Hafenabgaben, das Dock- und Liegegeld, noch höher die Unterhaltungskosten der Ozeanriesen mit ihrer in Dollarvaluta entlohnten Bemannung, und die Abreise muß fahrplanmäßig erfolgen, auch wenn die Landung durch widriges Wetter um Tage verspätet war. Da treibt man denn die Transportarbeiter an, stellt mehr Kolonnen ein, als auf Deck und Kai und unter der Lukenöffnung Platz haben, unbeschadet darum, ob die eine Gruppe die Lasten über die Köpfe der andern hantiert, und unbeschadet darum, ob einem Mann der Seilhaken gegen den Kopf saust, eine Kiste auf die Beine fliegt. Der Prozentsatz der Unfälle ist unter den amerikanischen Hafenarbeitern größer als unter den Bergleuten, und die Versicherungsgesellschaften fordern von Longshoremen die höchsten Prämien.
Durch die Unbegrenztheit der Überstunden ist der vertraglich normierte achtstündige Arbeitstag, die Vierundvierzig-Stunden-Woche, vollständig illusorisch gemacht. Hat der Schauermann »frei«, muß er dennoch in ständiger Arbeitsbereitschaft sein. Diese Wartezeit bezahlt ihm niemand, er kann um acht Uhr morgens zu einer Arbeit gerufen und nach ein paar Stunden abgelegt werden, er kann bis zum Spätabend und die ganze Nacht bei der Arbeit bleiben, ja manchmal sogar zwei Tage und zwei Nächte ohne andere Pausen als die, die zu einer in der Nähe eingenommenen Mahlzeit nötig sind. Die Vormeister sehen es nicht gern, wenn ein Schauermann, durch die schwere Tagesarbeit erschöpft, sich von der Nachtschicht fernhält – wer nicht durchzuhalten vermag, hat wenig Aussicht, das nächste Mal eingestellt zu werden.
Nun, auch ohne Antreibung wäre der New Yorker Longshoreman immer bereit, Überzeitarbeiten mitzumachen, denn erstens ist die Überstunde um fünfzig Prozent besser bezahlt als die normale, und zweitens weiß er doch nie, wann er wieder Beschäftigung finden wird. Um »eine gute Woche herauszuschlagen«, und wieder »eine gute Woche«, rackert sich jeder und altert frühzeitig, so daß die Stevedores ihn bald mißtrauisch mustern, ob sie ihn noch brauchen können.
Auf dem Pier von »Lamport & Holt« in Brooklyn, wo noch vor vierzehn Tagen der große Dampfer »Vestris« lag, ist jetzt ihr Schwesterschiff vertäut, die »Vauban«. Die Nachrichten der Morgenblätter über den grauenhaften Untergang der »Vestris« finden auf der »Vauban« sofort Widerhall. Vorgestern hockten die Offiziere und Arbeiter an den Davits der Rettungsboote, gestern am Bugspriet, heute morgen wurden die Sirenen ausprobiert. Mittags kam eine Kommission des Schiffsamtes an Bord, und jetzt spielt man ein Drama: »Untergang der Vestris«. Alarmglocken läuten, Matrosen klettern auf Seilen, Boote werden herabgelassen. Alles wird protokolliert. Den Ertrunkenen hilft's nicht mehr.
»L. & H.« heißt die Abbreviatur der Company; im Jargon des New Yorker Hafens ward das längst zu »lousy and hungry« erweitert, weil die Firma lausige Hungerlöhne zahle.
Im Brooklyner Hafen ist das Zentrum der spanischen Seeleute. Wie in anglo-amerikanische Gastwirtschaften darf auch hier keine Frau eintreten, wenn dies nicht ausdrücklich vermerkt ist. Abends geht man an Kneipen vorbei, aus denen eben ein Frauenzimmer in gefährlichem Bogen aufs Pflaster der Furman Street geschleudert wird. Gerade diese Lokale haben die pompöse Aufschrift: »Las señoras invitadas«.
An Tattooing Saloons ist in den amerikanischen Häfen wahrhaftig kein Mangel. Aber der beste Tätowierer aller außerchinesischen Häfen ist, man mag sagen, was man will, doch Lewis Alberts, 87 Sands Street, Brooklyn. Seine Werke, die nicht tot in Galerien hängen, sondern, aus allen Poren atmend, die sieben Meere durchfahren, müssen Bewunderung wecken, er hat originelle Sujets, und selbst den abgebrauchtesten gibt er einen individuellen Zug: ein Sternenbanner, von Alberts gestochen, erkennt man unfehlbar unter Zehntausenden von Sternenbannern.
Heute nacht fiel Schnee, feucht und klar ist die Luft, und ein Blick aus dem Fenster zeigt, daß Manhattan von Brooklyn nur einen Steinwurf weit entfernt ist. Die Landungsplätze sehen wie Badeanstalten aus, mit Kabinen rund ums Bassin, und in fünf Minuten könnte ein Mensch hinüberschwimmen, nicht?
Ein Panzerkreuzer fährt unter der Brooklyn Bridge durch. Ungefähr kennt man die Größe von Panzerkreuzern und wundert sich: wie kann er es wagen, einen so schmalen Wasserstreifen zur Passage zu benutzen. Gleich wird es einen Zusammenstoß mit der ihm entgegenkommenden Fähre geben!
Es gibt keinen Zusammenstoß, wohl aber eine Überraschung: die Fähre, Tragfähigkeit tausend Personen und vierzig Fahrzeuge, stellt sich als winzig heraus, da sie der Blick gleichzeitig mit dem Kreuzer erfaßt. Oh, der East River ist breiter, als er uns heute scheint. Die Häuser am andern Ufer haben die Täuschung hervorgerufen. Sie sehen aus wie nahe kleine Häuser, aber sie sind ferne große Wolkenkratzer, scharf hinüberlugend erkennt man auch Würfelchen, zu ihren Füßen hingeworfen: normale Häuser von acht bis zehn Stockwerken.
Eisenbahnzüge schwimmen seit gestern barhäuptig zur City, obwohl Schnee gefallen ist. Fast ausschließlich offene Waggons. Sie haben Weihnachtsbäume geladen. Auf Manhattan beginnt heute das Engros-Geschäft, die Saison um Christi Geburtstag. Man spekuliert auf Baisse – Hoovers Prosperity hat durch den Börsensturz der letzten Tage ein scharfes Dementi erfahren. Die armen Christbäumchen werden nicht in den Himmel wachsen. Immerhin: sie, die jetzt tonnenweise nach Manhattan schwimmen, werden tüchtig verteuert sein, bevor der Einzelhändler sie wieder nach Brooklyn oder nach New Jersey oder gar der Käufer nach Hause bringt.
Die »Nourmahal«, Astors prunkvolle Jacht, muß – die Schmach! – einem mit grauen Bergen beladenen Müllkahn ausweichen. Morgens wird der Abfall der Wirtschaften und Werkstätten vom Mistbauer auf offene und primitive Wagen solcherart geschüttet, daß tagsüber Staubwolken über der Stadt lagern. Der Wagen geht zum Pier, wo man seinen Inhalt auf Abfuhrkähne umschlägt, wie jener ist, dem just ein Multimillionär begegnen muß!
Astor wird, in den Abendblättern steht es zu lesen, die Weihnachtstage in Kalifornien verbringen.
In den Schaufenstern und in der Architektonik der vielbeschriebenen Fifth Avenue gibt es kaum etwas anderes als das, was wir auf dem Kurfürstendamm oder in der Rue de la Paix antreffen. Die überwältigendste Straße von New York und vielleicht der Welt ist West Street. Sie ist die Hauptstraße des Hafens, die Avenue der Arbeit, der Weg der Ware.
Dieser Straße fehlt der Passant und das Väterlein-leih-mir-die-Scher-Spiel, das sonst an allen Ecken beim Überqueren des Fahrdamms geübt werden muß. Nur um zu den Fähren nach Hoboken und nach Weehawken zu gelangen, kreuzt die Infanterie der Bevölkerung die Kolonnen von Pferdefuhren, Lastautos und Eisenbahnzügen. Jawohl, Eisenbahnzügen: der größte Teil von West Street ist mit Schienen belegt, auf denen endlose Güterzüge rollen.
An der Uferseite: die Fassaden der Piers mit den riesigen Bogen für die Einfahrt der Wagen. Was dahinter ist, den Hudson, eingesäumt von dem Mäander der Anlegebauten, sieht man nicht.
Auf der andern Seite sind – mit Ausnahme des Telephone Building, des künstlerisch wertvollsten Wolkenkratzers von New York – nur winzige rote Häuschen. Es lohnt sich nicht, sie abzureißen, da war's noch billiger, die eisernen Feuertreppen an der Außenfront anzumachen, die von der Brandpolizei verlangt werden und die man auf allen alten Häusern sieht. Aufschriften aus den achtziger Jahren, wenngleich abgebröckelt, stehen noch über den erblindeten und zerbrochenen Fensterscheiben: Segeltuchflickerei, Kupferschmied, Bleigießerei, Steamfitting. Aber diese Gewerbe gibt's nicht mehr, und in den Häusern lagern warenlose Kisten und kistenlose Waren.
Im Erdgeschoß und vor dem Erdgeschoß, den Bürgersteig verstellend, ist der Kontinent der Nahrungsmittel, ganze Staaten von Sellerie, von Tomaten, von Blumenkohl, von Radieschen (obwohl wir Dezember schreiben), von Kartoffeln, ganze Städte von Geflügel, ganze Provinzen von Früchten und (weil wir Dezember schreiben) von Mistel- und Lorbeerzweigen für Xmas.
Die anliegenden Straßen verlaufen entlang von Speichern mit Aufzügen und Rampen. Ihnen schließen sich die Markthallen an.
So geht es von Manhattans Südspitze meilenweit nach Norden. Dann hört West Street auf, West Street zu heißen und die Avenue der Arbeit zu sein, es gibt keine Lastwagen mehr und keine Eisenbahnen und keine roten Häuschen mit Aufschriften überholter Gewerbe, der Reichtum beginnt, und »Riverside Drive« liest man auf den Straßentafeln. Hier wohnen Menschen.
Nicht aber auf dem Oberlauf, wo man die Luxusgüter mühselig verfrachtet. Für die Arbeit der Menschen ist auf West Street Raum genug, keineswegs für die Menschen selbst. Der Unterschlupf der Hafenleute liegt auf der entgegengesetzten Seite der City, im Osten.
West Street hat keine Seemannskneipen. Nur Lunch-Waggons stehen inmitten der Fahrbahn, stabile Häuschen in der Form von Eisenbahnwagen, weil einst die Trapper des wilden Westens in solchen nächtigten. Gegenüber den Landungsbrücken der Passagierdampfer können einige Automatenbüfetts die Mieten erschwingen, die von den Nahrungsmittelhändlern in die Höhe getrieben wurden; Taxichauffeure, auf die Ankommenden wartend, machen hier beträchtliche Zechen.
Auf der Ostseite hingegen, am Ufer des East River, geht es wild zu. Von Waren sind es merkwürdigerweise nur die Fische, denen man in diesem Bezirk Platz gewährt. Im übrigen gibt ihm der Mensch das Gepräge. Flüsterkneipe an Flüsterkneipe, tief im Keller oder in stockdunklen Gängen zerfallener Häuser. Nicht aus Vorsicht sind sie so versteckt – die Inhaber haben Gewähr dafür, daß die Polizei all ihren Scharfsinn aufbietet, um nichts von den verbotenen Lokalen zu wissen, die in einer Nacht bis zu tausend Gäste zählen.
Hinter der Bar werden immerfort Batterien von Schnapsflaschen herangeschleppt, kanadischer Kornbrand, schottischer Whisky, Asbach Uralt und – hauptsächlich legal erzeugter amerikanischer Alkohol, der »ausschließlich medizinischen Zwecken zu dienen hat«.
Die Preise für ein kleines Glas Bier schwanken zwischen zwanzig und dreißig Cent, dafür aber kann jeder Gast am Büfett so viel Schweinskopf, Muscheln mitsamt Muschelbrühe, Wurst »Bologna«, saure Bohnen, Salami, Gurken, Rohzwiebeln, Brezeln und Austern unentgeltlich zu sich nehmen, wie er mag. Und jeder mag viel, denn er ist hungrig, und es ist gute Ware, obwohl sie infernalisch versalzen ist, damit man mehr trinke. Ein einziger Löffel und eine einzige Gabel für alle Gäste; nach Benutzung legt man das Besteck in ein Glas mit Salzwasser.
Weh dem, der, betrunken, mit dem Rest seiner Löhnung allein an Bord zu torkeln versucht. Man kann während eines kaum halbstündigen nächtlichen Spaziergangs auf South Street Augenzeuge von durchschnittlich drei Raubüberfällen sein, die sich allerdings in den urbansten Formen vollziehen. Zwei Burschen sprechen einen Taumelnden an, nehmen ihn in die Mitte, drängen ihn ulkend in den nächsten Hauseingang, stolpern über die direkt in das Tor führende Treppe und reißen den neuen Freund mit um. Sie leeren seine Hosentaschen, was er für einen schlechten Scherz hält. Er protestiert mit unwilligem Brummen.
Benutzen wir die Gelegenheit, der fast harmlosen Verübung eines der schwersten Kriminalverbrechen zuzusehen, so nähern sich uns zwei Burschen mit der rhetorischen Frage, was denn the matter mit uns sei . . .
Am östlichen Rand der untersten Ostseite nimmt sich ein Palast seltsam aus. Auf seinem First leuchtet abends, wenn's hier unten dunkler wird, ein Kreuz elektrisch auf.
Dieses Kreuz, etwa so hoch wie zehn Stockwerke des Hauses, das sein Sockel ist, zeigt bei der Einfahrt in die Hudson-Bai der alte Seemann dem jungen: dort ist Seamen's Church Institute, das größte Seemannsheim der Welt. Ein Grandhotel, eines, dessen Lobbylife, das Leben in der Halle, anders aussieht als das des Hotels Astor oder des Ritz, wo die von den Gentlemen präferierten Blonden auf Anschluß warten.
Auch hier ist Menschenmarkt, jedoch nicht jeder Besucher kommt, um sich feilzubieten. Mancher will alte Schiffskameraden treffen und durch sie vom Schicksal der andern hören. Sich mit Berufsgenossen zu unterhalten ist ebenso triftig. Wer nicht auf dem Schiff wohnt, kann hier ein billiges Zimmerchen haben, wer hier kein billiges Zimmerchen mietet, kann sich die Post hierher senden lassen, wer sich keine Post hierher senden läßt, kann hier Kaffee trinken und Sandwiches essen oder erfahren, wo es Alkoholschenken gibt, oder auf dem Schwarzen Brett lesen, welche Matrosen vermißt sind, welchen Matrosen das Department of Commerce für ein Rettungswerk die goldene Medaille zugesprochen und wen das Seemannsgericht als Zeugen eines Unfalls sucht.
Vor der Halle stehen zwei Schutzleute und auf der Straße eine am grünen Lämpchen als Polizei-Institution kenntliche Signalhütte: direkter Draht zur nächsten Wachstube. Eine andere staatliche Institution ist im Innern des Seemannsheims: ein Postamt. Auch ein Notariat, ein Lesesaal, eine Bibliothek, eine Wechselstube und vor allem eine Kirche. Eine Kirche. Ja, das ist eben die Hauptsache. Was für eine Kirche? Ja, das ist eben Nebensache.
Alle Glaubensbekenntnisse – Protestanten, Katholiken, Methodisten, Presbyterianer und Baptisten –, so heftig sie sich auch in Amerika bekämpfen und sosehr sie auch (zum Beispiel während der Präsidentenwahl) einander die übelsten Verbrechen vorzuwerfen pflegen, haben sich zur Errichtung dieser Anstalt vereinigt in der Erkenntnis, daß eine Spaltung nach Religionen es keiner Religion ermöglichen würde, einen Zentralpunkt für die Seeleute zu schaffen, die Konkurrenz gegen die privaten Seemannslogis, gegen die Hafenkneipen und vor allem gegen die von den Arbeiterorganisationen eingerichteten Klublokale aufzunehmen.
Einträchtig haben also sämtliche sonst alleinseligmachenden Kirchen die Mäzenaten ihres Sprengels dazu bewogen, je ein Stückchen des Hospizgebäudes zu bezahlen. Und jeder Spender hat sich eine Gedenktafel gesetzt, immer an dem von ihm subventionierten Teil.
Wer in Amerika durch Spekulation, Geldgier, Landesverrat (aus diesem stammen die großen Vermögen der Freiheitskriege), Betrug oder sonstwie reich geworden ist, läßt sich ein öffentliches Denkmal entweder durch seine Firma errichten oder durch seine Familie, die sich samt protzigem Stammbaum mit verewigt, wie zum Beispiel auf der Kolossalstatue des Alderman de Peyster vor dem New Yorker Zollgebäude.
In den Museen und in den Schulen und in den Geschäftshäusern wimmelt es von solchen Monumenten der Spender, in den Bahnhöfen steht der verstorbene Präsident des Verwaltungsrats in Bronze und in Lebensgröße da, manchmal aber auch – siehe Sam Sloan in Brooklyn – auf öffentlichen Plätzen. Zur gefälligen Nachahmung.
An jeder Pferdetränke prangt – Ehre, wem perennius gebührt – der Name der neuen Rahel, und jeder Anbau eines Gefangenenhauses kündet künftigen Geschlechtern alle Farnese oder Borgia, die im Stadtrat saßen.
Das ist alles nichts gegen Seamen's Church Institute, das geradezu ein Mosaik aus Gedenktafeln ist. »Dieses Stiegenhaus ist durch die Munifizenz des Mr. So-and-so . . . »Diese Halle ist durch die Munifizenz der Mrs. So-and-so . . .«
Damit können das holländische und das deutsche Seemannshospiz in Hoboken nicht wetteifern, und die Gewerkschaften erst recht nicht. Auf Coentis Slip haben die IWW (International Workers of the World) ihr Hafenlokal, ein langes Zimmer mit Büchern, Plakaten und Propagandaschriften, meist in englischer Sprache und in Esperanto. Kosmopolitischer und lebhafter, wie auf einem Diskussionsabend, geht es South Street 26 zu, im International Seamen's Club; hier sind auch Schwarze, die ihr revolutionäres Blatt »Negro Champion« lesen, hier sind auch Schauerleute und andere Transportarbeiter des Hafens, Chinesen und Europäer, hier ist mehr Jugend als in den kirchlichen und nationalen Heimen, und es scheint, daß die Politik einen stärkeren Anziehungspunkt bildet
als teure Treppengeländer
mitsamt den Namen der Spender.
Es gibt auch solche, die von den Seemannsheimen nichts wissen, die kein Geld für ein Zimmer oder keine Papiere haben oder so herabgekommen sind, daß sie sich nicht mehr unter ihre einstigen Berufskollegen trauen. Lumpenproletariat des Meeres.
Sie bewegen sich nachts in jenen unbeschreiblichen Elendsgruppen, von denen die Bowery wimmelt, gegenüber der Sparkasse, nahe den Bezirken, wo die Prosperity zu den Wolken strebt, wo Wall Street seine Hausse verzeichnet.
Wer die Mission in Mott Street besucht – und mag er auch Whitechapel schaudernd erlebt haben –, dem wird der Geschmack am Yankeeland, am amerikanischen Wirtschaftswunder, gründlich vergehen. Die Schlafsärge im feuchten Keller sind noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist der Saal des Gottesdienstes im Erdgeschoß. Da sitzen, liegen und lehnen Hunderte von Menschen übereinander, und nach und nach erkennt man, daß unter ihnen, unter den Bänken, auf dem Fußboden, Hunderte noch Unglücklichere im Staub liegen, ineinander verkrümmt, ineinander verfilzt, stöhnend im Schlaf, sich werfend im Schlaf.
Niemand schaut zum Altar, wenn der Gottesdienst beginnt, das Schnarchen hört nicht auf, niemand kümmert sich um die Bibelsprüche, die die Wände schmücken.
Der Priester weiß, warum seine Gemeinde versammelt ist, und er hält seine Messe still, bemüht sich, den Bodensatz der Kirche nicht aufzuwirbeln.
Auch die Fremdenindustrie kennt diese Sehenswürdigkeit. Der Autobus, in dem die Engländerinnen (sie spielen die gleiche Rolle wie die Amerikanerinnen in Europa) die Rundfahrt durch Chinatown machen, hält hier, um das Gruseln zu lehren.
Es ist nur ein geringer Prozentsatz von Obdachlosen, der in dem alten Häuschen von Mott Street Platz findet. Der Dezember weht um welche, die vor der All-night-mission und vor dem Owl-Hotel in Zweierreihen darauf warten, bis die andern ihre Zeit abgeschlafen haben; nach sechs Stunden kommt die nächste Schicht auf die Lagerstätte.
An der Manhattan Bridge, mit der Schulter den Stein des Vorbaus reibend, um sich zu erwärmen, bilden einige hundert Menschen Queue, harrend auf die allmorgendliche Ausspeisung mit Kaffee und Brot.
Kaum zwanzig Schritte von ihnen steht eine Plakattafel mitten im Weg: »Join the Army – Tritt ein ins Heer!«
Unter dieser Aufschrift sind lockende Photos von Manövern, Quartieren, Spielen, Reiterkünsten, Sportpreisen, Schulen, sind Auszeichnungen aufgehängt und empfehlend bemerkt, wie's den Soldaten geht: hoch fliegen sie, gut schießen sie, sind kühl gekleidet im Sommer, sind warm gekleidet im Winter, und ihre »evening quarters are attractive«. »The U.S. Army builds men.« Tritt doch ein! »Travel – learn – earn!«
Und erst die Marine! Hier schau dir unsere blauen Jungs an auf dem Panzerkreuzer, »ihrem Heim für fünfzehn Millionen Dollar!« Gelegenheit, fremde Länder zu sehen! Freie Bewegung in frischer Luft! Folge den Zugvögeln, die nach dem Süden fliegen: die Marine gibt dir Gelegenheit dazu!!! Rekrutierungsstationen sind überall!
Das ist wahr. Überall an den Verkehrskreuzungen der amerikanischen Städte sieht man die Plakatstände der beiden Konkurrenzunternehmungen brüderlich vereint. »Join the Army« – »Join the Navy«, und sie weisen den Weg zum nächsten Werbebüro, wenn nicht noch ein Sergeant dabeisteht, der den jungen Neugierigen belehrt.
Auch auf den Piers von Hoboken und von Hunter's Point, an den Ufern des Hudson und des East River, an den Landungsbrücken der Ozeanriesen und in den Jammerbezirken der unteren Ostseite, überall im Hafen sind diese illustrierten Standarten der Werbung aufgepflanzt: zum Heer.
Ja, nur zum Heer. Hier fehlt der Zwillingsbruder, hier gibt's kein »Join the Navy«.
Hier könnte man keinem was erzählen von gesunder Arbeit auf dem Schiff. Die sehnsuchtweckende Erwähnung von fremden Ländern und der Hinweis auf die Vögel, die nach Süden ziehen, würden in diesem Distrikt ihre Wirkung verfehlen. Die im Hafen von New York Gestrandeten wissen zu gut, was es damit auf sich hat, was Schiffsarbeit ist und was ihr Lohn. Mit Marineromantik könnte man hier keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken . . ., welch alberne Phrase! Kein Hund führt ein solches Leben, und »Ofen« ist ein Traum vom Paradies.
Eben fährt der Wagen einer Wohltätigkeitsanstalt vor und verteilt an die halberfrorene Menschenkette am Vorbau der Manhattan Bridge ein wenig Kaffee.