Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Vorabend, Tag und Nacht der Präsidentenwahl

Jimmie Walker, Bürgermeister und the bestdressed man of New York (gut angezogen zu sein, gilt im Staate der Gleichheit ebensoviel wie in einem Korps deutscher Studenten), Jimmie Walker steht auf dem Times Square und spricht mit weithin tönender Stimme, mit eindrucksvollen Gesten und mit schön gewundenen Phrasen zugunsten des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Smith.

Berittene Polizisten halten die Ordnung aufrecht, Tausende drängen sich, um den Redner zu sehen, die Rede zu hören, sie durch Zwischenrufe zu beleben oder zu stören.

Jimmie Walker reagiert nicht auf diese Einwendungen und nicht auf den Beifall, er spricht seinen Speech, und wenn er zu Ende ist, fängt er von neuem an, mit unvermindert weithin tönender Stimme, mit genau den gleichen eindrucksvollen Gesten und mit ganz denselben schön gewundenen Phrasen.

Das tut er die ganze Nacht, ohne müde zu werden, denn er steht nicht in persona auf dem Times Square, er steht nur in effigie auf dem Times Square, er ist gefilmt und vitaphoniert worden, als er diese Rede hielt, und nun wird sein Bild durch den Projektionsapparat auf die Leinwand und seine Stimme durch den Lautsprecher über den abendlichen Platz geworfen.

Mittags hält der demokratische Kandidat eine »Parade« ab, indem er durch die Stadt fährt. Zuerst eine Reihe von Polizisten auf Motorrädern, dann Polizisten zu Pferd; auf den Dächern zweier leerer Autobusse spielen Musikkapellen; die gentlemen of the press und die gentlemen of the film mit ihren Apparaten stehen auf dem Deck der nachfolgenden Autobusse.

Dann: ein offenes Auto, auf dessen erhöhtem Hintersitz der Kandidat thront. Er trägt den hellbraunen Derby-Hut, der ihn so populär gemacht hat und den er so populär gemacht hat, daß die Schaufenster der Hutläden mit hellbraunen harten Hüten von gerader Krempe angefüllt sind. Al Smith rollt vorbei, winkt abwechselnd mit der rechten und linken Hand, unbeschadet, ob die Menge jubelt oder pfeift. Nach ihm die Suite bezahlter und unbezahlter Wahlmänner in Autos mit großen Plakaten.

Das ist die große Parade. Vorher haben die Zeitungen spaltenlang darüber geschrieben, am Abend werden sie spaltenlang darüber berichten. Was war denn los? Ein Kandidat fuhr mit Musikbegleitung durch die Straßen von New York.

». . . durch die Straßen von New York.« Das war los. Die fünfzigstöckigen, dreitausendfenstrigen Häuserpyramiden mitsamt ihren flachen Dächern und ihren Türmen und mitsamt ihren in schwindelnder Höhe ungeschützten Gesimsen sind besetzt von Menschen, die glücklich sind, für einige Minuten vom Verkaufsstand, von der Additionsmaschine, vom Arbeitstisch entfernt zu sein, hinabgucken und schreien zu dürfen und echt amerikanische Papierschlangen, echt amerikanisches Konfetti auf die Straße zu werfen. Diese Papierschlangen sind die endlosen Streifen der beiden in jedem Büro aufgestellten Empfangsapparate für Börsenkurse und Wirtschaftsnachrichten. Das Konfetti aber entstand aus den vorjährigen Telefonbüchern von New York City, von Brooklyn und New York Suburban; vorschriftswidrigerweise wurden sie nicht an die Telefongesellschaft abgeliefert, sondern aufgehoben, damit man sie bei der Einholung einer Kanalschwimmerin, eines Ozeanfliegers oder mindestens eines Präsidentschaftskandidaten zerstückeln und die Fetzen mit vollen Händen verstreuen könne. Da hängt, schwebt, weht dieses Lametta aus Druckpapier von den strengen Fassaden hinab in die wüsten Straßenschluchten, die sich – während der Anwärter auf dem Weg zur Macht und zum Ruhm weiterzufahren glaubt – im Nu fußhoch bedecken mit überholten Börsenkursen und Telefonadressen des Vorjahrs. Quer über die Straßen sind Banner mit den Namen der Prätendenten gespannt, auf manchen Giebeln Fahnen mit dem Bild eines von ihnen gehißt, grellbunte Glühbirnen formieren sich an den Klubhäusern zu flammenden Losungen, an allen Straßenecken werden Flugblätter verteilt, in englischer, italienischer, französischer, russischer, deutscher, jiddischer, polnischer und griechischer Sprache. (Dies die Reihenfolge.) Die Plakate sind nur in einer Sprache verfaßt, freilich ist das in jedem Bezirk eine andere.

In Harlem tobt abends eine Parade zugunsten Hoovers, des »Parteigenossen von Abraham Lincoln«. (Eine gute Parole, denn Lincoln, der Sklavenbefreier, ist im Negerbezirk heilig.) An den hundert Kinos, den Singspielhallen, den Speak-easies, den Musikläden und Lombardgeschäften von Lenox Avenue vorbei rollt der Umzug mit den schreiend behängten Autos, in deren Fonds feingekleidete Negerherren und feingekleidete Negerdamen sitzen und auf deren Trittbrettern arme schwarze Teufel das Banner schwingen und »Stimmt für Hoover«, »Stimmt für Hoover« brüllen. Zwischen den Personenautos ein Lastwagen mit der Musikkapelle. Seltsam oder selbstverständlich? – es ist eine Musikkapelle ohne Saxophon, ohne Banjo, kein einziges Werkzeug der Jazzband, nur Geigen, Bratschen, Waldhorn und Tschinellen, und die von den Negern engagierten Musikanten sind allesamt Weiße!

Ein großer Eckladen auf dem Broadway trägt Affichen an den Fenstern: »Wenn ihr bezweifelt, daß es der Ku-Klux-Klan ist, der die Hetze gegen Smith führt, so tretet ein und sehet die Beweise.« Wir treten ein und sehen die Beweise. Zeitungsblätter, die Smith wegen seines Katholizismus verspotten. Karikaturen: auf Smiths Schultern reitet der Papst in Amerika ein, aus dem Fenster des Weißen Hauses ruft Smith den Rattenzug der Jesuiten zu sich. Devisen an den Wänden polemisieren, niemand dürfe wegen seiner Religion angegriffen werden.

Sie filmen um die Wette, die beiden Prätendenten. Zwischen den Großfilmen, zwischen den Szenen der Music Halls sieht man sie wie Wrigleys Kaugummi: here, there, everywhere, zu Hause, auf der Straße, auf der Tribüne.

Auch bemühen sie sich, in jedem einzelnen Hause von Amerika vorzusprechen. Per Radio. Von Herbert Hoovers Rede in Madison Square Garden bekommen die Rundfunkteilnehmer ein eine Stunde langes Stück, nachher von Al Smith's Speech in Brooklyn ein ebenso langes Stück. Jeder Zwischenruf, jeder Beifall und jeder Pfiff ist in jedem radiogesegneten Haus zu hören. Wenn der Lärm nach einem markanten Satz zu lange dauert, äußert der Präsidentschaftskandidat: »Freunde! Vertrödeln wir die Radiozeit nicht mit Kundgebungen der Versammlung!«

Er hat recht. Die Radiozeit ist teuer, 30 000 Dollar die Stunde. Und allabendlich sprechen nicht nur die Kandidaten, sondern auch Parteimänner für sie.

Heute jedoch ist Wahltag, St. Electionday, und da herrscht tagsüber die Ruhe einer modernen Schlacht. Alles schreitet zur Urne – aber der New Yorker schreitet nicht, und statt der Urne gibt es Abstimmungsmaschinen, drei oder vier in jedem Wahllokal. Die Schlangen der vor ihnen angestellten Wähler winden sich ineinander und durcheinander. Vertrauensleute der beiden Parteien, an Abzeichen kenntlich, gehen mit Modellen der Maschine auf und ab und erklären jedem, wie er's machen muß, daß seine Kandidaten gewählt werden. (Seine Kandidaten. Plural! Denn es wird nicht nur der Präsident gewählt, sondern auch der Vizepräsident, der Gouverneur, ein Senator, der Oberrichter, der Oberstaatsanwalt und ein Kongreßmitglied.)

Ist der Wähler an der Reihe, sein Papier überprüft, dann tritt er in das »closet« und verschiebt einen Hebel, wodurch ein Vorhang zugezogen wird. Abgeschlossen von aller Welt, kann er nun das verbriefte Recht des freien amerikanischen Bürgers ausüben: alle paar Jahre auf sechs Knöpfe zu drücken und heimzukehren.

Erst abends, erst abends geht's los. Der Times Square, die Ausbuchtung des Broadway, auch an normalen Abenden der tobsüchtigste Rummelplatz, Tummelplatz und Bummelplatz der Erdoberfläche, sieht heute buchstäblich Hunderttausende, die das Resultat erfahren wollen. New Yorks Polizei, verstärkt durch die von Brooklyn, von Bronx und von Staten Island, ist aufgeboten, um in der Siebenten Avenue und von der 40. bis zur 59. Straße den Verkehr wenigstens einigermaßen aufrechtzuerhalten. Als ob die Kehle von hunderttausend Gleichgesinnten nicht genügte, hat jeder noch eine Trillerpfeife oder eine Trompete oder eine Klapper mit sich, Kinder schlagen Tschinellen mit Zinntellern und Pauke auf Waschschüsseln, Chauffeure vermieten das Deck ihres Autos, kein Fenster der Bürohäuser, die Feiertag und auch sonst um diese Zeit längst Geschäftsschluß haben, ist unbesetzt, keine Lücke zeigt sich an der Brüstung der Dachgärten.

Im 8. Stockwerk des »Times«-Gebäudes leuchten die Meldungen auf. Jede löst Gebrüll aus und geht solcherart auf akustischem Wege um die Straßenecken zu jenen Menschenkeilen, die nichts sehen können.

Zwölf Uhr eine Minute nachts ist alles aus. Denn es erscheint mit Flammenschrift an der Wand das Telegramm aus Ardmore, Oklahoma:

»Hoover hat in Missouri die Mehrheit erlangt und somit die 266. Stimme im Wählerkollegium.«

Da das Kollegium der Wahlmänner aus 531 Personen besteht, bedeutet die Meldung aus dem Nest in Oklahoma Mehrheit und Entscheidung.

Heulend und pfeifend oder jubelnd und trompetend oder still und enttäuscht lockern sich die Massen, entfernen sich. Am nächsten Tag sind die täglichen Folianten ausschließlich gefüllt mit Hoover und seiner Familie, mit Wahlresultaten und Wahlberichten, zweiundzwanzig Millionen haben für Hoover gestimmt, siebzehn Millionen für Smith, auf vierzig Sternen der amerikanischen Gösch ist die Mehrheit für Hoover, nur auf den restlichen acht für Smith. Wetten werden ausbezahlt, Vermögen in Wetten gewonnen, Vermögen in Wetten verloren, auf Wall Street fünf Millionen Aktien umgesetzt.

Was ist geschehen?

Der Kandidat der republikanischen Partei hat gegen den Kandidaten der demokratischen Partei gesiegt. Nun ist aber die demokratische Partei natürlich durchaus republikanisch, und die republikanische Partei würde es sich sehr verbitten, für weniger demokratisch angesehen zu werden als die demokratische. Der genetische Unterschied, daß die Demokraten einmal die Vertretung der Plantagenbesitzer in den Südstaaten und des Kleinbürgertums in den Städten waren, tritt ebensowenig in Erscheinung wie der politisch-historische Unterschied, daß die Republikaner seinerzeit den Hochschutzzoll bekämpften.

Persönlich traten die beiden Stellungsuchenden mit besonderen politischen Ködern auf. Jedoch Hoover, der das Rennen mit drei »P« bestritt (Prosperity, Protestantism und Prohibition), betonte seinen Protestantismus wohlweislich nicht. Und für Wohlstand war sein Gegner ebenso. Auch Smith war für die Aufrechterhaltung der Prohibition, nur wollte er die Grenze des Alkoholgehalts für den Begriff »berauschendes Getränk« etwas hinaufsetzen; er erklärte aber, dies bedeute eine Änderung der Verfassung, zu der kein Präsident Macht und Möglichkeit besitze. Bedingt trat er dafür ein, die Verwertung der Wasserkräfte von der Privatspekulation fernzuhalten, während wiederum Hoover diese im Sinne der größtmöglichen Prosperität verwendet zu sehen wünschte.

Kein Unterschied in den Programmen, kaum ein Unterschied in den Wahlparolen. Und auch keine Personenfrage – da niemand bei solchen Wahlen entscheiden kann, da niemand bei solchen Wahlen voraussagen kann, wie sich der Kandidat als Präsident gegenüber diesem oder jenem Einfluß verhalten wird. Der einzige, der je mit festem Programm auftrat, war der Demokrat Wilson: »Kein amerikanischer Staatsmann darf so ehrlos und charakterschwach sein, unter irgendeinem Vorwand USA zur Teilnahme am Weltkrieg zu bringen.« Trotz der Riesenagitation der Entente wurde er dafür unter der Parole »He kept us out of the war« wiedergewählt und – erklärte den Krieg.

Also auch keine Personenfrage! Eine reine Machtfrage der Parteien, deren beide Bundesleitungen achteinhalb Millionen Dollar für Agitationszwecke ausgeworfen haben, abgesehen von den Millionen der Landesorganisationen. Eine Machtfrage zu Geschäftszwecken.

Die vierzig Millionen Wähler macht das nicht stutzig.

»Was ändert sich denn«, fragte der Doktor Becker am Wahlabend auf dem Times Square einen aufgeregten Nachbarn, »was ändert sich eigentlich dadurch, ob Smith oder Hoover gewählt wird?«

»Oh, es ändert sich ebensoviel, wie wenn Tunney statt Dempsey Weltmeister im Boxen wird.«

 


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